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Wetzlar und Frankfurt.
Ins väterliche Haus nach Frankfurt zurückgekehrt, wurde der junge Doktor, an dessen litterarischen Plänen und Arbeiten der alte Rat Goethe lebhaften, ja leidenschaftlichen Anteil zu nehmen begann, diesmal weit besser aufgenommen als bei der Heimkehr von Leipzig. [* 2] Mit einer gewissen Vielgeschäftigkeit und mancherlei Zerstreuungen suchte Goethe den Schmerz, den er über die Lage der verlassenen Friederike empfand, zu übertäuben;
aber fort und fort quälte ihn »die Reue, daß er das edelste Herz verwundet, ohne ihm Heilung geben zu können«. Am beantragte er seine Zulassung zur Advokatur;
im Oktober begann er jene erste Bearbeitung des »Gottfried von Berlichingen mit der eisernen Hand«, [* 3] die erhalten blieb und ein halbes Jahrhundert später gedruckt ward;
er selbst bezeichnete sie in einem Briefe vom Dezember 1771 als »ein Skizzo, das zwar mit dem Pinsel auf Leinwand geworfen, an einigen Orten sogar einigermaßen ausgemalt und doch weiter nichts als Skizzo ist«.
Ein frisches Aufleben für ihn begann, als er sich im Mai 1772 nach dem Plan des Vaters nach Wetzlar [* 4] begab und als Praktikant beim Reichskammergericht eintrat. Das altehrwürdige, aber gänzlich verwahrloste und verrottete Gericht unterlag damals der von Kaiser Joseph II. angeregten Visitation und Revision; ein ziemlich lebhafter Verkehr gebildeter junger Männer fand sich in dem kleinen Reichsstädtchen, und Goethe stand mit seinen litterarischen und poetischen Plänen und Neigungen keineswegs allein. F. W. Gotter, v. Goué, der Hannoveraner Kestner wurden ihm befreundet. In Frankfurt [* 5] hatte sein Freund J. G. ^[Johann Georg] Schlosser inzwischen die »Frankfurter gelehrten Anzeigen« begründet, an denen Goethe mit arbeitete, und die ihn in nähere Beziehungen zu litterarischen Kreisen in Gießen [* 6] und Darmstadt, [* 7] namentlich zu dem wunderlichen, scharf kritischen, in seiner Weise bedeutenden Merck, brachten.
Ernste Gefahr ging für ihn aus einer neu aufflammenden Liebesleidenschaft für Lotte Buff, die Tochter des Deutschamtmanns zu Wetzlar, hervor. Ehe er wußte, daß sie die Verlobte Kestners sei, hatte sich seine Neigung für das anmutige, in Werthers Lotte getreu porträtierte Mädchen derart gesteigert, daß er sich nicht mehr rasch loszureißen vermochte, sondern einen verzweifelten Kampf zwischen Leidenschaft und Pflicht zu bestehen hatte. Schließlich ward Goethe, dem zum ersten- und letztenmal im Leben hier Selbstmordgedanken ernstlich nahetraten, durch Mercks Rat und einen eignen momentanen Entschluß zur Rückkehr nach Frankfurt bestimmt. Der Briefwechsel mit Kestner und seiner Braut erging sich in so leidenschaftlichen Tönen, daß eine gute Anzahl der Briefe geradezu in den Wertherroman herübergenommen werden konnte.
Goethe ließ sich nunmehr dauernd in der Vaterstadt nieder. Die Advokatur ward ernsthafter betrieben und mit Hilfe des Vaters, welcher sich der lange ersehnten Gelegenheit zur Bethätigung seiner juristischen Kenntnisse freute, und eines geschickten Kanzlisten mit allen Ehren, ja, wie einige neuerdings publizierte Rechtsschriften Goethes zeigen, im steifsten Formalstil der Zeit durchgeführt. Inzwischen aber hatte sich Goethes Leben in Frankfurt sehr heiter und anmutig gestaltet, die Erinnerung an Wetzlar und die aussichtslose Liebe für Lotte warfen nur vorübergehende Schatten [* 8] in diese Tage.
