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Stets, wenigstens zu Anfang, durch mündliche Tradition überliefert sind die Sagen des Volkes und seine Lieder. Sie sind unter allen Quellen die subjektivsten, d. h. diejenigen, in denen die Auffassung der Menschen die Darstellung des Geschehenen am meisten beeinflußt hat. Ebenfalls subjektiv, aber in der Weise, daß die Verfasser sich ihrer Subjektivität vollkommen bewußt sind, daß sie die Absicht haben, ihren persönlichen Standpunkt bei der Darstellung von Ereignissen der Vergangenheit hervortreten zu lassen und die letztere durch den erstern zu beeinflussen, sind die politischen, kirchlichen und sozialen Reden, die Broschüren, Pamphlete, Streitschriften etc. und die seit dem 16. Jahrh. immer massenhafter auftretenden Zeitungen: dies alles nicht zu entbehrende, aber nur mit äußerster Vorsicht zu benutzende Geschichtsquellen. Ihrer Natur und Bestimmung nach weit objektiver sind die eigentlichen historischen Schriften, von deren einzelnen Arten unten geredet werden wird; sie sind von allen Quellen geschichtlicher Erkenntnis die am reichhaltigsten fließende.
Zwischen den früher besprochenen Überresten und den zuletzt erwähnten Quellen in der Mitte stehen, wie schon bemerkt ist, die Denkmäler oder Monumente; sie gehören den erstern an, insofern sie aus der Vergangenheit, von der sie Kunde geben, unmittelbar in die Gegenwart hineinragen, den letztern, insofern sie den Zweck haben, eine bestimmte Auffassung von den Geschehnissen ebendieser Vergangenheit der Nachwelt zu überliefern. Zu ihnen sind einmal alle Inschriften zu rechnen, welche für die Kenntnis des Altertums, zumal der orientalischen Völker, der Ägypter, Babylonier, Assyrer, Perser etc., äußerst wertvoll sind; ferner die Medaillen, die Münzen, [* 2] die Wappen, [* 3] die Siegel u. dgl. Für die Zeiten des Mittelalters gehören ebendahin die so sehr wichtigen Urkunden, d. h. schriftliche Aufzeichnungen über abgeschlossene Rechtsgeschäfte.
Das so außerordentlich reichhaltige und mannigfache historische Material zu sichten, sein Verhältnis zu den Vorgängen, von denen es absichtlich oder unabsichtlich Kunde gibt, und demgemäß seinen Wert für unsre Erkenntnis derselben zu bestimmen, ist die Aufgabe der Kritik. Sie hat zunächst aus der Gesamtmasse des vorhandenen Materials dasjenige auszuscheiden, was falsch und unecht, d. h. in Wirklichkeit nicht das ist, wofür es gehalten werden will. Solcher irre führenden Fälschungen hat es zu allen Zeiten gegeben; aus sehr verschiedenen Motiven hervorgegangen, erstrecken sie sich über alle Arten unsers historischen Materials.
Lediglich gewinnsüchtige Absichten waren es, welche schon im Altertum die vielen Münzfälschungen, im Mittelalter einen großen Teil der Urkundenfälschungen hervorriefen. Andre Trugwerke verdanken politischen oder kirchlichen Bestrebungen der verschiedensten Art ihren Ursprung; dahin gehört z. B. die in Frankreich in der ersten Hälfte des 9. Jahrh. zusammengestellte Sammlung von zum Teil gefälschten päpstlichen Schreiben und Konzilienbeschlüssen, die unter dem Namen der pseudoisidorischen Dekretalien bekannt ist, dahin gehören aber auch die vielen erfundenen Depeschen, Gesandtschaftsberichte etc. Andre Fälschungen alter und neuerer Zeit endlich sind aus dem Bestreben hervorgegangen, einem Geschlecht, einer Stadt, einem Volk eine möglichst weit zurückreichende historische Erinnerung zu verschaffen. Oft ist übrigens nicht das ganze der Prüfung unterzogene Stück eine trügerische Erfindung, vielmehr kann auch ein echtes Dokument oft genug durch Weglassungen oder Zusätze (Interpolationen) entstellt sein. Gelingt es, die Zeit der Fälschung, ihre Motive, ihre Urheber nachzuweisen, so kann in diesem Fall auch die Fälschung selbst ein wertvolles historisches Zeugnis für die Zeit werden, in der sie entstanden ist.
