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Volkscharakters der Briten verweisen wir auf die besondern Artikel und begnügen uns hier mit der Bemerkung, daß die alten keltischen Sprachen in Wales, in Schottland und im Westen Irlands noch von 2,265,000 Menschen gesprochen werden, von denen indes die große Mehrzahl auch der englischen Sprache [* 2] mächtig ist. In Wales scheint sich das Keltische zu halten, in den schottischen Hochlanden nimmt es ab, in Irland hat es seit 1871 anscheinend bedeutend zugenommen, teilweise wohl infolge genauerer Erhebungen, großenteils aber deshalb, weil die des Englischen nicht mächtigen Iren seltener auswandern als ihre gebildeten Landsleute. Wie viele »Ausländer« unter den 198,450 im Ausland gebornen Bewohnern (von 1881) waren, läßt sich aus den Zensusberichten nicht ersehen. Die Zahl der Deutschen beläuft sich jedenfalls nicht über 48,000. Ihnen zunächst kommen die Franzosen (etwa 18,000).
Religion.
Das Vereinigte Königreich erfreut sich des Besitzes zweier Staatskirchen, nämlich einer bischöflich-protestantischen Kirche in England (s. Anglikanische Kirche) und einer nüchternen presbyterianischen in Schottland. Irland ist ohne Staatskirche, wohl aber besteht in demselben ein ehemaliger Zweig der bischöflich-englischen Kirche fort. Abtrünnige (Dissenters) von diesen Staatskirchen sind in allen drei Königreichen zahlreich, namentlich in Schottland, wo dieselben mit den Katholiken vereinigt die Majorität bilden.
Die katholische Kirche ist die herrschende in Irland und hat seit der großen Einwanderung aus Irland auch in England und Schottland an Boden gewonnen. Politisch sind alle Bürger ohne Rücksicht auf ihr Glaubensbekenntnis gleichberechtigt (mit Ausnahme etwa der offenkundigen Atheisten), aber freilich genießen die Staatskirchen die Einkünfte von ihren Kirchengütern, welche die Dissenters gern als Nationaleigentum behandelt sehen möchten, wie dies ja auch bei Entstaatlichung der bischöflichen Kirche in Irland geschehen ist. Jedenfalls ist die Trennung von Kirche und Staat nur eine Frage der Zeit. Was die Zahl der Anhänger der verschiedenen Konfessionen [* 3] anbetrifft, so sind wir mit Ausnahme von Irland auf Schätzungen angewiesen, die allerdings in den Heiratsregistern eine ziemlich zuverlässige Grundlage haben. Danach gab es (in Prozenten der Bevölkerung [* 4] ausgedrückt):
Anhänger | 1861 England u. Wales | Schottland | Irland | 1881 England u. Wales | Schottland | Irland |
---|---|---|---|---|---|---|
der Staatskirche | 79.9 | 47.0 | 12,0¹ | 71.6 | 46.4 | 12.4 |
der römischen Kirche | 4.6 | 9.0 | 77.7 | 4.4 | 9.5 | 76.5 |
Rest | 15.5 | 44.0 | 10.3 | 24.4 | 44.1 | 11.1 |
¹ Mitglieder der ehemaligen protestantischen Staatskirche.
Für das Jahr 1881 und für das ganze Reich berechnen wir: 19,341,000 Anhänger der protestantisch-bischöflichen Kirche (55,4 Proz.), 1,733,000 Anhänger der schottischen Staatskirche (5 Proz.), 785,000 desgleichen der schottischen »freien« Kirche (2,3 Proz.), 5,456,000 Römisch-Katholische (15,6 Proz.), 67,000 Juden (0,2 Proz.) und 7,463,000 Andersgläubige (21,5 Proz.). Zu letztern haben wir alle diejenigen gezählt, denen die Zivilehe genügt; sie sind keineswegs unbedingt den Dissenters zuzurechnen, denn wenn auch die Mehrzahl sich den Kirchen gegenüber nur gleichgültig verhält, so sind doch viele unter ihnen, die keine Christen sein wollen.
