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Leidenschaft, aus der er sich gerissen, machte nur allzu rasch andern Platz. Ohne Liebe war ihm das Leben undenkbar. Noch von Weimar [* 2] aus hatte er mit einer tief empfundenen Widmung seine »Stella« an deren Urbild Lili gesendet; aber die Erinnerungen an die aufgegebene Braut (die sich ihrerseits kaum ein Jahr nach Goethes Weggang verlobte und mit einem Herrn v. Türckheim in Straßburg [* 3] vermählte) hinderten nicht neue Empfindungen. Die ersten weimarischen Jahre sahen mancherlei flüchtige Liebesneigungen und Liebeleien (»Miseleien«, wie es in der kraftgenialen Sprache [* 4] hieß); die Spuren mancher vorübergehenden, raschen Beziehung finden sich in den Goetheschen Tagebüchern.
Das eigentliche Herzensleben des Dichters aber setzte sich fort in den Beziehungen zu Charlotte v. Stein und Corona [* 5] Schröter. Frau v. Stein, geborne v. Schardt, die Gemahlin des herzoglichen Oberstallmeisters, eine jener Frauennaturen, welche mit wunderbar fesselnden Vorzügen, mit dem Reiz höchster Anmut und feinseelischen Regungen eine gewisse Kälte und ruhige Überlegenheit verbinden, war sieben Jahre älter als Goethe. Sie setzte dem leidenschaftlichen Liebeswerben, mit dem Goethe sie im ersten Jahr seines weimarischen Aufenthalts bestürmte, entschiedene Zurückhaltung entgegen, verriet ihm jedoch, daß sie von seiner Neigung nicht ungerührt sei, legte entschiedenes Interesse an seinem ganzen Thun, Leben und Dichten an den Tag und fesselte ihn damit um so fester und tiefer.
Als gegen Ende des Jahrs 1776 die schöne Sängerin Corona Schröter nach Weimar übersiedelte (sie war als Kammersängerin der Herzogin Amalia berufen), war Goethe bereits der tägliche Freund des Steinschen Hauses und ihm der Umgang mit der geistvollen, seine besten Lebenshoffnungen weckenden Frau zum unabweisbaren Bedürfnis geworden. Ließ ihn Coronas Schönheit und Jugend nun auch für diese erglühen, so verdrängte doch die junge Sängerin die anmutige ältere Frau nicht aus seinem Herzen.
Leise, unmerklich, vielleicht ohne bewußte Absicht zog ihn Charlotte ganz an sich, mehr und mehr ward auch sie von Goethes Leidenschaft ergriffen. Aus der Freundschaft war eine Liebe geworden, deren Gedächtnis in all ihrem Reiz in Goethes erhaltenen Briefen an Charlotte v. Stein unsterblich fortlebt. Was in den Jahren des Werdens dieser Liebe und der Zeit der ausschließlichen Beziehung zu Frau v. Stein genossen und gelitten, verraten Tagebücher und Briefe nur zum kleinsten Teil; selbst seiner Dichtung vertraute er nur einzelne Züge seines damaligen Erlebens. Im Treiben und in der Bewegung seines Hof- und Geschäftsdaseins, in der Fülle seines Geheimlebens »schwanden ihm die Gestalten aller fernen Freunde wie im Nebel«; Weimar hatte und hielt ihn ganz.
Im ersten Jahr seines weimarischen Lebens hegte er wohl die Absicht, die Besten derer, mit denen er in frühern Zeiten gelebt und gestrebt hatte, herzuzurufen. Als der Herzog einen Generalsuperintendenten bedurfte, empfahl Goethe Herder, welcher im Herbst 1776 von Bückeburg [* 6] nach Weimar übersiedelte. Die Stürmer und Dränger Lenz und Klinger kamen ungerufen, konnten sich aber in der weimarischen Hofwelt nicht behaupten. Fr. Leopold Stolberg [* 7] ward durch Klopstock vom Antritt seiner Kammerherrnstellung zurückgehalten, für Merck wollte sich trotz der Neigung des Herzogs zu dem kaustischen Mann keine passende Situation ergeben. So blieb Goethe auf die nähern Beziehungen zu Herder, Wieland, Knebel, auf entferntere zu Bertuch, Musäus, Einsiedel, Seckendorff u. a. eingeschränkt.
