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Geschichte.
Zur Zeit der römischen Herrschaft bildete Graubünden einen Teil der Provinz Raetia prima (s. Rätien), wohin mehrere wichtige Alpenstraßen über den Julier, Septimer und Splügen führten. Von der Völkerwanderung wurde es nicht stark berührt, weshalb sich in seinen Thälern die rätoromanische Bevölkerung [* 2] und Sprache [* 3] erhalten haben. 536 wurde das durch die Bayern [* 4] und Alemannen stark beschränkte Rätien von den Ostgoten an die Franken abgetreten. Anfänglich bildete es ein Ganzes unter einem Präses oder Herzog, welche Würde von 600 bis 784 in dem Geschlecht der Viktoriden erblich war, die oft zugleich das Bistum zu Chur, [* 5] wo seit 451 Bischöfe erwähnt werden, innehatten.
Unter Karl d. Gr. zerfiel Rätien in mehrere Gaue, von denen Churrätien, im ganzen das heutige Graubünden und Vorarlberg, der wichtigste war. Durch Burkhart, den Grafen von Churrätien, der sich 917 zum Herzog von Alemannien aufschwang, wurde es mit Alemannien vereinigt. Durch Teilung der Grafschaften und Immunitäten zerfiel Churrätien allmählich in eine Menge von weltlichen und geistlichen Herrschaften; die größte war die des Bischofs von Chur, welche im 14. Jahrh. die Stadt Chur, das Domleschg, Oberhalbstein, Engadin, Münsterthal, Puschlav, Bergell u. a. umfaßte.
Zugleich wurde aber auch der Grund zur demokratischen Entwickelung des Landes gelegt durch die Freiheiten der Stadt Chur und der »Gerichte«, d. h. der bäuerlichen Gemeinden, welche mancherlei Rechte, namentlich die niedere Gerichtsbarkeit, erwarben. Als Bischof Peter im Begriff stand, die weltliche Verwaltung des Bistums an Österreich [* 6] zu übertragen, vereinigten sich 1367 das Domkapitel, der bischöfliche Dienstadel, die Stadt Chur und die dem Gotteshaus zugehörigen »Thäler« zum Schutz der Selbständigkeit des Bistums. So entstand der Bund des »gemeinen Gotteshauses« oder der Gotteshausbund, der bald regelmäßige Tagsatzungen abhielt und bei allen wichtigern Regierungshandlungen im Gebiet des Bischofs mitwirkte. Im J. 1395 schlossen der Abt von Disentis und die Freiherren von Sax und Räzüns nebst ihren Gemeinden ein Bündnis zur Aufrechthaltung des Landfriedens, dem bald auch die im Hinterrheinthal begüterten Grafen von Werdenberg beitraten. 1424 wurde dieser obere oder »graue« Bund unter dem Ahorn zu Truns neu beschworen.
Nach dem Hinscheiden des letzten Grafen von Toggenburg knüpften auch die »Gerichte«, die er im Prätigau, Davos, Schanvic und Churwalden besessen, eine Verbindung unter sich, um den Folgen einer Teilung des Erbes vorzubeugen, den Zehngerichtenbund (1436). Nachdem Gotteshausbund und Grauer Bund schon 1440, Gotteshaus- und Zehngerichtenbund 1450 sich verbunden, traten 1471 der Graue Bund und der Zehngerichtenbund in ein dauerndes Verhältnis, womit das moderne Gemeinwesen der drei Bünde in Rätien oder Graubünden begründet war.
Die demokratische Entwickelung desselben wurde dadurch begünstigt, daß Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrh. alle alträtischen Dynastengeschlechter ausstarben. Durch eine Reihe von Loskaufstraktaten bis ins 19. Jahrh. gingen bald nur einzelne Rechtsame, bald die Gesamthoheit der geistlichen und weltlichen Herren auf die Gerichte über. So wurde nach und nach jedes der letztern ein souveräner Kleinstaat mit eigner Verfassung und Verwaltung; zwei oder mehrere Gerichte vereinten sich zu einem Hochgericht, das mithin schon ein Bundesstaat war, und diese endlich bildeten die drei Bünde. So zerfiel der obere Bund in 8 Hochgerichte und 19 Gerichte, der Gotteshausbund in 11 Hochgerichte und 21 Gerichte, der Zehngerichtenbund in 7 Hochgerichte und 11 Gerichte.
