Titel
Gracchus,
Name einer berühmten Familie des Sempronischen Geschlechts im alten Rom, [* 2] aus welcher besonders die beiden Brüder Tiberius und Gajus, gewöhnlich schlechthin die Gracchen genannt, durch ihre edelmütigen Bestrebungen, das Elend der untern Volksklassen zu mildern, und durch ihr tragisches Ende bekannt geworden sind.
1) Tiberius Sempronius, der Vater der Gracchen, war 187 v. Chr. Volkstribun, 181 Prätor und erhielt als solcher das diesseitige Spanien [* 3] zur Provinz, wo er binnen drei Jahren 103 Städte unterwarf und deren Unterwerfung durch einen billigen Vertrag sicherte, der in diesen Gegenden 20 Jahre lang den Frieden erhielt. Nach seiner Rückkehr feierte er einen glänzenden Triumph (178) und wurde für das Jahr 177 zum Konsul gewählt. Einen zweiten Triumph trug ihm seine erfolgreiche Bekämpfung der sich immer von neuem gegen die römische Herrschaft auflehnenden Sardinier ein. Als Zensor (169) stieß er eine große Anzahl Mitglieder aus dem Senat und aus dem Ritterstand. Nachdem er 163 zum zweitenmal Konsul gewesen, starb er um 150. Gracchus war ein Mann von tüchtiger, echt römischer Gesinnung, zwar streng, aber deshalb nicht minder bei dem Volk beliebt. Er verheiratete sich mit Cornelia, der Tochter des Scipio Africanus, einer Frau von hoher Bildung und edler Gesinnung, der Mutter der Gracchen.
2) Tiberius Sempronius, ältester Sohn des vorigen, durch seine Mutter Cornelia Enkel des großen P. Cornelius Scipio Africanus, berühmter Tribun des römischen Volkes, erhielt nach dem Tode des Vaters durch seine Mutter die trefflichste Erziehung. Schon als 16jähriger Jüngling zeichnete er sich 147 v. Chr. vor Karthago [* 4] aus. Zehn Jahre später finden wir ihn als Quästor in Spanien bei dem Heer des Konsuls Hostilius Mancinus, wo es ihm gelang, mit den Numantinern, welche das römische Heer eingeschlossen hatten, einen Vertrag zu stande zu bringen, welcher den Römern freien Abzug mit den Waffen, [* 5] mit alleiniger Zurücklassung des Gepäcks, gestattete.
Für das Jahr 133 bewarb er sich um das Volkstribunat, um die große Aufgabe seines Lebens, die agrarische Reform, durchführen zu können. Der Grundbesitz war damals zum großen Teil in den Händen weniger reicher und vornehmer Bürger, der sogen. Optimaten oder Nobiles, vereinigt, denen eine große Anzahl armer und besitzloser Bürger gegenüberstand: ein Mißverhältnis, welches hauptsächlich dadurch herbeigeführt worden war, daß jene sich des Staatslandes (des ager publicus) bemächtigt hatten, d. h. desjenigen Landes, welches nach einem glücklich geführten Krieg in den Besitz des Staats gelangt, und über welches nicht anderweit verfügt worden war. Um diesem Übelstand abzuhelfen, stellte (in Erneuerung des Licinischen Gesetzes von 376) den Antrag, daß niemand mehr als 500 Jugera vom Ager publicus besitzen und der Überschuß unter die besitzlosen Bürger verteilt werden sollte. Um die Härte des Gesetzes für die meisten Optimaten zu mildern, fügte er hinzu, daß ein jeder für das Herausgegebene aus der Staatskasse zu entschädigen sei.
Zur Feststellung des Abzutretenden sowie zur Abschätzung und Weiterverteilung des Abgetretenen sollte eine Kommission von drei Männern eingesetzt werden. Das Zugeteilte sollte in Zukunft unveräußerlich sein, damit es nicht alsbald wieder durch Verkauf in die Hände der Reichen übergehe. Der Antrag erregte bei den Optimaten die größte Erbitterung. Sie gewannen einen der übrigen Volkstribunen, M. Octavius, um durch seine Einsprache die Abstimmung über den Antrag zu verhindern.
Vergeblich suchte Gracchus den Octavius davon abzubringen, vergeblich suchte er auch noch persönlich den Senat von der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit seines Antrags zu überzeugen. Mit Hohn abgewiesen, that er einen Schritt, der allerdings verfassungswidrig war: er ließ das Volk darüber abstimmen, ob ein Tribun, der dem Volk feindlich gesinnt sei, d. h. ob Octavius sein Amt behalten solle. Die Abstimmung entschied gegen Octavius, und nun wurde das Gesetz sofort und zwar ohne jene mildernden Zusätze durchgebracht und zugleich die zur Ausführung bestimmte Kommission eingesetzt, in die man außer Tiberius Gracchus seinen Bruder Gajus und seinen Schwiegervater Appius Claudius wählte.