Mit den Professoren der Universität Jena [* 8] begann sich ein Verhältnis herzustellen, als Goethe sich mit Eifer, auch hierin mit dem Herzog Eines Sinnes, auf naturwissenschaftliche Studien warf. Seine Sorgfalt für den Ilmenauer Bergbau [* 9] führte ihn zunächst zu mineralogischen und geologischen Studien, denen sich in weiterer Folge botanische, anatomische, osteologische und (mit besonderer Leidenschaft betrieben) Studien zur Farbenlehre anschlossen. Auch durch diese ward die ohnehin karge Zahl der Stunden, welche der poetischen Produktion gewidmet werden konnten, noch vermindert.
In der ersten weimarischen Periode von 1776 bis 1780 schien es anfangs, als solle der Dichter nur zu den kleinen Gelegenheitsspielen Muße und Kraft [* 10] gewinnen, die für den unmittelbaren poetischen Bedarf des Tags gebraucht wurden. Standen einzelne derselben, wie das reizende Genredrama »Die Geschwister« (1776),
höher, und bewährten auch die leichten Sing- und Scherzspiele: »Lila« (1777),
»Der Triumph der Empfindsamkeit« (1778) die alte Phantasiefülle des Dichters, so konnte er selbst sich davon nicht befriedigt fühlen. An die von Frankfurt [* 11] unvollendet mitgebrachten großen Anfänge (»Egmont«, »Faust«, »Der ewige Jude«) wagte er nicht Hand [* 12] anzulegen. Dafür begann er 1778 den Roman »Wilhelm Meister« und schuf 1779 in einer ersten (Prosa-) Bearbeitung das Schauspiel »Iphigenia auf Tauris«, welches auf einem besondern Theater in [* 13] Ettersburg aufgeführt wurde, wobei Goethe den Orest, Prinz Konstantin den Pylades, Corona Schröter die Iphigenia, Knebel den König Thoas spielte. »Iphigenia« war das erste größere Zeichen der innern Wandlung, die in Goethes Dichtung eintritt.
Am Ende des Jahrs 1779 unternahm Goethe mit dem Herzog, der ihn kurz zuvor zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt hatte, eine Reise nach der Schweiz, [* 14] welche gute Vorsätze zeitigte und kräftigte. Auf derselben sah Goethe sein Vaterhaus, in Sesenheim Friederike Brion, in Straßburg Lili als Frau v. Türckheim wieder. Nach seiner Rückkehr sollte in allem Betracht ein neues Leben begonnen werden. Auch die Produktion nahm einen neuen Aufschwung. Neben den Operetten und Singspielen: »Jery und Bätely«, »Die Fischerin«, »Scherz, List und Rache« (sämtlich wiederum für Aufführungen in den Lustschlössern des weimarischen Hofs bestimmt) arbeitete Goethe fortgesetzt am »Wilhelm Meister«, begann, aus seiner eigensten Situation und Stimmung herausdichtend, das Drama »Torquato Tasso«, die Tragödie »Elpenor« und das epische Gedicht »Die Geheimnisse«, welche beiden letztern Fragmente blieben. Je länger, je mehr stellte sich die Unmöglichkeit heraus, ohne eine Entlastung von den Geschäften und eine völlige Einkehr bei sich selbst einer Reihe größerer poetischer Pläne gerecht zu werden.