Übrigens nehmen die Dissenters in letzter Zeit nicht mehr in gleichem Tempo zu wie in frühern Jahren, auch in Schottland nicht, wo die Staatskirche sogar seit 1871 Boden gewonnen hat. Engherzigkeit zeichnet eben die Mehrzahl der Dissentersekten aus, während in den Staatskirchen freiere Ansichten immer mehr zum Ausdruck kommen. Die verschiedenen Erweckungsversuche (revivals) der jüngsten Zeit scheinen nachhaltige Erfolge nicht gehabt zu haben, und Ähnliches kann man wohl von der »Heilsarmee« (s. d.) voraussagen.
Über die Anzahl der Geistlichen etc. gibt der Zensus vom Jahr 1881 einigen Aufschluß. Es gab damals:
Geistlichkeit | England u. Wales | Schottland | Irland |
---|---|---|---|
Priester der bischöflich-protestantischen Kirche | 21663 | 283 | 1828 |
Priester und Mönche der römischen Kirche | 2089 | 306 | 3941 |
Protestantische Geistliche | 9734 | 3798 | 1064 |
Missionäre, Bibelleser, Wanderprediger | 4625 | 710 | 252 |
Nonnen | 3795 | 220 | 5282 |
Theologische Studenten | 2925 | 655 | 1093 |
Kirchendiener | 6289 | 760 | 778 |
Zusammen: | 51120 | 6732 | 14241 |
Prozent der Bevölkerung | 0.20 | 0.18 | 0.27 |
Weiteres s. unter den einzelnen Königreichen, doch mag hier erwähnt sein, daß die 79 ausländischen Missionsgesellschaften 1883 eine Einnahme von 1,216,530 Pfd. Sterl. hatten, wozu die Gesellschaften der englischen Staatskirche einen Beitrag von 491,647 Pfd. Sterl. lieferten. So drückend, ja hart das Verfahren der anglikanischen Kirche oder des englischen Volkes den katholischen Irländern gegenüber zwei Jahrhunderte lang gewesen ist, so duldsam ist dasselbe Volk überall da gewesen, wo es bei der Begründung seiner Herrschaft andre Glaubensbekenntnisse als das seinige vorgefunden hat. Die Regierung hat diese Toleranz aus Staatsklugheit geübt. Wo die britische Nation unter andern Kulturvölkern die Zügel der Regierung in die Hand [* 5] genommen, da hat sie deren Glauben und gottesdienstliches Zeremoniell geachtet.
Kriminaljustiz.
Die Kriminaljustiz gibt einigermaßen einen Wertmesser für die sittliche Kultur ab. Aus der offiziellen Statistik geht deutlich hervor, daß die Zahl der Verbrechen im Verhältnis zur Bevölkerung seit dem Anfang dieses Jahrhunderts abgenommen hat, wenn auch infolge von gewerblichen Krisen und andern Umständen gelegentlich eine Steigerung derselben eintrat. Im J. 1861 wurden auf je 100,000 Einw. des Vereinigten [* 6] Königreichs 94 Angeklagte den höhern Kriminalgerichten gestellt (in England 81, Schottland 105, Irland 96), in 1871 nur 78 (bez. 71, 88, 83), in 1881: 64 (bez. 57, 65, 103) und in 1884: 56 (bez. 53, 71, 59). Verurteilt wurden 1861: 68 Verbrecher (England 69, Schottland 79, Irland 56), 1871: 52 (bez. 52, 65, 42), 1881: 46 (bez. 43, 49, 52), 1884 nur 41 (bez. 41, 54, 31). Auffällig ist hierbei das Verhältnis der Verurteilten zu den Angeklagten in Irland (nur 53 Proz. gegen 71 Proz. in England und 77 Proz. in Schottland). Jedenfalls wäre es ein Trugschluß, aus der geringen Zahl der Verurteilten zu folgern, daß der Irländer einen geringern Prozentsatz zur Kriminalbevölkerung des Landes liefere als der Engländer oder Schotte. Ganz das Gegenteil ist der Fall, denn die Zahl der irischen Gefängnisbevölkerung in England und Schottland steht ganz außer Verhältnis zu der dort angesiedelten irischen Bevölkerung, so daß es den ¶
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Anschein hat, als ob der irische Verbrecher sich nach den Schwesterkönigreichen wende, um dort seinem Gewerbe nachzugehen. Auch die Statistik der summarisch bestraften Übertretungen und Vergehen ist Irland nicht günstig. Im J. 1884 kamen auf 100,000 Bewohner 2956 Anklagen (England 2675, Schottland 2717, Irland 4699) und 2440 Verurteilungen (England 2149, Schottland 2508, Irland 3991). Wegen Trunkenheit wurden angeklagt in England 731, in Irland 1873; wegen Realinjurien (Schlägerei etc.) in England 267, in Irland 582. Der englische Strafkodex gehörte noch in verhältnismäßig neuer Zeit zu den strengsten der Welt; noch in den 30er Jahren wurde gewöhnlicher Diebstahl häufig mit dem Tod bestraft. Jetzt wird die Todesstrafe nur in Fällen von Mord (und auch dann nicht immer) vollzogen, und die Mißhandlung der Sträflinge ist durch ein humaneres Verfahren verdrängt worden.
