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wenig wertvolles Gut ließ keine weiten Versendungen zu. Ebensowenig verfügte man über die technischen und ökonomischen Mittel, um durch Aufspeicherung größerer Mengen eine zeitliche Ausgleichung der Jahresernten zu sichern. Endlich wurde der Getreidehandel wegen seiner Schwierigkeit und Gefährlichkeit lange Zeit nur von kühnen Spekulanten und oft mit unlautern Mitteln betrieben, was im Zusammenhang mit einem ohnedies schon herrschenden Vorurteil dahin führte, ihn als unrechtmäßig anzusehen, jeden Kornhändler als Kornwucherer zu brandmarken, dadurch die soliden Elemente abzuschrecken und die Hilfe des Staats gegen den Kornwucher und für eine regelmäßige Brotversorgung anzurufen.
Die Maßregeln, welche von diesen Gesichtspunkten geleitet werden, lassen sich bis in die neueste Zeit verfolgen. Dahin gehören:
1) Anlegung von Getreidemagazinen (Granarien) durch den Staat oder unter seiner Kontrolle von seiten der Gemeinden oder Dominien;
diese Magazine mußten bei der Ernte [* 2] gefüllt und mit einem gewissen Vorrat erhalten werden;
ihrer Einrichtung begegnet man schon bei den Griechen, wo die Staatskornpolizei am meisten entwickelt war;
bei den Römern, bei denen fast jede Stadt ihr öffentliches Getreidemagazin (horreum) hatte;
im deutschen und italienischen Mittelalter (die cura annonae, als ein auf Naturalabgaben basiertes System des staatlichen Getreidehandels in Verbindung mit Speichern) und endlich in der feudalen und patrimonialen Agrarverfassung der Neuzeit bis in die Mitte unsers Jahrhunderts mit den Regierungsspeichern, Staatskornmagazinen, kontributionspflichtigen Schüttböden etc.
2) Verbot und möglichste Unterdrückung des privaten Kornhandels; auch diese Maßregel beginnt schon in der Solonischen Gesetzgebung, wiederholt sich in der Aufsicht der römischen Magistrate über die Kornhändler und in der Beschränkung des Getreidehandels durch das römische Recht; sie artet im Mittelalter zu einer fanatischen Verfolgung der Kornwucherer und Kornjuden aus und dauert bis in die neue Zeit in der Form polizeilicher Überwachung der Kornhändler, der Beschränkung des Kornhandels auf wenige Orte, Marktreglements in betreff der dazu berechtigten Personen etc. fort.
3) Festsetzung von Getreidepreistaxen, welche ebenfalls im Altertum beginnen, im deutschen Mittelalter und im neuern Polizeistaat ihren Höhepunkt erreichen und überhaupt mit den Satzungen und Marktordnungen gleichen Schritt gehen. Betrafen diese Maßregeln vorzugsweise den innern Kornhandel, so fügte sich daran die ganze Kette von Vorschriften zur Regelung des äußern Kornhandels. Auch diese beginnen bei den Griechen mit dem Verbot der Ausfuhr und verschiedenen Zwangsmitteln der Zufuhr, sie dauern im Mittelalter fort und leiten periodenweise zu einer vollständigen Absperrung nicht nur der Staaten, sondern sogar der Provinzen gegeneinander.
Häufig waren die Ausfuhrprohibitionen mit Einfuhrprämien verbunden und wurden entweder dauernd oder nur bei Mißernten und drohender Hungersnot erlassen oder verschärft. Zwar beginnt mit der physiokratischen Schule in Frankreich eine Bewegung für die Freiheit des Kornhandels, und diese wird zu Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrh. auch schon in Deutschland [* 3] verfochten; doch bedurfte es des großen Umschwunges in Produktion und Verkehr, wie er sich in den letzten 60 Jahren vollzogen hat, um die veraltete Getreidehandelspolitik zu beseitigen.