Der Schaffensdrang Goethes ruhte nicht; aus dem Mißverhältnis der Ansprüche, die er an sich selbst und welche die Welt an ihn stellte, erwuchs ihm manches Schmerzliche. Gleichwohl würde weder der Wunsch, seine angefangenen größern Werke zu beenden, noch die in den Jahren zwischen 1780 und 1786 allerdings ständig wachsende Sehnsucht Goethes, Italien [* 15] zu sehen und seine Jugendsehnsucht zu befriedigen, den Dichter zum raschen Abbruch all seiner heimischen Beziehungen und zum Entschluß einer fluchtähnlichen Reise nach Rom [* 16] bewogen haben. Es traten andre Momente hinzu. Herzog Karl August gewann die Ruhe zum patriarchalischen Fürsten seines kleinen Landes, die ihm Goethe gern anerzogen hätte, zunächst noch nicht und suchte Befriedigung für den Drang seiner Natur in größern ¶
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politischen und militärischen Verbindungen. Er warb und arbeitete für den deutschen Fürstenbund, den letzten politischen Plan Friedrichs II., und trat 1786 als Kommandeur eines Kürassierregiments, das in Aschersleben [* 18] garnisonierte, in das preußische Heer ein. Goethe mißbilligte diesen Entschluß des Herzogs durchaus und sah einen Teil seiner zehnjährigen Lebensarbeit als umsonst gethan an. Dazu beglückte ihn die Beziehung zu Charlotte v. Stein nicht mehr in der Weise der ersten Jahre; mancherlei Mißverhältnisse (auch der Altersunterschied und die wachsende eifersüchtige Ausschließlichkeit der Frau v. Stein) legten ihm den Wunsch nahe, auch dieses Verhältnis der Prüfung einer Trennung und Entfernung zu unterwerfen.
Schon 1785 hatte Goethe Karlsbad besucht, im Juli 1786 begab er sich wieder dahin. Kurze Zeit zuvor hatte er mit dem Verleger Göschen in Leipzig [* 19] einen Vertrag über die Herausgabe seiner »Sämtlichen Schriften« geschlossen, deren erste Bände die früher erschienenen (von Himburg in Berlin [* 20] u. a. schon zuvor in unrechtmäßigen Ausgaben zusammen gedruckten) Werke neu enthalten sollten, während Goethe die letzten Bände mit den wenigen vollendeten Arbeiten und zahlreichen Fragmenten seiner weimarischen Jahre zu füllen gedachte. Da inzwischen der Gedanke wuchs, sich aller Schwüle und allem Zwiespalt der Verhältnisse durch eine längere Reise zu entziehen, von der Ferne aus die Zukunft in Weimar zu ordnen und auf alle Fälle ein neues Leben zu beginnen, so zeigte sich auch die Möglichkeit, die angefangenen Arbeiten zu vollenden.
Goethe in Italien und die Rückkehr.
Am brach Goethe von Karlsbad auf und ging »in die Berge«. Dies hatte er öfters (gleich im Winter 1777 bei Gelegenheit seiner ersten Harzreise) gethan, und einige Wochen hindurch durfte er vor Nachforschung und Neugier sicher sein. Er reiste unter dem Namen eines Kaufmanns Möller aus Leipzig, ging rasch über Regensburg, [* 21] München, [* 22] Innsbruck [* 23] und den Brenner, über den Gardasee und Verona [* 24] nach Venedig. [* 25] In Weimar war nur seinem vertrauten Diener und Sekretär [* 26] Philipp Seidel sein Reiseziel bekannt.
Die ersten Briefe, welche Goethe nach Hause richtete, waren undatiert. Erst von Rom aus gab er den Nächststehenden Nachricht über seine eigentlichen Entschlüsse und die Absicht, längere Zeit in Italien zu bleiben. Er war mit einem Gefühl gereist, als ob ihm die Erfüllung seines Traums noch jetzt abgeschnitten werden könne; erst unter der Porta del Popolo war er gewiß, Rom zu haben. Doch hatte er schon unterwegs an der Umarbeitung der »Iphigenia« begonnen; in Rom, wo er zunächst bis zum Februar verweilte, wurde sie vollendet.
Von weitern dichterischen Arbeiten hielt ihn die Ausübung der bildenden Kunst, nicht das Anschauen der gewaltigen Kunstwerke, das nur belebend auf den dichterischen Sinn wirken konnte, vielfach zurück. Mit einer Art leidenschaftlicher Hartnäckigkeit warf sich Goethe auf Zeichnen, Modellieren und Malen, um sich am Ende doch zu überzeugen, daß für ihn wohl die Schärfung des Blickes, die Erweiterung seiner Kunstkenntnisse, aber keineswegs eine produktive Thätigkeit als bildender Künstler möglich sei. Im März 1787 verweilte der Dichter in Neapel, [* 27] ging dann nach Sizilien [* 28] hinüber, das er mit schwelgendem Entzücken sah, nahm einen zweiten Aufenthalt in Neapel, wo er sein Inkognito nicht zu behaupten vermochte, und kehrte gegen die Mitte des Jahrs 1787 nach Rom zurück, entschlossen, in diesem Jahr den deutschen Boden nicht wieder zu betreten, sollte es ihn selbst seine weimarische Stellung kosten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Goethe damals die Möglichkeit ins Auge [* 29] zu fassen hatte, fernerhin als Privatmann, sei es in Italien, sei es im heimischen Frankfurt, weiterzuleben.
