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Auf des letztern eben damals erscheinende poetische Erzählungen war er durch Öser hingewiesen worden, dessen Zeichenunterricht und persönlicher Verkehr für Goethe im höchsten Maß bildend wurden. Auch die Inkognitoreise nach Dresden, [* 2] die er 1767 unternahm, um die Galerie kennen zu lernen, trug zur Durchbildung seines künstlerischen Sinnes viel bei. Entscheidender noch war die Wendung, die er seinen poetischen Neigungen während der Leipziger Studienzeit, wenn schon halb unbewußt, gegeben.
Indem Goethe das eigne Erlebnis und nur dies poetisch gestaltete, entwickelte sich jene höchste dichterische Fähigkeit, unendlich mehr zu erleben als andre, rasch in ihm. »Verlangte ich zu meinen Gedichten«, heißt es in seiner Autobiographie, »eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion, [* 3] so mußte ich in meinen Busen greifen; forderte ich zu poetischer Darstellung eine unmittelbare Anschauung des Gegenstandes, der Begebenheit, so durfte ich nicht aus dem Kreis [* 4] heraustreten, der mich zu berühren, mir ein Interesse einzuflößen geeignet war. Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen.« Begreiflicherweise schlug Goethes Vater diese Fortschritte nicht hoch genug an, um über die mangelhaften juristischen Studien und die erschütterte Gesundheit des Sohns rasch hinwegzukommen. Er drückte den Wunsch aus, daß man sich »mit der Kur expedieren möge«.
Gerade dies erwies sich aber als unmöglich. Während des ganzen folgenden Jahrs (1769) dauerte die Kränklichkeit Goethes fort und führte zu einer tief gehenden Verstimmung zwischen Vater und Sohn. Goethes Existenz ward nur durch den innigen Einklang, in welchem er mit Mutter und Schwester lebte, erträglich gemacht. Teils durch den Einfluß der Mutter, die sich inzwischen mit dem pietistischen, dem Herrnhutertum zuneigenden Fräulein v. Klettenberg befreundet hatte, teils durch den Verkehr mit der letztern selbst ward Goethe für eine kurze Zeit in eine dämmernd-fromme Richtung geführt und beschäftigte sich viel mit dem Studium mystischer und alchimistischer Schriften, dessen Nachklang erst später, namentlich in der Faustdichtung, hervortrat. Im übrigen lebte Goethe noch mehr in den Erinnerungen an Leipzig, [* 5] korrespondierte fleißig mit dem Kreise [* 6] seiner dortigen Freunde und Freundinnen und sehnte sich aus seiner Frankfurter Umgebung hinweg.
Im Frühling 1770 bezog er die Universität Straßburg, [* 7] wo er nach dem Plan seines Vaters die juristischen Studien mit der Doktorpromotion abschließen sollte. Mit Behagen entdeckte er, daß hier zur Bestehung der nötigen Examina nur eine leidliche Repetition alles Erworbenen nötig sei, fand sich mit dem Nötigen rasch ab und wendete sich dafür naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien zu. Anlaß dazu gab ihm eine größtenteils aus Medizinern bestehende Tischgesellschaft, welcher auch Jung-Stilling, der merkwürdige Autodidakt und Pietist, eine Zeitlang angehörte, und in welcher der taktvolle, im ältern Wortsinn feine Aktuar des Pupillenkollegiums, Rat Salzmann, den Vorsitz führte.
Die Empfehlungsbriefe an die »Stillen im Lande«, welche Goethe von Frankfurt [* 8] mitgebracht, gab er zwar ab, zog sich aber im Vollgefühl wieder erstarkter Kraft [* 9] und Gesundheit und in der Erkenntnis, wie wenig sein Wesen zu den Erweckten und Erbauten passe, aus diesem Umgang bald wieder heraus. Dafür schloß er sich mit jugendlichen Genossen zusammen, unter denen neben dem tüchtigen Lerse, dem er im »Götz« später ein Denkmal setzte, sich Meyer von Lindau [* 10] und Reinh. Lenz befanden.