Aus heiterer Geselligkeit, in welcher eine Reihe poetischer Pläne gefaßt und innerlich ausgestaltet wurde, warf sich dann in die ernste poetische Arbeit und wagte die ersten Schritte in die Öffentlichkeit. Abgesehen von der kleinen enthusiastischen Schrift »Von deutscher Baukunst [* 9] D. M. Erwini a Steinbach« (1772),
von den Heften: »Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***« und »Zwo wichtige, bisher unerörterte biblische Fragen« (o. O. 1773),
vollendete er in den ersten Monaten von 1773 die zweite Bearbeitung des »Götz von Berlichingen« (o. O. 1773; 2. Aufl., Frankf. a. M. 1774), welche im Juni gedruckt erschien. Schon in dem Unterschied der zweiten genialen Bearbeitung von der ersten tritt die spezifische Künstlernatur Goethes zu Tage, die ihn selbst in seiner Sturm- und Drangperiode lebensvolle Einzelheiten dem Interesse des Ganzen opfern ließ. »Götz« war der bedeutendste und von der ganzen Wärme [* 10] und Frische einer selbständigen jugendlichen Dichterkraft erfüllte Versuch, ein deutsches Drama nach dem Muster der Shakespeareschen Historien zu gewinnen.
Der Griff in die Geschichte einer wogenden, gärenden Zeit, die Darstellung eines Charakters, der mit allen Umgebungen und Verhältnissen kraft seiner Naturanlage auf redliche Selbsthilfe gestellt ist, der Reichtum des poetischen Details, das Kolorit mußten gleichmäßig Aufsehen erregen und Bewunderung wecken. Goethe, der im Verein mit Merck das Werk im Selbstverlag hatte erscheinen lassen und von den eifrigen Nachdruckern um etwanige äußere Vorteile betrogen ward, war in einiger Verlegenheit, wie er das Papier bezahlen sollte, auf dem er die Welt mit seinem Ruhm bekannt gemacht.
Die jugendlichen Stürmer und Dränger in der Litteratur aber fühlten, daß sie einen Vorkämpfer, ja ein Haupt erhalten hatten; »Götz« trat in den Mittelpunkt des litterarischen Tagesinteresses und rief überdies eine Flut von Ritterschauspielen und Ritterromanen aller Art hervor. Goethe selbst dachte zwar eine Folge von Momenten der deutschen Geschichte in ähnlicher Weise poetisch zu gestalten, ward jedoch durch den Drang seines Innern auf ganz andre Wege geführt. Um sich nach der Heirat Lottes mit Kestner von der Qual einer Erinnerungen und der immer noch nachwirkenden Leidenschaft zu befreien, um die Elemente der Selbstzerstörung, welche während der Sturm- und Drangperiode sich in der Brust beinahe jedes Jünglings regten, gleichsam aus sich herauszuwerfen, begann der Dichter den Roman »Die Leiden [* 11] des jungen Werther« (Leipz. 1774), welchen er in kürzester Frist vollendete.
Das Werk gab der herrschenden Stimmung der Zeit und der Jugend, dem gesunden wie dem krankhaften Drang derselben, den vollendetsten Ausdruck. Den Konflikt des Herzens und der Leidenschaft, der subjektiven Empfindung mit den herrschenden Gesellschaftszuständen und der realen Welt überhaupt meisterhaft darstellend, war der »Werther« nur nach einer Richtung hin krankhaft sentimental, nach der andern voll tiefster, echtester und unmittelbarster Poesie. Die Stimmungsfülle, die Wärme und Natur des Details und die leuchtende Schönheit des Stils übertrafen alles, was die deutsche Litteratur seither von Ansätzen poetischer Prosa besessen hatte.