Bildung.
Für elementare Schulbildung ist durch die Schulakte vom Jahr 1870 in ergiebiger Weise gesorgt, während Irland schon seit längerer Zeit sich eines vom Staat geleiteten Schulwesens erfreut hat. Grundsatz ist, daß in allen Fällen, in welchen die von Genossenschaften und Privaten eingerichteten Schulen dem Bedürfnis nicht entsprechen, die Gemeinde einzutreten hat, und daß der Staat sämtlichen Schulen, welche seinen Ansprüchen genügen, einen Zuschuß aus der Staatskasse gewährt.
Diese Zuschüsse aus der Staatskasse beliefen sich 1884 auf 4,224,267 Pfd. Sterl., 1885-86 auf 4,389,247 Pfd. Sterl. Besucht wurden 1884 die 29,724 Elementarschulen von 6,1 15,000 Kindern, und somit kommen auf 100 Bew. 17 Schüler (16 in England, 15 in Schottland, 22 in Irland). Indes besuchten von den eingeschriebenen Kindern durchschnittlich nur 69 Proz. die Schule (in Irland gar nur 47 Proz.). Die Ausbildung der Lehrer findet in 55 Seminaren (Training Colleges) statt, welche 1884 von 4292 Schülern besucht waren.
Vorwiegend liegt das Erziehungsgeschäft in weiblichen Händen, denn 1881 zählte man 146,142 Lehrerinnen und nur 61,913 Lehrer. Wie wesentlich die Verbesserung des Schulwesens die Volksbildung beeinflußt hat, geht schon daraus hervor, daß, während 1863 noch 24 Männer in England, 12 in Schottland und 30 in Irland das Heiratsregister mit Kreuzen unterschrieben, diese Zahlen 1883 auf bez. 13, 7 und 25 gefallen waren (bei den Weibern immer noch 16, 13 und bez. 28).
Vgl. Wehrhan, Das Volksschulwesen in England (Hannov. 1876).
Über die höhern Schulen liegen nur höchst unvollständige Angaben vor. Vom Staat aus geschieht nichts für den Sekundärunterricht, um so mehr aber ist durch Stiftungen und in letzter Zeit durch Schulvereine geleistet worden. In Schottland wurden 1884: 277 höhere Schulen von 67,351 Schülern, in Irland 1881: 488 Schulen von 20,405 Schülern besucht. Über England fehlt es an allen Angaben, nur wissen wir, daß die 9 großen Stiftsschulen im J. 1884: 3940 Schüler zählten.
