mehr
Josephs II. zum römischen König wurde die Entdeckung gemacht, daß einige der Teilnehmer jener fröhlichen Gelage sich bedenklicher Vergehen, ja Verbrechen schuldig gemacht. Goethe, der eben zugleich im großen Eindruck einer bunt bewegten Welt, wie ihn die Vaterstadt in den Krönungstagen bot, und im Glück seiner knabenhaften Leidenschaft geschwelgt hatte, sah sich in eine Privatuntersuchung verwickelt, die zwar ehrenvoll und glücklich genug für ihn endete, ihm aber doch den ersten Bruch mit seiner arglos vertrauenden Naturanlage zurückließ. Über seinen Liebeskummer half ihm das Gefühl verletzten Stolzes rasch hinweg, da das hübsche Gretchen in der vorerwähnten Untersuchung geäußert hatte, sie habe in Goethe nur ein Kind gesehen.
Leipzig. Straßburg.
Goethe nahm nach dieser frühen Katastrophe seines Lebens die Studien, welche ihn zur Universität führen sollten, um so eifriger wieder auf, als ihm Frankfurt [* 2] momentan verleidet war. Goethes Vater, welcher seinen Entschluß, als Privatmann »zwischen seinen Brandmauern ein einsames Leben hinzubringen«, konsequent durchführte, empfand gleichwohl zuzeiten die volle Schwere dieses Entschlusses und war entschlossen, den ganzen Einfluß seiner Verbindungen und seines Wohlstandes aufzubieten, um den Sohn, dessen glänzende Begabung er von früh auf erkannte, einer glücklichern Existenz entgegenzuführen.
In dem zu diesem Endzweck entworfenen Lebensplan stand das Studium der Rechte unerschütterlich fest; auf Goethes Regung und Neigung, sich dem Studium der neu aufstrebenden Altertumswissenschaften zu widmen, ward keine Rücksicht genommen, bei der Wahl einer Hochschule Göttingen, [* 3] für welches Wolfgang eine gewisse Vorliebe verriet, ausgeschlossen und für Leipzig [* 4] entschieden. Sechzehnjährig bezog Goethe im Oktober 1765 die dortige Universität. Sein Quartier nahm er im Haus zur »Feuerkugel« am Neumarkt.
Der erste Eindruck des »kleinen Paris« [* 5] war ein günstiger; die neue Unabhängigkeit und die frohesten Zukunftshoffnungen ließen Goethe den Entschluß fassen, sich selbst hier in Leipzig vom juristischen Studium zum litterarisch-philologischen zu wenden. Daß er diesen mit seinen innersten Neigungen so sehr übereinstimmenden Entschluß auf das bloße Zureden des Hofrats Böhme, eines Juristen der alten Schule, wieder aufgab, ist besonders charakteristisch für die Nachgiebigkeit äußern Umständen und Verhältnissen gegenüber, welche Goethe sein Leben hindurch bewährte, und die sich mit der merkwürdigen Festigkeit, [* 6] ja mit energischem Trotz in der Behauptung seines innern Lebens und dessen, was ihm persönliche Notwendigkeit dünkte, so wundersam paart.
Der junge Student mochte ahnen, daß seine Entwickelung in jedem Sinn von der äußern Wahl des Studiums unabhängig sei. Im übrigen sah es mit seinen Studien bedenklich aus. Seine allgemeine Bildung war, der Dürftigkeit der damaligen Universitätsvorträge gegenüber, zu weit vorgeschritten, nur Gellert vermochte ihn in seinem Praktikum für deutsche Stilistik einige Zeit hindurch zu fesseln; gegen die schulmäßige Logik und Philosophie empfand er eine unüberwindliche Abneigung, und selbst in die Anfänge der Rechtswissenschaft hatte ihn der Vater daheim so weit eingeführt, daß ihm die juristischen Kollegien langweilig und unfruchtbar erschienen.