Indessen traten nun auch sofort die großen Schwierigkeiten der Ausführung hervor. Es war in vielen Fällen zweifelhaft, was Ager publicus, was Privateigentum sei, und die Entscheidung darüber, die den Triumvirn (so hieß die Kommission) überwiesen war, nicht ohne große Weitläufigkeiten zu treffen; außerdem legten ihnen die Optimaten alle möglichen Hindernisse in den Weg. Gracchus mußte unter diesen Umständen wünschen, für das nächste Jahr wieder zum Tribun gewählt zu werden. Um sich daher die Gunst des Volkes zu sichern, beantragte er ein Gesetz, wonach die Schätze des Königs Attalos III. von Pergamon, [* 6] der das römische Volk zu seinem Erben eingesetzt hatte, unter die armen Bürger verteilt werden sollten.
Für den Fall seiner Wiedererwählung stellte er noch eine Reihe andrer dem Volke günstiger Gesetze in Aussicht. Die Tribunenwahl fiel aber insofern in eine für Gracchus ungünstige Zeit, als gerade die Erntearbeiten einen großen Teil seiner Anhänger unter dem Volk von der Teilnahme an den Komitien entfernt hielten. Schon hatte er jedoch die immer sehr einflußreiche Stimme der ersten Tribus, der sogen. Prärogativa, und die der nächstfolgenden Tribus erlangt, als die Gegner gegen die Wiedererwählung desselben Tribuns Einspruch erhoben.
Die Wahl wurde daher auf den folgenden Tag verschoben. Am folgenden Morgen versammelten sich seine Anhänger auf dem Kapital, um die Wahl vorzunehmen, auch Gracchus begab sich dahin; mit ihnen fanden sich aber auch viele Gegner ein. Da diese die Wahlhandlung auf alle Art störten, so kam es bald zu einem heftigen Tumult und blutigen Gewaltthätigkeiten, wobei Gracchus die Hand [* 7] nach seinem Kopfe bewegte, um seinen Freunden zu verstehen zu geben, daß sein Leben in Gefahr sei, wie es aber seine Gegner deuteten, um ein Zeichen zu geben, daß er zum König gekrönt sein wolle. Im Senat, wo man über die zu ergreifenden Maßregeln beriet, forderte man nun den Konsul Quintus Mucius Scävola auf, gegen die Aufrührer mit Gewalt einzuschreiten, und als dieser sich weigerte, rief der Oberpriester P. Scipio Nasica: »Wer die Rettung des Vaterlandes will, der folge mir«.
Mit diesem Ruf eilte er voraus, ihm folgte eine große Zahl Senatoren und deren Klienten. So kamen sie mit Knütteln und andern Waffen, wie sie der Zufall bot, gerüstet auf dem Kapitol an, wo das Volk, unbewaffnet wie es war, sofort die Flucht ergriff. Gracchus selbst wurde mit fortgerissen, stürzte aber vor dem Tempel [* 8] des kapitolinischen Jupiter nieder und wurde (wie es heißt, von einem seiner Kollegen) erschlagen. Mit ihm wurden 300 seiner Anhänger getötet. Sein Leichnam wurde mit denen der übrigen Erschlagenen in den Tiber geworfen. So war diese erste große Volksbewegung niedergeschlagen. Die Optimaten waren als Sieger daraus hervorgegangen; sie ¶
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wagten aber gleichwohl nicht, das Ackergesetz aufzuheben; auch wurde Scipio Nasica, der Urheber der blutigen Gewaltthat, um ihn von Rom zu entfernen, unter irgend einem Vorwand bald nach Asien [* 10] geschickt.
3) Gajus Sempronius, der um neun Jahre jüngere Bruder des vorigen, war an trefflichen Eigenschaften dem Bruder ähnlich, unterschied sich jedoch von ihm durch einen kühnern Geist und durch größere Leidenschaftlichkeit, wie er ihn auch durch das Feuer und die hinreißende Kraft [* 11] seiner Beredsamkeit übertraf. Trotz seiner Jugend war er durch seine Wahl zum Triumvir agris dividundis während des Tribunats seines Bruders an dessen Unternehmungen beteiligt; nach jenes Tod bezeichnete ihn die allgemeine Volksstimme als den zum Rächer des Tiberius Gracchus und Vollender des von demselben begonnenen Werkes Berufenen.
Die Optimatenpartei wünschte ihn deshalb von Rom entfernt zu halten und verlängerte ihm daher, nachdem er 126 v. Chr. den Konsul I. Aurelius Orestes als Quästor nach Sardinien [* 12] begleitet hatte, sein Amt ein zweites Jahr; als dies aber auch für ein drittes Jahr geschah, kehrte er eigenmächtig nach Rom zurück und wußte sich in einer Rede vor dem Volk vollständig zu rechtfertigen. Für das Jahr 123 zum Volkstribun gewählt, wollte er nicht nur Gesetze für das Volk geben, sondern dieselben auch durch eine Beschränkung der Macht des Senats und der Magistrate sicherstellen.