Jeder Bund hatte seine »Tage«; an der Spitze des obern Bundes stand der alljährlich auf dem Bundestag zu Truns erwählte »Landrichter«, an der des Gotteshausbundes der Bürgermeister von Chur und an derjenigen der Zehngerichte der Ammann zu Davos. Die gemeinsamen Behörden aller drei Bünde waren der »Bundestag«, zu dem der obere 28, das Gotteshaus 22 und die Zehngerichte 15 Boten schickten, und der anfänglich zu Vazerol, seit 1524 aber abwechselnd zu Ilanz, Chur und Davos tagte, und für die laufenden Geschäfte der »Beitag«, bestehend aus den Häuptern der drei Bünde nebst drei Abgeordneten eines jeden.
Bundesbeschlüsse erlangten jedoch erst Gültigkeit, wenn die Mehrheit der Gerichte und Gemeinden sie bestätigten (Referendum). Die Übergriffe Österreichs, welches, bereits im Besitz Vorarlbergs und gewisser Herrschaftsrechte im Unterengadin, Münsterthal, in Räzüns sowie in den Thälern des Zehngerichtenbundes, die Bünde gänzlich von sich abhängig zu machen suchte, bewirkten, daß der obere und der Gotteshausbund mit den sieben alten Orten der Eidgenossenschaft (ohne Bern) [* 7] einen ewigen Freundschaftsvertrag schlossen. Der unmittelbar darauf folgende Schwabenkrieg, in welchem die Bündner den glorreichen Sieg an der Calven erfochten, gab dieser Verbindung die Bluttaufe; noch enger wurde dieselbe dadurch, daß Zürich [* 8] und Glarus auch mit den Zehngerichten und Bern mit allen drei Bünden in das gleiche Verhältnis traten. Doch galt Graubünden immer als ein besonderes Staatswesen neben der Schweiz. [* 9] Durch seine Beteiligung an den Mailänder Feldzügen erwarb es 1512 die Landschaften Veltlin, Bormio und Cläven, die von den drei Bünden abwechselnd regiert wurden. Die Reformation fand auch in Graubünden Eingang; nach einem Religionsgespräch zu Ilanz erklärte der Bundestag den Bischof aller weltlichen Gewalt verlustig und gewährte Glaubensfreiheit.
Weniger die religiöse Entzweiung als die Bündnisse mit dem Ausland machten Graubünden im 16. und 17. Jahrh. zum Schauplatz periodisch wiederkehrender grauenvoller Parteikämpfe. Das ganze Land spaltete sich in eine spanisch-österreichische und in eine französische Faktion; so oft eine Partei siegte, proskribierte sie die Gegner durch ein »Strafgericht«. 1620 erhoben sich die von Mailand [* 10] aus fanatisierten Veltliner im Einverständnis mit den geächteten Häuptern der österreichischen Partei und ermordeten die im Land anwesenden Protestanten (Veltliner Mord 20. Juli); ein entsetzlicher Bürgerkrieg entbrannte, zugleich rückten die Österreicher in ein, die Eidgenossen, in sich gespalten, vermochten keine Hilfe zu leisten, und das Land wäre verloren gewesen, wenn nicht eine Anzahl Patrioten, an ihrer Spitze Georg Jenatsch (s. d.), zunächst mit Hilfe Frankreichs die Österreicher verjagt (1635) und hierauf in geschickter Weise sich der französischen Vormundschaft durch ein Bündnis mit Spanien-Österreich entledigt hätten (1637). Die französische Revolution fand den rätischen Freistaat, wie die Eidgenossenschaft, ohne einigende Organisation und von Parteien zerrissen. Die Unterthanen empörten sich, und als Graubünden zögerte, nach Bonapartes Vorschlag die drei Landschaften als gleichberechtigten vierten Bund anzunehmen, vereinigte sie derselbe mit der Cisalpinischen Republik wobei das dort befindliche Vermögen ¶