Gemeinsame Abneigung gegen französisches Wesen und französische Bildung, die ihnen in dem halb französischen Straßburg auf Schritt und Tritt begegneten, gemeinsames Gefühl von einer kraftvollen und großen Zukunft der deutschen Litteratur, vor allem gemeinsame Bewunderung führten diese Freunde, die sonst in verschiedenen Lebenskreisen sich bewegten, zusammen. Entscheidende Anregungen für ihre Auffassung der Poesie und Litteratur gab Herder, der, als Reisebegleiter des Prinzen von Holstein-Eutin nach Straßburg gekommen, sich hier einer Augenoperation wegen längere Zeit aufhielt und namentlich zu in ein näheres Verhältnis trat. Er erschloß ihm den Begriff der Volkspoesie, die, von den Kunstregeln unberührt, den dichterischen Grundcharakter der Zeiten und Völker erkennen läßt, öffnete ihm die Augen für die Größe Homers, machte ihn mit den eben damals von Macpherson herausgegebenen Ossianschen Liedern bekannt und lehrte den fröhlich in der Mitte der Dinge Lebenden auf Ursprung und Ausgang derselben achten.
Herder fand in Goethe einen »guten Jungen, nur noch etwas zu leicht und spatzenhaft«; die naive Selbstgefälligkeit und fröhliche Lebenslust des Jünglings beirrten das Urteil des nur fünf Jahre ältern, aber durch schwere Lebenskämpfe und bittere Erfahrungen bereits hindurchgegangenen jungen Mannes. Goethe hatte schon damals eine bedeutende Entwickelungsstufe erreicht: seine Shakespeare-Studien trugen Frucht in dem Plan, den er faßte, Götz von Berlichingens Leben zu dramatisieren;
er begann die ersten Keime zur großen Faustdichtung auszubilden, war von weitgehenden litterarischen Plänen erfüllt und beschäftigte sich in leidenschaftlicher Teilnahme mit deutscher Art und Kunst der Vergangenheit, wozu das Straßburger Münster [* 11] und die Erinnerungen und Denkmäler des Elsaß überhaupt reichen Anlaß boten.
Goethes jugendliche Lyrik aber nahm mächtigen Aufschwung durch das Haupterlebnis des Dichters während seines Straßburger Aufenthalts: die Beziehung zum Pfarrhaus von Sesenheim. Durch einen seiner Freunde in ein Pfarridyll eingeführt, in dem er Goldsmiths »Vicar of Wakefield« lebendig vor sich zu sehen glaubte, ward er alsbald viel mehr als von dem heiter-behaglichen Lebenston des Hauses von den Reizen und der Anmut der jüngern Tochter desselben, Friederike Brion (s. d.), gefesselt.
Ein schwellendes, seliges Glücksgefühl, welches Goethes Lieder aus dieser Zeit durchhaucht, kam über den poetischen Jüngling; die Tage von Sesenheim, in denen er in beglückter Jugendneigung an der Seite Friederikes verweilte, wurden für Goethe diejenigen, die einmal und nicht wieder blühen. Der Zauber der reinsten und natürlichsten Weiblichkeit durchdrang seine Seele ganz und voll, das Vorgefühl von der Kürze und Vergänglichkeit seines Glückes trübte nur die letzten Tage desselben.
Bei der Rückerinnerung an das väterliche Haus, bei Betrachtung aller Verhältnisse und der eignen Lebenspläne sah Goethe keine Möglichkeit, Friederike dauernd zu besitzen. Als im August 1771 der Abschluß der Studien mit einer Disputation über Thesen erreicht und die Würde eines Lizentiaten der Rechte gewonnen war, mußte sich Goethe unter bitterm Herzweh von der Geliebten losreißen. Er empfand die ganze Schwere und die volle Verantwortung dieser Trennung; erst acht Jahre später, als er Friederike und die Ihrigen wiedergesehen (s. unten), kam das volle Gefühl der Versöhnung mit dieser Erinnerung in seine Seele. ¶
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Wetzlar und Frankfurt.
