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nach dem Schönen und die allen Widerstreit der Leidenschaft verklärende Hoffnung der Wiederkunft des Glückes symbolisch dargestellt werden«. Seit 1810 begann er, um das Verständnis seiner Dichtungen zu fördern und ihre innere Einheit nachzuweisen, seine Lebensgeschichte unter dem Titel: »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit«. Diese Autobiographie, welche Goethes Entwickelung bis zum Herbst 1775 darlegt und einen wahrhaft bezaubernden Reiz durch die milde Klarheit und Objektivität der Erzählung übt, fand zahlreiche Nachträge, unter andern in den »Annalen« und in der »Italienischen Reise von 1786 bis 1788«, einem der herrlichsten Werke Goethes.
Goethes Alter.
Die Befreiungskriege, an denen Herzog Karl August als Feldherr persönlichen Anteil genommen hatte, und aus denen das Herzogtum Weimar [* 2] bedeutend vergrößert als Großherzogtum Sachsen [* 3] hervorging, schufen die friedlichen Lebensbedingungen, nach denen der alternde und doch geistig jugendfrische Dichter schon seit langem mehr und mehr verlangte. In den Jahren 1814 und 1815 sah er die Vaterstadt und die heimatlichen Gegenden am Rhein und Main zum letztenmal. - Seine Abschließung gegen manche Zerstreuung und unberechtigte Forderung wurde vielfach mißverstanden und mißgedeutet. Denn »niemals erstarrte er zu dem ruhigen Götterbild, das eine falsche oder böswillige Tradition aufgerichtet hat; niemals verleugnete er das Mitgefühl mit den Geschicken der Menschheit, mit den Geschicken seines Volkes, dem er freilich nie mit tönender Phrase geschmeichelt, dessen angestaunte Tugenden er aber liebevoll wie kein andrer erkannte und pries, und dessen Einheit auch er herbeisehnte« (Bernays). - Der Tod seiner Frau (1816) traf Goethe härter, als man nach dem, was über die Natur seines Verhältnisses zu ihr öffentlich bekannt war, annehmen zu sollen glaubte.
Doch fand das häusliche Leben des Dichters einen Ersatz für den Verlust durch die Verheiratung seines Sohns, dessen Gattin eine liebreiche Pflegerin des alternden Goethe wurde. Im J. 1817 legte dieser die Leitung des weimarischen Hoftheaters nieder. Mancherlei Differenzen waren vorangegangen, ehe die gegen seinen Willen durchgesetzte Aufführung einer unwürdigen Posse, »Der Hund des Aubry«, in welcher ein dressierter Pudel als Akteur auftreten sollte, ihm erwünschte Gelegenheit zum Abbruch einer gegenstands- und interesselos gewordenen Thätigkeit gab.
Noch einmal entzündete sich in der Seele des Greises der Kampf zwischen Liebe und Entsagung, als ihn, den Siebzigjährigen, die Anmut eines Fräuleins v. Levezow zu einer wahrhaft jugendlichen Leidenschaft erregt hatte. Dann wurde es immer stiller und abendfriedlicher in ihm wie um ihn. Immer einsiedlerischer lebte er seine Tage, »allzeit beschäftigt, die Kräfte zu nutzen, die ihm noch geblieben waren«. In seine Umgebung zog er verschiedene Männer, welche ihn bei der Redaktion seiner Werke unterstützten (Riemer, J. P. ^[Johann Peter] Eckermann, Kräuter u. a.); nach außen unterhielt er einen ausgebreiteten Briefwechsel, der freilich zumeist diktiert wurde und so den sogen. Goetheschen Altersstil fördern half, der, abstrakt und förmlich zugleich, vom reizvollen Stil, den »Wahrheit und Dichtung« noch aufgewiesen hatte, unvorteilhaft abstach. Im J. 1828 nahm ihm der Tod den fürstlichen Freund Karl August, dem die edle Luise bald nachfolgte.