Auf diese erste Untersuchung, welche erweist, ob das historische Zeugnis das ist, wofür es gehalten werden will, folgt sodann die Kritik des Richtigen, welche zu untersuchen hat, ob das uns Überlieferte seinem Ursprung und seinen Bedingungen nach richtig sein kann oder nicht; ihrer Natur nach kommt diese Kritik nur den Quellen und Denkmälern, aber nicht den Überresten gegenüber zur Anwendung. Sie sucht den Parteistandpunkt des Überliefernden, seine Anschauungen und Tendenzen und den Grad seiner Bildung im allgemeinen sowie der besondern Kenntnisse zu bestimmen, welche er von den Thatsachen haben konnte, die er berichtete. Ihr fällt endlich auch die Aufgabe zu, bei den sogen. abgeleiteten Quellen, d. h. denjenigen, welche selbst aus andern Quellen schöpfen und denselben mehr oder minder getreu folgen, den Prozeß der Auflösung in ihre Bestandteile vorzunehmen.
Des so kritisch gesichteten und nach möglichst mannigfachen Gesichtspunkten geordneten Materials bemächtigt sich sodann die Interpretation, deren Bestreben es ist, dasselbe zu verstehen. Sie sucht den Kausalnexus, das Verhältnis von Grund und Folge in den Dingen, zu erkennen;
sie ist bemüht, das unbekannte, fehlende Mittelglied durch Analogie und Hypothese zu ergänzen;
sie will das Geschehene aus der Einwirkung der räumlichen, zeitlichen und sachlichen Bedingungen, unter denen es geschah, erklären;
sie fragt bei den Thatsachen nach den psychologischen Motiven der handelnden Personen;
sie will endlich das, was in den Einzelerscheinungen unklar und unverständlich bleibt, aus den zu Grunde liegenden, den Einzelwillen beherrschenden und treibenden allgemeinen Ideen erfassen.
Die Interpretation ist vielleicht die schwerste Aufgabe des Historikers: die Kritik kann rein verstandesmäßig erlernt und geübt werden, sie ist mehr handwerksmäßige als künstlerische Arbeit;
erst in der Interpretation offenbart sich das Genie des Geschichtsforschers.
[Historische Hilfswissenschaften.]
Bei dieser Thätigkeit des Sammelns, Beurteilens und Interpretierens des historischen Materials bedarf der Geschichtsforscher einer Reihe von Kenntnissen und Fertigkeiten, die auch als besondere Disziplinen sich entwickelt haben, und die man, soweit sie im Dienste [* 4] der Geschichtsforschung stehen, als historische Hilfswissenschaften bezeichnet hat. Dahin gehört zunächst die Geographie, welche uns über die räumlichen Bedingungen aufklärt, unter denen die geschichtlichen Vorgänge sich abspielen. Weiter kommen unter demselben Gesichtspunkt die Ethnographie [* 5] oder Völkerkunde, besonders die Völkerpsychologie, und die Statistik in Betracht. Nicht minder wichtig ist die Wissenschaft von der Teilung und Messung der Zeit, die Chronologie.
Diesen mehr allgemeinen Disziplinen, deren der Geschichtsforscher fast bei jedem Schritt auf seinem Weg bedarf, reihen sich andre an, die ihm für das Verständnis gewisser Gattungen des historischen Materials unentbehrlich sind. Die Paläographie lehrt ihn die anscheinend rätselhaften, nicht zu entwirrenden Schriftzüge entziffern, in denen ein großer Teil dessen aufgezeichnet ist, was ihm zur wichtigen Erkenntnisquelle wird. Die Archäologie zeigt ihm, wie die aus der Vergangenheit übriggebliebenen ¶
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Kunstdenkmäler als solche zu würdigen und zu geschichtlichen Zwecken zu verwerten sind. Die Heraldik überliefert die Lehre [* 7] von den Wappen, die Numismatik die von den Münzen, die Epigraphik die von den Inschriften. Die Diplomatik endlich enthält die Regeln über die Kritik und Interpretation der Urkunden; nur ein Zweig von ihr ist die Sphragistik oder die Lehre von den Siegeln, welche neben andern eins der wesentlichsten Mittel zur Beglaubigung der Urkunden waren. Durch die auch auf dem Felde der Geschichtsforschung immer mehr Platz greifende Teilung der Arbeit mag sich die Zahl dieser Spezialdisziplinen leicht noch erhöhen.