Die Aufnahme und der Triumph des Romans waren seinem Verdienst entsprechend. Auf gewisse Schichten der Gesellschaft wirkten die Sentimentalität, die Gewalt der rührenden Momente bis zum Verkehrten; Selbstmord und hypochondrische Zerstörung des Daseins wurden durch die Lektüre des »Werther« und seiner zahllosen Nachahmungen vielfach veranlaßt. Anderseits begriffen die Einsichtigen, welch eine Dichterkraft in Goethe erschienen sei, und standen gegen die Angriffe der alten nüchternen rationalistischen Schule, welche in Nicolais abgeschmackten »Freuden des ¶
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jungen Werther« gipfelten, und trotz des mannigfach bedenklichen Enthusiasmus der Masse zu ihm. Die Diskussionen über »Werthers Leiden«, die Nachahmungen des Romans wie die Verbreitung desselben durch Auflagen, Nachdrucke und Übersetzungen in viele Sprachen gingen im nächsten Jahrzehnt ihren Weg, während Goethes Sinn und Produktionskraft längst bei andern Dingen war. Die Berühmtheit, welche mit dem Erfolg des »Werther« gestiegen war, führte willkommene und unwillkommene Gäste aller Art ins Goethesche Haus, und »Frau Aja«, wie sie in der Terminologie jener Tage hieß, des Dichters wackere und originelle Mutter, hatte genug mit der Bewirtung der wechselnden Gäste aller Art zu thun.
Goethes Advokatur
geschäfte nahmen inzwischen keinen sonderlichen Aufschwung. Mannigfaltige Beschäftigungen,
dazwischen kleine Reisen, zogen ihn ab. Die Unruhe des Lebens wie die wechselnde Produktionslust ließen ihn ebensowenig ernstlich
an die Zukunft denken. Dabei mochte er bereits den Gedanken hegen, daß ebendiese Zukunft nicht an Frankfurt a. M. gebunden
sein werde. Seine Art zu dichten hatte damals etwas Improvisatorisches, was nicht ausschloß, daß er
große Intentionen und Gestalten tief in sich hegte.
Einstweilen ward Leuchsenring im »Pater Brey«, Basedow in »Satyros oder der vergötterte Waldteufel«, Bahrdt im »Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes« verspottet. Der Triumph, den Wieland mit seiner »Alceste« gefeiert, ward Anlaß zu der von dem angegriffenen Dichter selbst ohne Groll aufgenommenen Farce »Götter, Helden und Wieland« (Frühjahr 1774). Nicolai empfing gebührende Züchtigung für seine platte Verhöhnung des »Werther«; auch das »Jahrmarktsfest von Plundersweilern«, »Künstlers Erdenwallen« fallen in jene Zeit. In Stunden höherer Weihe wurden die Anfänge des »Faust« weitergeführt und die Pläne zu den nur in Andeutungen erhaltenen Tragödien: »Mahomet« u. »Prometheus« entworfen.
Die erste größere nach dem »Werther« zur Vollendung gebrachte Arbeit war der »Clavigo« (Leipz. 1774). Er verdankt seine Entstehung einem geselligen Zweck. In ihm wollte der Dichter, »der Bösewichter müde, die aus Rache, Haß oder kleinlichen Absichten sich einer edlen Natur entgegensetzen und sie zu Grunde richten, in Karlos den reinen Weltverstand mit wahrer Freundschaft gegen Leidenschaft, Neigung und äußere Bedrängnisse wirken lassen, um auch einmal auf diese Weise eine Tragödie zu motivieren«. Der Konflikt des Gefühls mit dem Talent und Charakter ist die Grundidee dieses Dramas, das, in formeller Hinsicht der von Lessing geschaffenen bürgerlichen Tragödie verwandt, den »Götz« weit hinter sich läßt, dagegen, mit den frühern Hauptwerken zusammengehalten, ein Abfall von deren sprudelnder Kraft [* 13] und Geistesfülle scheinen konnte.
Von den Beziehungen zu auswärtigen Litteraturkreisen wird der Verkehr im Haus Friedrich Heinrich Jacobis besonders wichtig. Als Goethe denselben in Düsseldorf [* 14] aufsuchte, lernte er auch Heinse kennen ( Goethe war bei uns«, schreibt dieser, »ein schöner Junge, der vom Wirbel bis zur Zehe Genie und Feuer ist«) und trat in Frankfurt in ein freundschaftliches Verhältnis zu Johanna Fahlmer, einer Verwandten Jacobis, der er sein ganzes Vertrauen schenkte. In jener Zeit war es auch, wo Goethes Eltern Klopstock auf seiner Reise nach Karlsruhe [* 15] in ihrem Haus bewirteten und Goethe den Messiassänger mit einigen Bruchstücken und dem Plan der Faustdichtung bekannt machte, ein Symbol der ungeheuern Bahn, welche die deutsche Dichtung in wenig mehr als 30 Jahren durchlaufen hatte.