Auf das tiefste wurde Goethe durch das Hinscheiden seines Sohns gebeugt, der 1830 in Rom [* 4] starb. Am beendete der greise Dichter das letzte Hauptwerk seines Lebens, den zweiten Teil des »Faust«, ein Gedicht, über dessen Wert wohl ewig die Meinungen weit auseinander gehen werden, und von dem sich Allgemeingültiges schwerlich viel mehr in Kürze sagen läßt, als daß wir darin, wie der Apostel sagt, wie »durch einen Spiegel [* 5] in einem dunkeln Wort« schauen eine Fülle weltumfassender, aber in symbolischer Unfaßlichkeit »hineingeheimnißter« Gedanken.
Kurz vor seinem letzten Geburtstag bestieg Goethe, als er in Ilmenau zu Besuch war, einen benachbarten Berg, den Kickelhahn, wo er vorzeiten oft geweilt und einst (an einem Herbstabend des Jahrs 1783) sein bekanntes Nachtlied (»Über allen Gipfeln ist Ruh' etc.«) an die Wand eines Bretterhäuschens geschrieben hatte. Tief bewegt überlas er das Gedicht, die letzten Worte: »Warte nur, balde ruhest du auch!« laut für sich wiederholend. Er hatte wahr gesagt. Am 22. März des folgenden Jahrs (1832) endete schmerzlos und sanft sein schönes, ruhmreiches Leben, von dem er mit Recht im 2. Teil des »Faust« gesungen:
»Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn"
Er stand im 83. Lebensjahr. Seine letzten Worte waren: »Mehr Licht!«
Goethes Gesamtbild.
In Goethe erhielt nicht nur die deutsche Dichtung ihren größten Repräsentanten, er war auch die größte und universellste Erscheinung aller Litteratur der letzten beiden Jahrhunderte. Indem er die poetische Phantasie und Ursprünglichkeit, die naive Welt- und Lebensfreude, welche die Dichter früherer Jahrhunderte ausgezeichnet hatte, mit allen Resultaten der modernen Kultur verband, indem er die Ursprünglichkeit der Natur und der Herzensempfindung neben einer vielseitigen, weit umfassenden Bildung bewahrte, erwies er zu gleicher Zeit den Irrtum derer, welche die Dichtung als ein Anhängsel der Gelehrsamkeit betrachteten, und widerlegte die Theorie der Rousseauisten, welche die echte poetische Empfindung nur in der Unkultur möglich wähnten.
Daraus resultierte die unbedingte dichterische Gesundheit. Diese tief innerliche Gesundheit stand in kausaler Wechselbeziehung zu dem Verhältnis, in das sich Goethe früh zu den realen und idealen Erscheinungen der Welt gesetzt hatte, und aus dem er sich zeit seines Lebens nur ganz vorübergehend durch äußere Einwirkungen aufstören ließ. »Es ist das schönste Glück des denkenden Menschen«, sagte er, »das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche in Ehrfurcht zu verehren.« Die in diesen Worten ausgesprochene Lebensweisheit machte sich bei ihm auf den verschiedensten Gebieten geltend.
Sie ließ ihn mit liebevollen und liebeklaren Augen das Wirkliche betrachten und dessen ideale Seiten aufspüren, sie machte ihn lebensfroh und »voll Behagen am Dasein«. Daraus erzeugt sich auch die hohe und unvergleichliche Wahrhaftigkeit der dichterischen Gebilde Goethes, um derentwillen sie allen denen, welchen es verliehen ist, Rhetorik von Poesie und Phrase von echter Empfindung und wahrem Gedankengehalt unterscheiden zu können, so einzig dünken. Über die Fülle und Macht seiner Phantasie, die Gemütstiefe und Herzenswärme, über die Plastik und Kraft [* 6] seines Gestaltungsvermögens kann im Grunde nur eine Meinung herrschen. Durch die elastische Frische und Lebenskraft seiner Natur überragte er in der Jugend wie im Alter die meisten seiner Zeitgenossen. In dieser Natur, die überall, dem größten Problem wie dem flüchtigsten Genuß gegenüber, ganz und voll blieb, immer aus der Totalität zu wirken strebte, alle Unendlichkeit ihrer Empfindung ¶
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an den Augenblick hinzugeben und jeden Augenblick für ein fortwirkendes inneres Leben festzuhalten wußte, die den schärfsten und hellsten Blick für die Außenwelt besaß und doch wieder tief in sich selbst blickte, lag der höchste Zauber von Goethes persönlichen und poetischen Wirkungen. Goethes dichterische Produktion gipfelt in der Lyrik, wie denn sogar sein Meisterwerk, »Faust«, schon der Versform nach, noch mehr aber durch die ganze rhapsodische und fragmentarische Haltung seiner meisten Teile als eine Art lyrischen Dramas erscheint.