Inzwischen ward auch die harmlose Freude an seinem poetischen Talent und der unausgesetzten Übung desselben in ähnlicher Weise verleidet wie sein bequemer, bildlicher Ausdrücke voller oberdeutscher Dialekt und seine solide, aber unmodische von Frankfurt mitgebrachte Garderobe. Die Leipziger gute Gesellschaft wußte ihn zwar nicht von der alleinigen Vortrefflichkeit der meißnischen Mundart zu überzeugen; aber sie bewog ihn, seine Kleidung gegen eine modische umzutauschen, und brachte ihm die empfindliche Überzeugung von der Wertlosigkeit seiner seitherigen poetischen Bestrebungen so entschieden bei, daß er »Poesie und Prosa, Pläne, Skizzen und Entwürfe sämtlich zugleich auf dem Küchenherd verbrannte«. Goethe schaffte indessen raschen Ersatz für die verbrannten Gedichte: die Eindrücke und kleinen Erfahrungen des unbekümmerten Studentenlebens, das er führte, wurden in Liedern und kleinen Bildern fixiert.
Namentlich regten ihn sein Freund und Studiengenosse (späterer Schwager) Schlosser und der wunderlich-originelle Behrisch, Hofmeister eines jungen Edelmanns, zu lyrischen Dichtungen an - letzterer, indem er auf Kürze und Bestimmtheit des Ausdrucks drang, mit wohlthätigstem Erfolg. Eine Anzahl dieser ältesten Lieder wurde von dem jüngern Breitkopf, dem musikalisch begabten Sohn des Begründers der berühmten Leipziger Buch- und Musikalienhandlung, in Musik gesetzt und 1770 (als älteste gedruckte Lieder Goethes, wenn auch ohne dessen Namen) veröffentlicht.
Als Nachklang der ersten trüben Lebenserfahrungen in der Vaterstadt, der zeitigen Einsicht, welche bedenklichen Elemente unter der äußerlichen Hülle der bürgerlichen Zustände vorhanden seien, entstand die älteste (einaktige) Komödie Goethes: »Die Mitschuldigen«. Auch sein Leipziger Liebesleben half das poetische Talent reifen. Durch Schlosser ward in das Haus und die Tischgesellschaft des aus Frankfurt stammenden Weinhändlers Schönkopf eingeführt.
Hier gewann die Tochter des Hauses, Käthchen (Annette), das leicht entzündliche Herz des poetischen Studenten. Eine beglückte Jugendliebe (welcher übrigens, wie aus den neuerdings bekannt gewordenen Briefen an Behrisch hervorgeht, viel mehr Leidenschaft, Glut und Pein innewohnten, als die Darstellung in »Wahrheit und Dichtung« erraten ließ) steigerte den Übermut, mit welchem der Glückverwöhnte dahinlebte, zu der bedenklichen Neigung, die Geliebte, welche ihm ehrlich und aufrichtig ergeben war, mit eifersüchtigen Launen derart zu quälen, daß ein Bruch mit ihr eintrat, den Goethe dann umsonst zu heilen bemüht war. Er gewann Käthchens Herz nicht zurück und erwarb sich nur das Recht einer freundschaftlichen Beziehung wieder.
Dieser zweiten Lebens- und Liebeserfahrung entstammte das kleine Schäferspiel »Die Laune des Verliebten«, die einzige Arbeit, welche Goethe abgeschlossen von Leipzig mit hinwegnahm. Im Frühling 1767 hatte er seiner Schwester Cornelia geschrieben: »Da ich ganz ohne Stolz bin, kann ich meiner innerlichen Überzeugung glauben, die mir sagt, daß ich einige Eigenschaften besitze, die zu einem Poeten erfordert werden, und daß ich durch Fleiß einmal einer werden könne. - Man lasse doch mich gehen: habe ich Genie, so werde ich Poete werden, und wenn mich kein Mensch verbessert; habe ich keins, so helfen alle Kritiken nichts.« - Das letzte Semester in Leipzig wurde Goethe durch Krankheit getrübt; ein heftiger Blutsturz ließ ihn tagelang zwischen Leben und Tod schwanken, er genas nur langsam und kümmerlich und verließ Ende August 1768 Leipzig noch als Halbkranker.