Goethes Lyrik wuchs während all dieser Erlebnisse, Schöpfungen und Schaffenspläne unmittelbar aus der Bewegung seines Daseins und dem Drang seines Herzens. Lottes »Schattenriß« mochte noch in demselben zu finden sein, aber nur als Schatten. Mancherlei weibliche Annäherungen und Freundschaften (unter andern mit Maximiliane Brentano, gebornen La Roche) erhielten den Dichter in der hangenden, bangenden Stimmung des Liebesbedürfnisses und Liebessehnens; eine volle Leidenschaft schlug erst wieder in Flammen empor, als er im Winter 1774/75 Elisabeth (Lili) Schönemann, die Tochter eines Frankfurter Bankiers, kennen lernte.
Eine reizende, bestrickend liebenswürdige Blondine voll überquellender Lebenslust und poetischen Naturells, zog sie an sich und in ihre Lebenskreise, obschon er den Widerstreit der beiderseitigen Gewöhnungen und Zustände vom ersten Augenblick seiner Liebe an empfand. Aber unwiderstehlich hingerissen und durch Lilis Gegenliebe im Tiefsten beglückt, gewann er den Mut zu einer förmlichen Verlobung, nach welcher freilich die Frage entstand, wie das gemeinsame Leben zu begründen sei.
In der Unsicherheit hierüber, von wechselnden Vorstellungen und Einflüssen bestimmt (unter denen der seiner inzwischen an Schlosser in Emmendingen verheirateten Schwester Cornelia besonders verhängnisvoll gewesen zu sein scheint), geriet Goethe während des Sommers 1775 in einen peinlichen Zustand der Erregung und Hoffnungslosigkeit. Lili wäre offenbar die Natur gewesen, unter allen Verhältnissen treu zu dem Verlobten zu stehen; Goethe aber litt unter den Hindernissen, die sich der Verbindung entgegenstellten, überließ sich einer offenbar schon jetzt in ihm vorhandenen Ehescheu und vermochte doch anderseits sich nicht von der Geliebten loszureißen. Begegnungen aller Art, goldene Sommertage in Offenbach [* 16] erfüllten ihn mit Seligkeit und Leid zugleich. In dieser Zeit, in der, nach den Briefen an Auguste v. Stolberg [* 17] zu urteilen, ihn noch mancherlei andre Herzensbedrängnisse betrafen, ward die »Stella, ein Schauspiel für Liebende« (Berl. 1776) gedichtet, welche eins der merkwürdigsten und wunderlichsten Produkte der Sturm- und Drangperiode geheißen zu werden verdient.
Die jugendlich-blühende Erscheinung Stellas ist das Abbild Lilis; der Konflikt aber und die der Sage vom Grafen Gleichen nachgedichtete Lösung durch eine Doppelehe ist, wie aus den Nachweisungen von L. Urlichs hervorgeht, mit direktem Hinblick auf den Herzenskonflikt zwischen F. H. Jacobi, seiner Gattin und Johanna Fahlmer geschaffen. Die Lösung seiner verworrenen Zustände, die Goethe weder auf einer Schweizerreise, welche er mit den beiden Grafen Stolberg unternahm, und auf der er den Freundschaftsbund mit Lavater fester knüpfte, noch in der Produktion (er begann im Herbst eifrig am »Egmont« zu dichten) zu finden vermochte, kam von außen her.
Schon hatte der Major v. Knebel Goethes Bekanntschaft mit dem »Erbprinzen« (eigentlich Herzog) Karl August von Weimar [* 18] und dessen Bruder Konstantin vermittelt. Goethe wartete den Prinzen, die durch Frankfurt reisten, auf, empfahl sich dem Erbprinzen durch die Genialität seines Wesens ebenso wie durch die ernste Betrachtung ernster Verhältnisse, die er im Gespräch über Justus Mösers »Patriotische Phantasien« an den Tag legte. Der Verkehr ward lebhafter, und nachdem im September 1775 Karl August die Regierung seines kleinen Landes angetreten und sich mit der Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt vermählt hatte, erfolgte eine förmliche Einladung Goethes an den weimarischen Hof. [* 19] Der ¶