Ins väterliche Haus nach Frankfurt zurückgekehrt, wurde der junge Doktor, an dessen litterarischen Plänen und Arbeiten der alte Rat Goethe lebhaften, ja leidenschaftlichen Anteil zu nehmen begann, diesmal weit besser aufgenommen als bei der Heimkehr von Leipzig. Mit einer gewissen Vielgeschäftigkeit und mancherlei Zerstreuungen suchte Goethe den Schmerz, den er über die Lage der verlassenen Friederike empfand, zu übertäuben;
aber fort und fort quälte ihn »die Reue, daß er das edelste Herz verwundet, ohne ihm Heilung geben zu können«. Am beantragte er seine Zulassung zur Advokatur;
im Oktober begann er jene erste Bearbeitung des »Gottfried von Berlichingen mit der eisernen Hand«, [* 13] die erhalten blieb und ein halbes Jahrhundert später gedruckt ward;
er selbst bezeichnete sie in einem Briefe vom Dezember 1771 als »ein Skizzo, das zwar mit dem Pinsel auf Leinwand geworfen, an einigen Orten sogar einigermaßen ausgemalt und doch weiter nichts als Skizzo ist«.
Ein frisches Aufleben für ihn begann, als er sich im Mai 1772 nach dem Plan des Vaters nach Wetzlar [* 14] begab und als Praktikant beim Reichskammergericht eintrat. Das altehrwürdige, aber gänzlich verwahrloste und verrottete Gericht unterlag damals der von Kaiser Joseph II. angeregten Visitation und Revision; ein ziemlich lebhafter Verkehr gebildeter junger Männer fand sich in dem kleinen Reichsstädtchen, und Goethe stand mit seinen litterarischen und poetischen Plänen und Neigungen keineswegs allein. F. W. Gotter, v. Goué, der Hannoveraner Kestner wurden ihm befreundet. In Frankfurt hatte sein Freund J. G. ^[Johann Georg] Schlosser inzwischen die »Frankfurter gelehrten Anzeigen« begründet, an denen Goethe mit arbeitete, und die ihn in nähere Beziehungen zu litterarischen Kreisen in Gießen [* 15] und Darmstadt, [* 16] namentlich zu dem wunderlichen, scharf kritischen, in seiner Weise bedeutenden Merck, brachten.
Ernste Gefahr ging für ihn aus einer neu aufflammenden Liebesleidenschaft für Lotte Buff, die Tochter des Deutschamtmanns zu Wetzlar, hervor. Ehe er wußte, daß sie die Verlobte Kestners sei, hatte sich seine Neigung für das anmutige, in Werthers Lotte getreu porträtierte Mädchen derart gesteigert, daß er sich nicht mehr rasch loszureißen vermochte, sondern einen verzweifelten Kampf zwischen Leidenschaft und Pflicht zu bestehen hatte. Schließlich ward Goethe, dem zum ersten- und letztenmal im Leben hier Selbstmordgedanken ernstlich nahetraten, durch Mercks Rat und einen eignen momentanen Entschluß zur Rückkehr nach Frankfurt bestimmt. Der Briefwechsel mit Kestner und seiner Braut erging sich in so leidenschaftlichen Tönen, daß eine gute Anzahl der Briefe geradezu in den Wertherroman herübergenommen werden konnte.
Goethe ließ sich nunmehr dauernd in der Vaterstadt nieder. Die Advokatur ward ernsthafter betrieben und mit Hilfe des Vaters, welcher sich der lange ersehnten Gelegenheit zur Bethätigung seiner juristischen Kenntnisse freute, und eines geschickten Kanzlisten mit allen Ehren, ja, wie einige neuerdings publizierte Rechtsschriften Goethes zeigen, im steifsten Formalstil der Zeit durchgeführt. Inzwischen aber hatte sich Goethes Leben in Frankfurt sehr heiter und anmutig gestaltet, die Erinnerung an Wetzlar und die aussichtslose Liebe für Lotte warfen nur vorübergehende Schatten [* 17] in diese Tage.