Damit soll nicht gesagt sein, daß der Epiker und Dramatiker Goethe nicht neben den größten Dichtern ein Recht hätte zu stehen. Aber in der Lyrik darf sich kein Dichter aller Völker über oder neben ihn stellen. Dabei glich Goethes universalische Natur auch darin der großen Natur, daß seine Lyrik über einen unendlichen Reichtum von Erscheinungsformen gebot und über eine unendliche Mannigfaltigkeit von Tönen, gleichsam über die Empfindungstonleiter der ganzen Menschheit, zu verfügen hatte.
Aus dem vorwiegend auf die lyrische Produktion gerichteten Genius Goethes erklärt sich auch, warum man in seinen Dramen so oft ausreichende Handlung vermißt hat. Der Dichter entfaltet eben auch in ihnen vorzugsweise das Gemütsleben der agierenden Personen, die nicht ins Abstrakte idealisiert, die nicht Engel, noch Teufel, aber dafür wahrhaftige Menschen sind mit menschlichen Tugenden und menschlichen Schwächen. Übrigens läßt sich auch an dramatischer Gewalt, an fortreißender Wirkung der Handlung und überwältigendem Pathos der Szene nichts in unsrer dramatischen Litteratur mit dem Schluß des ersten Teils vom »Faust« vergleichen.
Dramen wie »Clavigo« u. a. bestätigen zur Genüge, daß Goethe selbst die wirksame theatralische Form zu Gebote stand, und daß er auf sie zu gunsten andrer Momente, die in seinem Schaffen überwiegend wurden, einfach verzichtete. Die Kunst, wirkliche Individuen darzustellen, ist auch dem Epiker Goethe zu gute gekommen; sein »Hermann und Dorothea« ist in dieser Beziehung ein unübertroffenes Meisterstück. Nicht minder beruht der Wert seiner Romane zum großen Teil auf jenem Vermögen. In seinen sozialen Romanen stellte der Dichter in der knappsten Form gleichwohl die ganze Breite [* 8] des Menschendaseins, des Weltlebens überhaupt vor uns hin.
Während in »Werthers Leiden«, [* 9] dem nach der Seite unmittelbarster Poesie und lyrischer Fülle vollendetsten Roman, der Zwiespalt einer ideal gestimmten Natur mit einer unpoetisch gestimmten Wirklichkeit erscheint, ward der Roman »Wilhelm Meister« von dem Grundgedanken einer echt menschlichen, freien Bildung erfüllt, die, von Wahrheit und Schönheit getränkt, über alle zufälligen Äußerlichkeiten und Irrungen des Daseins zu siegen, die reale Gesellschaft umzubilden vermag. Der Gegensatz der beiden Romane stellt uns das Resultat von Goethes Entwickelung und Bildung gleichsam vor Augen und bestätigt hinlänglich, daß der Dichter niemals von den Idealen seiner Jugend abgefallen ist, wie zuweilen behauptet wurde, und ihre Verwirklichung durch sein Leben im Auge [* 10] behielt.
»Goethe war mehr Grieche als Deutscher«, sagt der englische Biograph des Dichters, Lewes. Dies ist, so viel es auch in Deutschland [* 11] nachgesprochen ward, nichts als eine geistreiche Phrase, und man braucht nur aus Goethes Lieder und »Faust« hinzuweisen, um seiner tief deutschen Natur gerecht zu werden. Unleugbar aber ist, daß Goethe mit einer bei germanischen Naturen sehr ungewöhnlichen Gabe plastischer Anschauung ausgestattet war. Gerade diese ließ ihn das Ungenügende der bisherigen Form deutscher Poesie besonders deutlich empfinden, und wiederum dieser stark empfundene Mangel war es wohl, der ihn zur Übung in der bildenden Kunst antrieb und ihn in langem Schwanken erhielt darüber, ob er von der Natur zum Dichter oder zum ausübenden plastischen Künstler berufen sei.