Großbritannien [* 4] und Frankreich sind in unserm Jahrhundert der klassische Boden geworden, auf welchem sich die heftigsten Kämpfe um die Korngesetze entspannen. In England war die Kornfrage durch die egoistischen Interessen des Grundbesitzes gegenüber der rasch heranwachsenden Großindustrie zum Anlaß einer der bedeutendsten sozialpolitischen Reformbewegungen geworden. Die seit dem 14. Jahrh. bestandenen Prohibitionen wurden später dahin umgewandelt, daß möglichst ein für die Landwirte lohnender Normalpreis erhalten werden sollte, bis dann die Mißernten und die Geschäftskrise der letzten 30er Jahre und die Wirksamkeit der Anti-cornlaw-league dem free trade zum Sieg verhalfen.
Ebenso wurde in Frankreich der Getreidezoll 1861 als Differentialzoll auf ein unschädliches Minimum herabgesetzt und 1867 der Hauptsache nach aufgehoben. Die übrigen europäischen Staaten folgten in den 50er oder 60er Jahren mehr oder weniger rückhaltlos diesem Beispiel. Die Getreidezölle hatten, wo sie beibehalten wurden, nirgends mehr einen prohibitiven Charakter; sie gaben immer mehr die Rücksicht auf den Schutz der Landwirtschaft auf, indem das Interesse der Konsumenten als ausschlaggebend galt, und sie dienten mehr als statistische und Kontrollmaßregeln und wurden in den Handelsverträgen und allgemeinen Tarifen zumeist gänzlich aufgegeben (vgl. Getreidezölle).
3) Die gegenwärtige Organisation des Kornhandels, neueste Phase der Handelspolitik.
Die mannigfachen Maßregeln der frühern Kornhandelspolitik mußten nicht bloß wegen ihrer Irrtümer, sondern insbesondere wegen des Umschwunges, welchen die internationale Wirtschaftsweise bewirkt hat, beseitigt werden. Die Aufgabe, welche sich die Staatsverwaltungen durch die Anlegung von Vorratsmagazinen gestellt hatten, hat heute das freie wirtschaftliche Unternehmen im großartigsten Umfang und viel erfolgreicher übernommen. In jedem wichtigern Produktionsland und in jedem für den Getreidehandel bedeutendern Marktplatz befinden sich Getreidespeicher, Magazine (Silos und Elevatoren), welche durch ihre Leistungsfähigkeit die alten Provianthäuser und Schüttböden unvergleichlich übertreffen (s. Getreideelevatoren).
Die Ansammlung von Vorräten geschieht nach richtiger spekulativer Erwägung; sie trägt zur Ausgleichung der Ernteergebnisse so sehr bei, daß sie allein genügen würde, um die Gefahren der Hungersnot und Teurung zu beseitigen. Die Getreidespeicher (elevators) in Chicago allein haben Deinen Fassungsraum von 9 Mill. hl; ähnliche Einrichtungen in Toledo, [* 5] Milwaukee, St. Louis dienen dem amerikanischen Getreidehandel; ebenso werden in Odessa [* 6] und andern Häfen des Schwarzen Meers, in den Lagerhäusern von Budapest, [* 7] Hamburg, [* 8] Stettin, [* 9] Mannheim, [* 10] Lindau, [* 11] Wien, [* 12] Paris, [* 13] Marseille, [* 14] Dünkirchen [* 15] etc. durch die freie Spekulation solche Vorräte gehalten, welche die regelmäßige Versorgung der Märkte sicherstellen.
Diese Organisation konnte erst durchgeführt werden, nachdem einmal der Handel mit Getreide [* 16] als berechtigte und im Interesse der Gesamtheit wünschenswerte Vermittlerthätigkeit anerkannt worden war. Nur eine umfassende Getreidespekulation kann die Preise zeitlich und örtlich ausgleichen, dieselben werden demnach auch durch den Spekulationsgewinn nicht erhöht. Im Gegensatz zur mittelalterlichen Verpönung begegnen wir daher heute einer zielbewußten Pflege des privaten Getreidehandels von seiten der Staatsverwaltung. Die Einrichtung der großen Getreidebörsen (die älteste in Amsterdam [* 17] 1617, jetzt die größten in London [* 18] [Mark Lane], Paris [Marché au ¶
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blé], Wien [Frucht- und Mehlbörse und internationaler Getreide- und Saatenmarkt], Budapest, Berlin [* 20] [Produktenbörse], Danzig, [* 21] Stettin, Hamburg, Leipzig, [* 22] Zürich, [* 23] Antwerpen, [* 24] New York, Chicago, San Francisco etc.), die Bestellung der Makler und Sensale an denselben und die vollständige Freigebung des Getreidehandels für den Einzelnen bieten die Gewähr, daß durch umfassenden Mitbewerb etwanige Ausschreitungen am besten eingedämmt werden. Man hat deshalb mit Recht von den frühern Preistaxen (s. d.) als unzureichend und schädlich abgesehen.