Sein Vater mochte von den Resultaten des Leipziger Aufenthalts wenig erbaut sein, für Goethe waren sie gleichwohl groß und bleibend. In Leipzig hatte er ein festeres Verhältnis zur Litteratur jener Tage gewonnen und seine kritiklose Verehrung aller erdenklichen Poeten und Poetaster mit bewußter Bewunderung Lessings, Winckelmanns, Wielands vertauscht. ¶
mehr
Auf des letztern eben damals erscheinende poetische Erzählungen war er durch Öser hingewiesen worden, dessen Zeichenunterricht und persönlicher Verkehr für Goethe im höchsten Maß bildend wurden. Auch die Inkognitoreise nach Dresden, [* 8] die er 1767 unternahm, um die Galerie kennen zu lernen, trug zur Durchbildung seines künstlerischen Sinnes viel bei. Entscheidender noch war die Wendung, die er seinen poetischen Neigungen während der Leipziger Studienzeit, wenn schon halb unbewußt, gegeben.
Indem Goethe das eigne Erlebnis und nur dies poetisch gestaltete, entwickelte sich jene höchste dichterische Fähigkeit, unendlich mehr zu erleben als andre, rasch in ihm. »Verlangte ich zu meinen Gedichten«, heißt es in seiner Autobiographie, »eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion, [* 9] so mußte ich in meinen Busen greifen; forderte ich zu poetischer Darstellung eine unmittelbare Anschauung des Gegenstandes, der Begebenheit, so durfte ich nicht aus dem Kreis [* 10] heraustreten, der mich zu berühren, mir ein Interesse einzuflößen geeignet war. Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen.« Begreiflicherweise schlug Goethes Vater diese Fortschritte nicht hoch genug an, um über die mangelhaften juristischen Studien und die erschütterte Gesundheit des Sohns rasch hinwegzukommen. Er drückte den Wunsch aus, daß man sich »mit der Kur expedieren möge«.
Gerade dies erwies sich aber als unmöglich. Während des ganzen folgenden Jahrs (1769) dauerte die Kränklichkeit Goethes fort und führte zu einer tief gehenden Verstimmung zwischen Vater und Sohn. Goethes Existenz ward nur durch den innigen Einklang, in welchem er mit Mutter und Schwester lebte, erträglich gemacht. Teils durch den Einfluß der Mutter, die sich inzwischen mit dem pietistischen, dem Herrnhutertum zuneigenden Fräulein v. Klettenberg befreundet hatte, teils durch den Verkehr mit der letztern selbst ward Goethe für eine kurze Zeit in eine dämmernd-fromme Richtung geführt und beschäftigte sich viel mit dem Studium mystischer und alchimistischer Schriften, dessen Nachklang erst später, namentlich in der Faustdichtung, hervortrat. Im übrigen lebte Goethe noch mehr in den Erinnerungen an Leipzig, korrespondierte fleißig mit dem Kreise [* 11] seiner dortigen Freunde und Freundinnen und sehnte sich aus seiner Frankfurter Umgebung hinweg.
Im Frühling 1770 bezog er die Universität Straßburg, [* 12] wo er nach dem Plan seines Vaters die juristischen Studien mit der Doktorpromotion abschließen sollte. Mit Behagen entdeckte er, daß hier zur Bestehung der nötigen Examina nur eine leidliche Repetition alles Erworbenen nötig sei, fand sich mit dem Nötigen rasch ab und wendete sich dafür naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien zu. Anlaß dazu gab ihm eine größtenteils aus Medizinern bestehende Tischgesellschaft, welcher auch Jung-Stilling, der merkwürdige Autodidakt und Pietist, eine Zeitlang angehörte, und in welcher der taktvolle, im ältern Wortsinn feine Aktuar des Pupillenkollegiums, Rat Salzmann, den Vorsitz führte.
Die Empfehlungsbriefe an die »Stillen im Lande«, welche Goethe von Frankfurt mitgebracht, gab er zwar ab, zog sich aber im Vollgefühl wieder erstarkter Kraft [* 13] und Gesundheit und in der Erkenntnis, wie wenig sein Wesen zu den Erweckten und Erbauten passe, aus diesem Umgang bald wieder heraus. Dafür schloß er sich mit jugendlichen Genossen zusammen, unter denen neben dem tüchtigen Lerse, dem er im »Götz« später ein Denkmal setzte, sich Meyer von Lindau [* 14] und Reinh. Lenz befanden.