Aus heiterer Geselligkeit, in welcher eine Reihe poetischer Pläne gefaßt und innerlich ausgestaltet wurde, warf sich dann in die ernste poetische Arbeit und wagte die ersten Schritte in die Öffentlichkeit. Abgesehen von der kleinen enthusiastischen Schrift »Von deutscher Baukunst [* 18] D. M. Erwini a Steinbach« (1772),
von den Heften: »Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***« und »Zwo wichtige, bisher unerörterte biblische Fragen« (o. O. 1773),
vollendete er in den ersten Monaten von 1773 die zweite Bearbeitung des »Götz von Berlichingen« (o. O. 1773; 2. Aufl., Frankf. a. M. 1774), welche im Juni gedruckt erschien. Schon in dem Unterschied der zweiten genialen Bearbeitung von der ersten tritt die spezifische Künstlernatur Goethes zu Tage, die ihn selbst in seiner Sturm- und Drangperiode lebensvolle Einzelheiten dem Interesse des Ganzen opfern ließ. »Götz« war der bedeutendste und von der ganzen Wärme [* 19] und Frische einer selbständigen jugendlichen Dichterkraft erfüllte Versuch, ein deutsches Drama nach dem Muster der Shakespeareschen Historien zu gewinnen.
Der Griff in die Geschichte einer wogenden, gärenden Zeit, die Darstellung eines Charakters, der mit allen Umgebungen und Verhältnissen kraft seiner Naturanlage auf redliche Selbsthilfe gestellt ist, der Reichtum des poetischen Details, das Kolorit mußten gleichmäßig Aufsehen erregen und Bewunderung wecken. Goethe, der im Verein mit Merck das Werk im Selbstverlag hatte erscheinen lassen und von den eifrigen Nachdruckern um etwanige äußere Vorteile betrogen ward, war in einiger Verlegenheit, wie er das Papier bezahlen sollte, auf dem er die Welt mit seinem Ruhm bekannt gemacht.
Die jugendlichen Stürmer und Dränger in der Litteratur aber fühlten, daß sie einen Vorkämpfer, ja ein Haupt erhalten hatten; »Götz« trat in den Mittelpunkt des litterarischen Tagesinteresses und rief überdies eine Flut von Ritterschauspielen und Ritterromanen aller Art hervor. Goethe selbst dachte zwar eine Folge von Momenten der deutschen Geschichte in ähnlicher Weise poetisch zu gestalten, ward jedoch durch den Drang seines Innern auf ganz andre Wege geführt. Um sich nach der Heirat Lottes mit Kestner von der Qual einer Erinnerungen und der immer noch nachwirkenden Leidenschaft zu befreien, um die Elemente der Selbstzerstörung, welche während der Sturm- und Drangperiode sich in der Brust beinahe jedes Jünglings regten, gleichsam aus sich herauszuwerfen, begann der Dichter den Roman »Die Leiden [* 20] des jungen Werther« (Leipz. 1774), welchen er in kürzester Frist vollendete.
Das Werk gab der herrschenden Stimmung der Zeit und der Jugend, dem gesunden wie dem krankhaften Drang derselben, den vollendetsten Ausdruck. Den Konflikt des Herzens und der Leidenschaft, der subjektiven Empfindung mit den herrschenden Gesellschaftszuständen und der realen Welt überhaupt meisterhaft darstellend, war der »Werther« nur nach einer Richtung hin krankhaft sentimental, nach der andern voll tiefster, echtester und unmittelbarster Poesie. Die Stimmungsfülle, die Wärme und Natur des Details und die leuchtende Schönheit des Stils übertrafen alles, was die deutsche Litteratur seither von Ansätzen poetischer Prosa besessen hatte.
Die Aufnahme und der Triumph des Romans waren seinem Verdienst entsprechend. Auf gewisse Schichten der Gesellschaft wirkten die Sentimentalität, die Gewalt der rührenden Momente bis zum Verkehrten; Selbstmord und hypochondrische Zerstörung des Daseins wurden durch die Lektüre des »Werther« und seiner zahllosen Nachahmungen vielfach veranlaßt. Anderseits begriffen die Einsichtigen, welch eine Dichterkraft in Goethe erschienen sei, und standen gegen die Angriffe der alten nüchternen rationalistischen Schule, welche in Nicolais abgeschmackten »Freuden des ¶