Universitäten gibt es in England 4 (Oxford, [* 8] Cambridge, Durham, Viktoria-Universität), in Schottland 4 (Edinburg, [* 9] Glasgow, [* 10] Aberdeen, [* 11] St. Andrews), in Irland 2 (Trinity College und die katholische Universität, beide in Dublin). [* 12] Die sogen. Universität von London [* 13] und die Royal University von Irland sind nur Examinationsbehörden. Neben diesen Universitäten bestehen noch 27 University Colleges (12 in England, 1 in Schottland, 10 in Irland, 4 für Damen), welche eine Universitätsbildung gewähren, aber nicht das Recht haben, Diplome zu erteilen. An diesen sämtlichen Anstalten wirkten 1884: 1370 Professoren, und sie wurden von 25,700 Studenten besucht (15,515 in England einschließlich von 270 Damen, 7084 in Schottland, 3100 in Irland). Was die Fachschulen betrifft, so verweisen wir auf die einzelnen Länder. Nur auf die das ganze Reich umfassende Thätigkeit des Science and Art Department mag hier hingewiesen sein, dessen 1927 Klassen 1885 von 152,568 Schülern besucht wurden.
Gelehrte Gesellschaften konzentrieren sich in den drei Landeshauptstädten, und ihnen allen voran steht die 1600 gegründete Royal Society, eine Akademie der Wissenschaften in London. Die British Association, ein Wanderverein, vereinigt jährlich die Gelehrten in einer großen Stadt des Reichs und besuchte 1884 sogar Kanada. Unter den Bibliotheken zeichnen sich vorzüglich aus die des Britischen Museums, die Bodleyanische in Oxford, die öffentliche Bibliothek in Cambridge, die Bibliothek der Advokaten in Edinburg und die Bibliothek von Trinity College in Dublin, denen sämtlich Freiexemplare aller veröffentlichten Bücher überreicht werden müssen.
Unter den wissenschaftlichen Sammlungen steht das Britische Museum (s. d.), vielleicht das reichste der Welt, obenan. Unter den botanischen Gärten ist derjenige von Kew (s. d.) der wichtigste. Sternwarten [* 14] bestehen an 15 Orten, die berühmteste zu Greenwich. Aus Staatsmitteln werden unterhalten: das Britische Museum, das geologische Museum in London, Gewerbemuseen in London, Edinburg und Dublin, Nationalgemäldegalerien in denselben Städten, eine Nationalporträtgalerie in London.
Insgesamt spendete der Staat für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft 1885-86: 5,329,000 Pfd. Sterl. Die periodische Presse, [* 15] die infolge uneingeschränkter Preßfreiheit der Zeitungslitteratur aller übrigen Länder weit voraus steht, trägt zur Bildung des Geistes nicht wenig bei. Wo sich der Brite ansiedelt, entsteht alsbald eine Zeitung, denn die Zeitung ist ihm Bedürfnis geworden. 1886 erscheinen 2487 Zeitungen und 1129 Zeitschriften. Von erstern erscheinen 666 zu London, 1472 in den englischen u. wallisischen Grafschaften, 210 in Schottland, 117 in Irland und 22 auf der Insel Man und den Kanalinseln.
Unter ihnen finden sich 191 Tagesblätter. Das leitende Blatt [* 16] ist noch immer die 1780 gegründete »Times«, wenn ihm auch, was den Umsatz anbetrifft, einige der Pennyblätter den Rang ablaufen (vgl. Duboc, Geschichte der englischen Presse, Hannov. 1873). Der Buchhandel konzentriert sich in London, nächstdem in Edinburg und Dublin; jeder Verleger von Bedeutung hat ein Zweiggeschäft in London. Im J. 1885 erschienen 4307 neue Werke, darunter 671 Jugendschriften u. 636 Werke theologischen oder religiösen Inhalts. Außerdem erschienen 1333 Werke in neuer Auflage.
Nahrungszweige.
Großbritannien [* 17] ist wohl am passendsten als ein Fabrikstaat zu bezeichnen, denn wenn auch Ackerbau und andre Erwerbszweige blühen, so sind es doch gerade die Fabriken, welche dem Land seinen Charakter verleihen, und deren zu höchster Vollkommenheit gebrachtem Betrieb, neben günstiger Weltstellung, Großbritannien den größten Teil seines Handels und damit seines Wohlstandes verdankt. Ehe wir näher auf die verschiedenen Erwerbszweige eingehen, schalten wir hier eine Zusammenstellung der Beschäftigungen nach der Zählung von 1881 ein: ¶