Arten und Entwickelung der Geschichtschreibung.
Dem Geschichtsforscher bleibt nun noch übrig, das gesicherte Ergebnis seiner Forschungen, das bis dahin nur für ihn existiert, auch andern zugänglich zu machen, und das geschieht durch die Darstellung. Hat der Historiker zunächst nur die Absicht, die Resultate seiner Studien seinen Fachgenossen vorzulegen und zur Nachprüfung zu unterbreiten, so wird er sich mit Vorteil der untersuchenden Form der Darstellung bedienen können. Wendet sich aber der Historiker an ein größeres Publikum als das der Fachgenossen, spricht er zu den Gebildeten seines Volkes und aller Völker, so wird er sich besser der erzählenden Form der Darstellung bedienen, indem er das Erforschte seinem Sachverlauf nach zu einem genetischen Bild »rekonstruiert«. In dieser Form ist eine große Verschiedenheit denkbar, je nachdem der Historiker nur erzählt, was er gesehen und erlebt oder als Geschehenes aus dem Material ermittelt hat, oder eine bestimmte Entwickelung im Zusammenhang verfolgt oder gewisse historische Ideen, die sich ihm aus der Betrachtung des Stoffes ergeben haben, nach ihrem Werden und Erscheinen, ihrem allmählichen Wachstum, ihrer Ausbreitung, ihrer Herrschaft und ihrem Hinsinken betrachtet und aus der Fülle der Thatsachen diejenigen, welche jene Prozesse anschaulich machten, zu einer geschichtlichen Darstellung vereinigt, bis schließlich in der geschichtsphilosophischen Darstellung (s. oben) die erzählende Form durch die demonstrative verdrängt wird. In der erzählenden Form der Darstellung kommt ferner die künstlerische Begabung des Historikers zur Geltung, die sich in der Intuition, dem Erkennen der wahren Gestalt der Vorgänge und Personen, in der nachahmenden Schilderung, dem Herausfinden des Notwendigen, dem Absondern des Zufälligen äußert.
So entstanden verschiedene Arten von erzählenden Geschichtswerken, in deren Aufeinanderfolge sich auch eine fortschreitende Entwickelung der Geschichte kundgibt. Der Ausgangspunkt für alle historische Litteratur ist das Bedürfnis nach einer festen und gesicherten Zeitrechnung. Zu diesem Zweck legte man sich entweder Verzeichnisse der Vorsteher des Staats an (so im Orient, in Ägypten [* 8] wie in Ninive, Babylon und sonst, der Könige; in Rom [* 9] der Konsuln, der Stadtpräfekten etc.), oder man entwarf Kalender, welche über die Gerichtstage, die öffentlichen Spiele, die Feste u. dgl. Auskunft gaben.
Diesen Namen- und Tageslisten fügte man dann bald anfangs kurze, später ausführlichere Notizen über denkwürdige Ereignisse des Natur- und Menschenlebens hinzu, und so entstanden aus ihnen die Annalen (Jahrbücher) und Chroniken, denen das gemeinsam ist, daß die zeitliche Aufeinanderfolge der für sie vorzugsweise maßgebende Gesichtspunkt ist. Es ist eine durchaus seltene Ausnahme, wenn die Chronisten oder Annalisten sich über diesen äußerlichen Gesichtspunkt der zeitlichen Aufeinanderfolge erheben, wenn sie den Stoff zu beherrschen sich bemühen und nach gewissen von ihnen selbst ausgehenden Grundgedanken verarbeiten.