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bündnerischer Privatpersonen konfisziert wurde. 1798 richtete die neubegründete Helvetische Republik an Graubünden die Einladung, sich ihr anzuschließen; allein die Mehrheit der Gemeinden sprach sich dagegen aus. Als Graubünden sogar österreichische Truppen aufnahm, rückte Masséna ebenfalls ein (März 1799), und das Land wurde der Schauplatz blutiger Kämpfe zwischen Österreichern und Franzosen. Durch die Mediationsakte (1803) wurde Graubünden endgültig der Schweiz einverleibt und bekam eine Verfassung, welche zwar die Einteilung in drei Bünde, in Hochgerichte und Gerichte sowie das Referendum beibehielt, aber den ehemaligen Bundestag in einen Großen Rat, die periodischen Zusammenkünfte der drei Bundeshäupter in einen permanenten Kleinen Rat und den »Beitag« (Kongreß) in eine »Standeskommission« verwandelte. So entstand eine wahre Landesregierung, u. durch Krëierung eines kantonalen Appellationsgerichts, eines Kriminalgerichts für Fremde, einer Kantonschule und eines Kantonschulrats, eines Kirchenrats, einer Militärkommission, einer Kantonalpostverwaltung etc. wurde für Zentralisation der wichtigsten staatlichen Befugnisse gesorgt. Am wurde durch einen Auflauf von der österreichischen Partei die Aufhebung der Mediationsverfassung und die Einberufung des alten Bundestags erzwungen; doch stimmte die neue, unter sorgfältiger Berücksichtigung der Volkswünsche zu stande gekommene Verfassung vom die noch Nachträge erhielt und erst 1820 als vollständig ins eidgenössische Archiv gelegt wurde, in allem Wesentlichen mit der Mediationsakte überein.
Die Bemühungen Graubündens beim Wiener Kongreß, wieder zu den ihm entrissenen italienischen Provinzen zu gelangen, waren fruchtlos; doch ließ sich Österreich, das im Besitz derselben blieb, 1833 herbei, den dabei beraubten Personen eine Abfindungssumme zu bezahlen. Durch eine Verfassungsrevision vom wurde die historische Einteilung in Bünde, Hochgerichte und Gerichte durch eine moderne in Bezirke und Kreise [* 12] ersetzt. Sonst zeigt sich der konservative Sinn der Bündner in der häufigen Ablehnung neuer, nicht selten dringend notwendiger Gesetzesvorlagen, wie denn auch 1876 der von einem Verfassungsrat ausgearbeitete Entwurf eines neuen Grundgesetzes, welches die Standeskommission beseitigte und eine Regierung mit Departementalsystem vorsah, mit großer Mehrheit verworfen wurde. Am wurde dagegen eine neue Verfassung angenommen, welche zu dem schon bestehenden Referendum die Initiative hinzufügte.
Vgl. Röder und Tscharner, Der Kanton [* 13] Graubünden (St. Gallen 1838);
C. v. Moor, Geschichte von Currätien und der Republik gemeiner drei Bünde (Chur 1870-74, 3 Bde.);
Derselbe, Wegweiser durch die Geschichte Currätiens (das. 1873);
Planta, Das alte Rätien (Berl. 1872);
Derselbe, Die currätischen Herrschaften in der Feudalzeit (Bern 1881);
v. Juvalt, Forschungen über die Feudalzeit im Curischen Rätien (Zürich 1871);
Sprecher, Geschichte der Republik der drei Bünde im 18. Jahrhundert (Chur 1872-75, 2 Bde.);
Th. u. C. v. Moor, Sammlung der Urkunden zur Geschichte Currätiens und der Republik Graubünden (das. 1848-64, 4 Bde.);
»Rätia, Mitteilungen der geschichtforschenden Gesellschaft Graubündens« (das. 1863 ff.);
Jecklin, Volkstümliches aus Graubünden (das. 1874-84, 3 Bde.);
Derselbe, Urkunden zur Verfassungsgeschichte Graubündens (das. 1883-86, 3 Hefte).