Gemeinsame Abneigung gegen französisches Wesen und französische Bildung, die ihnen in dem halb französischen Straßburg auf Schritt und Tritt begegneten, gemeinsames Gefühl von einer kraftvollen und großen Zukunft der deutschen Litteratur, vor allem gemeinsame Bewunderung führten diese Freunde, die sonst in verschiedenen Lebenskreisen sich bewegten, zusammen. Entscheidende Anregungen für ihre Auffassung der Poesie und Litteratur gab Herder, der, als Reisebegleiter des Prinzen von Holstein-Eutin nach Straßburg gekommen, sich hier einer Augenoperation wegen längere Zeit aufhielt und namentlich zu in ein näheres Verhältnis trat. Er erschloß ihm den Begriff der Volkspoesie, die, von den Kunstregeln unberührt, den dichterischen Grundcharakter der Zeiten und Völker erkennen läßt, öffnete ihm die Augen für die Größe Homers, machte ihn mit den eben damals von Macpherson herausgegebenen Ossianschen Liedern bekannt und lehrte den fröhlich in der Mitte der Dinge Lebenden auf Ursprung und Ausgang derselben achten.
Herder fand in Goethe einen »guten Jungen, nur noch etwas zu leicht und spatzenhaft«; die naive Selbstgefälligkeit und fröhliche Lebenslust des Jünglings beirrten das Urteil des nur fünf Jahre ältern, aber durch schwere Lebenskämpfe und bittere Erfahrungen bereits hindurchgegangenen jungen Mannes. Goethe hatte schon damals eine bedeutende Entwickelungsstufe erreicht: seine Shakespeare-Studien trugen Frucht in dem Plan, den er faßte, Götz von Berlichingens Leben zu dramatisieren;
er begann die ersten Keime zur großen Faustdichtung auszubilden, war von weitgehenden litterarischen Plänen erfüllt und beschäftigte sich in leidenschaftlicher Teilnahme mit deutscher Art und Kunst der Vergangenheit, wozu das Straßburger Münster [* 15] und die Erinnerungen und Denkmäler des Elsaß überhaupt reichen Anlaß boten.
Goethes jugendliche Lyrik aber nahm mächtigen Aufschwung durch das Haupterlebnis des Dichters während seines Straßburger Aufenthalts: die Beziehung zum Pfarrhaus von Sesenheim. Durch einen seiner Freunde in ein Pfarridyll eingeführt, in dem er Goldsmiths »Vicar of Wakefield« lebendig vor sich zu sehen glaubte, ward er alsbald viel mehr als von dem heiter-behaglichen Lebenston des Hauses von den Reizen und der Anmut der jüngern Tochter desselben, Friederike Brion (s. d.), gefesselt.
Ein schwellendes, seliges Glücksgefühl, welches Goethes Lieder aus dieser Zeit durchhaucht, kam über den poetischen Jüngling; die Tage von Sesenheim, in denen er in beglückter Jugendneigung an der Seite Friederikes verweilte, wurden für Goethe diejenigen, die einmal und nicht wieder blühen. Der Zauber der reinsten und natürlichsten Weiblichkeit durchdrang seine Seele ganz und voll, das Vorgefühl von der Kürze und Vergänglichkeit seines Glückes trübte nur die letzten Tage desselben.
Bei der Rückerinnerung an das väterliche Haus, bei Betrachtung aller Verhältnisse und der eignen Lebenspläne sah Goethe keine Möglichkeit, Friederike dauernd zu besitzen. Als im August 1771 der Abschluß der Studien mit einer Disputation über Thesen erreicht und die Würde eines Lizentiaten der Rechte gewonnen war, mußte sich Goethe unter bitterm Herzweh von der Geliebten losreißen. Er empfand die ganze Schwere und die volle Verantwortung dieser Trennung; erst acht Jahre später, als er Friederike und die Ihrigen wiedergesehen (s. unten), kam das volle Gefühl der Versöhnung mit dieser Erinnerung in seine Seele. ¶