Als Annalen bezeichnet man gewöhnlich Aufzeichnungen, bei denen die Aufeinanderfolge der Kalenderjahre das Gerüst der chronologischen Anordnung bildet, während bei den Chroniken dasselbe zumeist durch die Regierungsperioden der Könige, Päpste, Bischöfe etc. gebildet wird. Von Geschichtswerken dieser Art aus dem Altertum, deren es bei den Römern besonders viele gab, sind uns nur Fragmente erhalten, wenn man nicht die der sinkenden Klassizität angehörigen annalenartigen Auszüge aus größern Geschichtswerken, wie Florus, Eutropius u. a., dazu rechnen will. Zahllos aber sind die Annalen und Chroniken des Mittelalters, die meist im Anschluß an eine Weltchronik nur die Geschichte eines bestimmten Zeitraums oder einer beschränkten Örtlichkeit selbständig behandeln.
Eine zweite Gattung keimender Historiographie, die aber erst bei fortgeschrittener Kultur möglich wird, sind die Denkwürdigkeiten oder Memoiren (s. d.), Aufzeichnungen einer mehr oder minder hervorragenden Persönlichkeit über ihre Zeit und ihr Leben, über das, was sie selbst gesehen und gehört hat. Namentlich hat Frankreich eine sehr reiche Memoirenlitteratur aufzuweisen. Nicht wesentlich von diesen Memoiren verschieden sind diejenigen Aufzeichnungen, welche die Alten Historiae nannten, d. h. nach der Definition des Gellius Erzählungen von geschichtlichen Vorgängen, denen der Erzähler selbst beigewohnt, an denen er wohl gar mitgewirkt hat; sie streifen um so mehr den memoirenhaften Charakter ab, je weniger der Verfasser seine eigne Person zum Mittelpunkt der Darstellung macht, und je mehr er das persönliche Moment hinter dem sachlichen zurücktreten läßt, und sie sind um so wichtiger, eine je hervorragendere Rolle ihr Verfasser zu seiner Zeit gespielt hat.
Die Kommentarien Cäsars bei den Römern, die letzten ihre Zeit behandelnden Bücher vieler mittelalterlicher Chronisten, z. B. Gregors von Tours, [* 10] Thietmars von Merseburg, [* 11] Froissarts und Comines', die von Karl V. begonnene Arbeit über die Geschichte seiner Zeit, die »Histoire de mon temps« Friedrichs d. Gr. mögen als hervorragendste Beispiele dieser Art von Geschichtswerken genannt werden. Endlich gibt es auch geschichtliche Werke, deren Verfassern die Schönheit der Form und des Stils die Hauptsache war, während es ihnen auf die Sachen selbst, die sie darstellten, weniger ankam. Solche Erzählungen, die man treffend als rhetorische Geschichtswerke bezeichnet hat, treten zuerst bei den Griechen, dann auch bei den Römern auf; manche mit Unrecht hochgeschätzte Werke, wie z. B. die des Italieners Guicciardini, Voltaires Geschichte Karls XII. von Schweden [* 12] u. a., gehören in diese Kategorie, deren Entartung zuletzt der historische Roman wird.
Als der Vater der Geschichtschreibung im eigentlichen Sinn wurde schon von den Alten Herodot bezeichnet, der den gewaltigen Zusammenstoß des Orients mit dem Hellenentum sich zum Gegenstand seiner Darstellung wählte und in der Kunst der Schilderung sich als Meister zeigte. Nach ihm schritt Thukydides zur pragmatischen, d. h. sachgemäßen, Geschichtschreibung fort; die mit sinnvoller Kürze der Darstellung historische Kritik, politische Reflexion [* 13] und weltgeschichtliche Auffassung verbindet. Dasselbe Ziel verfolgte Xenophon, wenn auch nicht mit gleichem Erfolg, und auch nach dem Verfall Griechenlands hat seine Litteratur in Polybios noch einen Meister der Geschichtschreibung aufzuweisen. Bei den Römern ¶