Freilich konnte der Erfolg dieser Maßregeln erst zur vollen Geltung kommen, als die Verkehrsmittel gestatteten, Getreide aus allen Teilen der Erde rasch und billig zu beziehen, und als die Statistik im Zusammenhang mit dem internationalen Nachrichtendienst es ermöglichte, sich in Umrißziffern stets über die verfügbaren Getreidemengen in den Produktions- und Handelszentren und über den Bedarf in den Konsumtionsgebieten zu unterrichten. Es mußten also der Post- und Telegraphendienst einschließlich der transatlantischen Kabel, die Dampfschiffahrt, das Eisenbahnwesen mit seinen niedrigen Zonentarifen, die amtliche Erntestatistik mit den fortlaufenden Beobachtungen des Saatenstandes, die geschäftlichen Berichte der Börsen und der Getreidehändler zusammentreffen, und es mußte das Prinzip der Freiheit des Kornhandels in der Verwaltung siegreich durchdringen, um zur heutigen, früher unerreichbaren Vollkommenheit der Versorgung der ganzen zivilisierten Menschheit mit Brotfrüchten und Getreide zu gelangen und eine vollständige Ausgleichung zwischen den fruchtbaren Produktionsgebieten im Nordosten und Osten von Europa, [* 25] im Westen von Nordamerika [* 26] und in Ostindien [* 27] einerseits und den dicht bevölkerten Industriestaaten unsers Erdteils anderseits herbeizuführen.
Die Mißernten einzelner Jahre oder Länder werden auf dem Weltmarkt kaum mehr fühlbar. Die Getreidepreise [* 28] sind nicht allein gleichmäßig und stetig, sondern auch so niedrig geworden, wie sie seit einem halben Jahrhundert nicht waren, und der steigenden Tendenz, welche sich in der Zeit von 1650 bis 1860 verfolgen ließ und auf die Kosten des Lebensunterhalts der arbeitenden Klassen gefährlich einzuwirken drohte, ist jetzt eine Zeit mit sinkender Tendenz gefolgt.
Diese Erscheinungen haben leider aber auch nachteilige Einflüsse im Gefolge gehabt, indem sie die Konkurrenzfähigkeit der Bodenwirtschaft in den europäischen Staaten bedrohten. Es trat daher in den letzten Jahren wieder eine mächtige agrarische Strömung hervor, welche den Schutz der ackerbautreibenden Klassen und des Grundbesitzes forderte. Es wurde zwar darauf hingewiesen, daß der Kornzoll, wenn er die beabsichtigte Wirkung habe, eine schwere Auflage für die konsumierende Bevölkerung [* 29] und besonders für die niedern Klassen zu gunsten einer begüterten Minderheit bedeute;
daß die Verschiedenheit der natürlichen Produktionsbedingungen zur Produktionsteilung führe und nicht künstlich unterdrückt werden dürfe;
daß Kornzölle den Landwirt in einer verfehlten Produktionsrichtung bestärkten, statt ihn zum Übergang auf andre, noch rentable Arten der Bodenbenutzung (Futterbau, Viehzucht, [* 30] Industrialpflanzen, Gemüse- und Obstbau etc.) zu lenken;
daß ohnedies in den Transportkosten ein natürlicher Schutz für das inländische Getreide gegeben sei;
daß der Getreidezoll als notwendige und billige Ergänzung noch höhere Industrieschutzzölle zur Folge haben müsse;
daß der Getreidehandel vielfach im Austausch von Cerealien verschiedener Gattung und Qualität (z. B. von Weizen gegen Hafer, [* 31] oder Brauergerste gegen gewöhnliche Futtergerste u. dgl.) bestehe, was durch Zölle gestört und verhindert würde;
endlich daß viele Länder, wie z. B. das Deutsche Reich [* 32] und Frankreich, ihren Bedarf selbst unter dem höchsten Schutz nicht mehr selbst zu decken vermöchten, weshalb der Zoll eine stete Abgabe des Konsumenten an den Bodenproduzenten bedeute, ohne daß der letztere dabei einen wirklichen Vorteil erreichen könne.