Einen großen Teil seiner geistigen Kraft und seiner edlen Zeit hat in dieser schwankenden Überzeugung auf Arbeiten verwendet, die ihn in der Malerei doch kaum so weit brachten, daß er für einen tüchtigen Dilettanten gelten konnte. Aber jene Kunstübungen waren für den Dichter gleichwohl nicht verloren; sie schärften seine Auffassung, sie lehrten ihn seine Augen brauchen, wie ihn denn Angelika Kauffmann versicherte, sie kenne in Rom wenige, die in der Kunst besser sähen als er. Daß er Perspektive gelernt, nach Modellen gezeichnet, Landschaftsmalerei mit Leidenschaft getrieben und sogar in Thon zu modellieren versucht hat, das ist namentlich an seinen dichterischen Hervorbringungen während und unmittelbar nach der italienischen Reise in vorteilhaftester Weise zu erkennen.
Übrigens hielt ihn von dem Versuch, die Poesie ernsthaft und dauernd mit der bildenden Kunst zu vertauschen, nicht nur der mächtige, bei Hauptentscheidungen nie irre zu führende Instinkt seiner Natur, sondern auch die deutliche Erkenntnis ab, daß die poetische Phantasie weit über die Grenzen [* 12] alles Schaffens in den bildenden Künsten hinauszugreifen vermöge. Noch im vollen Genuß des römischen Aufenthalts bekannte er sich und andern: »Täglich wird mir's deutlicher, daß ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin, und daß ich die nächsten zehn Jahre dieses Talent exkolieren und noch etwas Gutes machen sollte, da mir das Feuer der Jugend manches ohne großes Studieren gelingen ließ. Von meinem längern Aufenthalt in Rom werde ich den Vorteil haben, daß ich auf das Ausüben der bildenden Kunst Verzicht thue.« Von da an beschränkte er sich auf litterarische Darlegung seiner Kunstüberzeugungen.
Der mit der Zeitschrift »Propyläen« (1798-1800) unternommene Versuch, kritisch unmittelbar auf die deutschen Künstler- und Kunstkennerkreise zu wirken, scheiterte an der Gleichgültigkeit und dem Nichtverständnis derselben. Mit liebevollstem Anteil verfolgte er jedoch bis an das Ende seiner Tage alle hervorragenden Schöpfungen der Malerei und Plastik. Mit tiefer Verstimmung erfüllte es sein auf antike Klarheit und Heiterkeit des Geistes gestelltes Wesen, als er im hohen Alter erleben mußte, daß die romantische Schule auch in der bildenden Kunst die von ihm notwendig erachteten Grundsätze verließ und das sogen. Nazarenertum, die mittelalterlich-katholisierende Kunstrichtung, wieder ins moderne Schaffen einzuführen den vergeblichen Versuch machte.
Eine gründliche Übersicht der christlich-germanischen Kunst gab Goethe am Schlusse seiner »Main- und Rheinreise 1814 und 1815«, mit besonderer Berücksichtigung der Kölner [* 13] Malerschule. Was die Malerei selbst betrifft, so besaß er eine ausgedehnte und tiefgehende Kenntnis derselben. Er setzte ihre Aufgabe in Bezug auf das Kolorit in die »Individualisierung der Elementarfarben durch Spezifikation«. Außer einzelnen kleinen anregenden Aufsätzen über diesen Gegenstand haben wir von ihm eine Übersetzung von Diderots »Versuch über die Malerei«, mit Anmerkungen begleitet. Für die Musik, soweit ihm die Empfindung derselben nicht als Dichter angeboren war, hatte Goethe nur verhältnismäßig geringes Verständnis. Doch beschäftigte er sich mit dem Theoretischen auch dieser Kunst, wie seine Tabelle zur Tonlehre (»Briefwechsel ¶