Eins seiner ersten Gesetze, das Getreidegesetz (lex frumentaria), bestimmte, daß den römischen Bürgern monatlich ein bestimmtes Quantum Getreide [* 13] zu einem niedrigen Preis aus Staatsmitteln verabreicht werden sollte. Dann erneuerte er das Ackergesetz, ließ die Ausführung mehrerer Kolonien beschließen und erleichterte den Kriegsdienst durch Beschaffung der Bekleidung der Soldaten aus Staatsmitteln und Abkürzung der Dienstzeit. Ein weiteres volkstümliches Gesetz verordnete, daß kein römischer Bürger zum Tod oder zur Verbannung anders als durch das Volk verurteilt werden sollte.
Die politisch bedeutendsten seiner Gesetze sind aber das Richtergesetz (lex judiciaria) und das Gesetz über das Bürgerrecht der Bundesgenossen (de civitate sociis danda). Es waren nämlich damals für bestimmte Verbrechen stehende Geschwornengerichte (quaestiones perpetuae) eingesetzt, welche bisher ausschließlich durch Senatoren gebildet wurden, was für die Optimaten besonders deswegen von Wichtigkeit war, weil so die wegen Erpressung angeklagten Statthalter bei ihren Standesgenossen am ehesten Straflosigkeit zu finden hoffen durften.
Durch das Richtergesetz nun übertrug Gracchus die Gerichte auf die Ritter und bewirkte dadurch, daß diese auf die Seite der Volkspartei hinübergezogen wurden, der sie diese für sie günstige Veränderung verdankten. Das Gesetz über die Bundesgenossen bezweckte, den sämtlichen italischen Bundesgenossen das römische Bürgerrecht zu verschaffen, um auch diese, die bisher ebenso wie die Ritter die Senatspartei gestützt hatten, auf die Seite des Volkes herüberzuziehen.
Alle diese Gesetze, bis auf das über die Bundesgenossen, wurden von Gracchus 123 und 122 durchgebracht. Im Lauf des Jahrs 122 aber rafften sich die Optimaten zum Widerstand auf, wahrscheinlich auf Anlaß des Bundesgenossengesetzes, das sie um jeden Preis zu verhindern suchten. Sie bewogen einen Kollegen des Gracchus, den Tribun M. Livius Drusus, dem Volk, um Gracchus aus dessen Gunst zu verdrängen, mit Zustimmung des Senats noch größere Vorteile in Aussicht zu stellen. Um diese Zeit aber war Gracchus sieben Wochen von Rom abwesend, um eine der von ihm bestimmten Kolonien, Junonia, auf dem Boden des zerstörten Karthago zu gründen.
Als er daher wieder nach Rom zurückkehrte, fand er sich halb vergessen, und so kam es, daß er bei der Wahl der Tribunen für das Jahr 121 durchfiel, und daß einer seiner erbittertsten Gegner, L. Opimius, zum Konsul für dieses Jahr gewählt wurde. Gracchus trat also 10. Dez. 122, am Tag des Tribunatswechsels, in den Privatstand zurück. Als nun im Sommer 121 die Optimaten Anstalten trafen, zunächst das Gesetz über die Kolonie Junonia und dann wahrscheinlich auch die übrigen Gesetze aufzuheben, beriefen Gracchus und Fulvius Flaccus, um dies zu verhindern, eine Volksversammlung auf das Kapitol, die aber bald mit einem wilden Tumult endete, als ein Liktor [* 14] des opfernden Konsuls, der Gracchus beleidigt hatte, von den Gracchanern erschlagen worden war. Am andern Morgen wurde darauf dem Konsul Opimius vom Senat durch die bekannte Formel unbeschränkte Vollmacht erteilt; Gracchus aber und Fulvius und ihre Anhänger versammelten sich auf dem Aventin.
Sie ließen dem Senat von hier vergeblich Unterhandlungen anbieten. Darauf wurde der Aventin von den Senatoren und ihren Anhängern mit Hilfe kretensischer Bogenschützen erstürmt, die Gracchaner wurden in die Flucht geschlagen, Fulvius wurde aus einem Versteck hervorgezogen und getötet; Gracchus, durch seine Freunde zur Flucht genötigt, entkam zwar über den Tiber, gelangte aber nur bis in den Hain der Furina, wo er sich, um nicht seinen Feinden in die Hände zu fallen, von seinem Sklaven töten ließ; sein Kopf wurde Opimius gebracht und von diesem mit Gold [* 15] aufgewogen. Die Leichname der Getöteten, 3000 an der Zahl, wurden in den Tiber geworfen. Der Senat aber ließ zum Andenken an diesen traurigen Sieg, wie zum Hohn, der Concordia einen Tempel bauen. Später wurden von dem Volk beiden Gracchen Statuen gewidmet und auf den Stellen, wo sie gefallen waren, Kapellen gebaut. - Die Hauptquellen für die Geschichte beider Gracchen sind Appian in der Geschichte der römischen Bürgerkriege und Plutarch in der Biographie der Gracchen.
Vgl. K. W. Nitzsch, Die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger (Berl. 1847).