Diesen Gründen gegenüber wurde die Krisis in der Landwirtschaft, welche ein Mißverhältnis gegen alle übrigen Erwerbszweige hervorrufe, als zu wichtig erklärt, um auf den Schutz verzichten zu können; es wurde darauf hingewiesen, daß die von der Landwirtschaft lebenden Einwohner in der Mehrzahl der mitteleuropäischen Staaten (Deutschland, Frankreich, Österreich-Ungarn), [* 33] nahezu die Hälfte der Gesamtbevölkerung oder darüber bilden; daß Grund und Boden den größten Teil des Nationalvermögens ausmache und die Grundsteuer die ergiebigste direkte Steuer sei, daher das Einkommen dieser Art nicht der fremden Konkurrenz preisgegeben werden dürfe, und daß der Getreidezoll nur eine berechtigte Ausgleichung der großen Verschiedenheit der Produktionsbedingungen in den alten Kulturländern Europas gegenüber dem reichen Boden Amerikas oder der billigen Arbeitskraft und klimatischen Gunst Ostindiens herbeiführen solle.
Auf diese und andre Gründe gestützt, hat die Kornzollbewegung zu jenen Schutzzöllen geführt, welche im Deutschen Reich im Zolltarif vom Jahr 1879 und mit namhaften Erhöhungen im Tarif von 1885 auf alle Cerealien, Mehl [* 34] und Mahlprodukte enthalten sind; ebenso wurden in Frankreich 1881 und 1882 wieder Getreidezölle eingeführt, dann abermals 1885 und zwar besonders mit Rücksicht auf das nicht direkt zugeführte Getreide außereuropäischer Provenienz erhöht. Österreich-Ungarn folgte 1882 im Interesse des Getreidebaues der östlichen Reichshälfte ebenfalls dem Beispiel, und auch auf andre Staaten Europas übertrug sich die Strömung, wenngleich nur in vereinzelten Maßregeln (vgl. Getreidezölle).
4) Statistik der Getreideproduktion und des Getreidehandels.
Getreideproduktion und Getreidehandel haben sich infolge der Zunahme des Konsums und der Erleichterung des Transports in der letzten Zeit mit ungeahnter Raschheit gehoben. Die Erntestatistik, wie sie in der Mehrzahl der Kulturstaaten gegenwärtig eingerichtet ist, gestattet einen ziffermäßigen Ausdruck der thatsächlichen Verhältnisse, welcher zwar nicht auf unbedingte Genauigkeit im einzelnen Anspruch erheben darf, aber doch durchaus genügende Anhaltspunkte bietet, um alle maßgebenden Elemente im großen und ganzen verläßlich zu konstatieren. Man kann (nach Neumann-Spallart, dessen »Übersichten der Weltwirtschaft« hier benutzt wurden) sämtliche für die Kornfrage wichtige Staaten in zwei Gruppen einteilen: erstens solche Länder, welche in mittlern Erntejahren regelmäßig Überschüsse der eignen Erzeugung ausführen (Getreideausfuhrländer), und zweitens solche Länder, welche regelmäßig auf Getreidezufuhren angewiesen sind (Getreideeinfuhrländer).
A. Getreideausfuhrländer.
Vereinigte Staaten von Nordamerika. Dieselben stehen seit 1878 in erster Reihe; ihre Übermacht beruht auf dem Bodenreichtum, besonders im Westen, auf der extensiven billigen Kultur, der großartigen Organisation der Aufspeicherung, des Transports und Handels. Die Erntemengen in Millionen Hektoliter waren im Durchschnitt der Jahre, resp. den Jahren: ¶