Inzwischen räumte Karl Augusts Großherzigkeit und wahre Freundschaft alles aus dem Weg, was der Rückkehr Goethes entgegenstehen konnte. Dem bestimmt ausgesprochenen Vorsatz desselben, fernerhin nur als Künstler, als Schriftsteller zu leben, begegnete er mit der Entbindung von der Mehrzahl seiner amtlichen Pflichten, von denen Goethe von nun an nur diejenigen beibehielt, welche mit seinen eigensten Bestrebungen harmonierten: die Oberaufsicht über die Anstalten und Sammlungen für Kunst und Wissenschaft, die freie Zeichenschule etc., zu denen dann 1792 noch die Intendanz des neuerrichteten Hoftheaters kam.
Somit über seine Zukunft in Deutschland [* 30] beruhigt, gab sich Goethe während des Herbstes und des Winters von 1787/88 seinen Genüssen und Studien mit freierer Seele hin, vollendete im August die Tragödie »Egmont«, überarbeitete metrisch seine kleinern Singspiele und dachte an die Vollendung des »Tasso«, welcher freilich eine völlige Umschmelzung des Werkes vorangehen mußte. Seinen Umgang bildeten einige Künstler (Tischbein, Heinrich Meyer),
der Schriftsteller K. Ph. Moritz u. a.; namentlich aber verkehrte er im Haus der Malerin Angelika Kauffmann. Hier scheint sich auch die Neigung entsponnen zu haben, welche ihn während des zweiten römischen Winters »mehr als billig« in Anspruch nahm: die Leidenschaft für eine schöne Mailänderin, die wohl tiefer gehend und ihn mehr bewegend war, als die spärlichen Blätter, welche ihr in der »Italienischen Reise« gewidmet sind, verraten. Umsonst hatte der Dichter den Rat des Herzogs befolgt, sich durch flüchtige Liebesabenteuer von allen Schmerzen der Leidenschaft freizuhalten.
Die Mailänderin, die Goethes Empfindung herzlich erwiderte, brachte ihm (sie war verlobt) hier an der Schwelle seines 40. Jahrs die Wetzlarer Jugendleiden noch einmal. Wie damals, fand auch diesmal Kraft zur Entsagung; aber das ohnehin schmerzliche Scheiden aus Rom ward ihm durch dies Erlebnis wesentlich erschwert. Ende April 1788 rüstete er sich zur Heimfahrt, nachdem er zuvor noch einmal den römischen Karneval mit gefeiert und die Osterwoche mit ihren kirchlichen Festen in den Kreis [* 31] seiner Anschauungen aufgenommen hatte. Über Florenz, [* 32] in dessen Prachtgärten er sein Tasso-Manuskript zu fördern suchte, und Mailand [* 33] ging er nach Deutschland zurück. »Der schmerzliche Zug einer leidenschaftlichen Seele, die unwiderstehlich zu einer unwiderruflichen Verbannung hingerufen ward«, geht allerdings durch die Tassodichtung hindurch.
»Ich darf wohl sagen, ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden. Aber als was? - Als Künstler... Ich werde Ihnen noch mehr werden, als ich oft bisher war, wenn Sie mich nur das thun lassen, was niemand als ich thun kann, und das andre andern übertragen.« Im Sinn dieses Briefs hatte der Herzog Goethes Stellung gestaltet und kam dem Heimkehrenden mit alter Herzlichkeit entgegen. Der holländische Feldzug der preußischen Armee, an dem er inzwischen teilgenommen, und mancherlei Erfahrungen hatten auch Karl August Goethes Standpunkte wieder nähergerückt. Gleichwohl fühlte sich der Heimgekehrte nicht heimisch. Die engen Weimarer Zustände wollten zu seinen römischen Erinnerungen nirgends passen. Das Schicksal führte ihm, der schon geneigt war, sich der deutschen Gesellschaft, ihren Vorurteilen entgegenzustellen, der ¶