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vor Gericht hatten die Geschlechtsgenossen die Pflicht, einander beizustehen; aus dieser Pflicht ist das altgermanische Institut der Eideshelfer erwachsen.
Eine andre Verbindung als die Familie begründete die Dorf- und Markverfassung. Nicht alles Land nämlich, das bei der ersten Ansiedelung der Germanen von denen, die sich zu einem Dorfe vereinigten, gemeinsam in Besitz genommen worden, war unter die Einzelnen verteilt;
vieles blieb brach liegen und diente als Wald oder Weide [* 2] allen zur Nutznießung nach bestimmten Regeln und in abgemessenem Umfang: dies wird als »gemeine Mark« oder »Allmande« bezeichnet. So hatten die Dorfgenossen auch unmittelbar gemeinsame Interessen;
um darüber zu verhandeln, traten die Dorfbewohner an ein für allemal bestimmten Plätzen, meist unter einem alten Baum, häufig einer Linde, zusammen;
ein gewählter Dorfvorsteher leitete die Verhandlungen und nahm auch sonst das Interesse der Dorfschaft wahr.
Aber eigentlich staatliche Funktionen übten auch sie nicht aus. Diese kamen vielmehr nur dem Verband [* 3] der Völkerschaft und seinen Gliederungen, den Hundertschaften, zu. Die Staatsgewalt stand innerhalb der Völkerschaft der Gesamtheit der ihr angehörigen freien Männer zu, die bewaffnet (denn Heer und Volk sind identisch) zur Völkerschaftsversammlung sich einfanden. So war die Verfassung der alten Germanen, wenn wir die moderne Bezeichnung anwenden sollen, durchweg eine republikanische, und es machte darin keinen Unterschied, ob an der Spitze der Völkerschaften ein erblicher König aus einem besonders edlen Geschlecht stand, wie das bei den Ostgermanen, Goten und Sueven, der Fall war, oder ob es einen solchen nicht gab, wie bei den westlichen Germanen.
Auch in den von Königen beherrschten Staaten war nicht der Monarch, sondern die Volksversammlung die Trägerin der Souveränität; die höchsten Rechte, wie das, über Krieg oder Frieden zu entscheiden, über Leib und Leben der Volksgenossen zu urteilen, die Beamten der Abteilungen des Volkes zu ernennen, standen nicht dem König, sondern dem Volk zu. Die Versammlung fand zu bestimmten Zeiten bei Neu- oder Vollmond oder außerordentlich bei besondern Veranlassungen statt; festliche Schmausereien gingen den Beratungen voran, die unter freiem Himmel [* 4] (in heiligen Hainen oder an andern der Gottheit geweihten Stätten) abgehalten wurden.
Der König oder, wo es einen solchen nicht gab, einer der Fürsten leitete die Verhandlungen; weitläufige Debatten waren nicht üblich, nur Männer, die durch Adel, Alter, Kriegsruhm oder Beredsamkeit ausgezeichnet waren, pflegten das Wort zu ergreifen; dann entschied die Versammlung, wenn auch nicht in förmlicher Abstimmung: mit beifälligem Zuruf und lautem Zusammenschlagen der Waffen [* 5] nahm man die gemachten Vorschläge an, mit unwilligem Murren oder Geschrei verwarf man sie.
Nur in den monarchischen Staaten gab es in der Person des Königs einen ständigen Vorsteher des Volkes; in denen, die keinen König hatten, ward ein solcher nur für die Zeit eines Krieges aus der Zahl der Fürsten durch das Volk erwählt; Herzog wird man ihn genannt haben. Außer den Versammlungen des ganzen Volkes gab es solche der einzelnen Hundertschaften, in welche die Völkerschaft regelmäßig zerfiel. Hier ward (von jenen wenigen Fällen abgesehen, in denen das ganze Volk richtete) das Recht gesprochen; andre Funktionen übte die Versammlung der Hundertschaft wahrscheinlich nicht aus.
An der Spitze der Hundertschaften in Krieg und Frieden, in Heer und Gericht standen Fürsten (principes), die von dem gesamten Volk für alle Hunderte desselben aus den tüchtigsten freien Männern derselben ohne Unterschied des Standes gewählt wurden. Ihr und der Könige Vorrecht war es, ein Gefolge zu halten, d. h. eine Anzahl tapferer junger Männer um sich zu versammeln, die, durch das feste Band [* 6] der Treue an ihren Gefolgsherrn gekettet, mit ihm Leid und Freud', Ehre und Ruhm, Beute und Gefahren teilten, ihm in den Kampf und in den Tod folgten. Der Eintritt in ein solches Gefolge minderte Freiheit und Ehre nicht; im Gegenteil hob die Ehre des Herrn die des Gefolges, war sein Ruhm auch der des Gefolges.
Ist somit in der Verfassung der Germanen der politischen Freiheit der weiteste Spielraum gelassen, so gilt dasselbe auch von der politischen Gleichberechtigung aller Freien, für die in staatlicher Beziehung kein Unterschied irgend welcher Art bestand. Dies schließt aber eine gewisse ständische Gliederung innerhalb des Kreises der Freien nicht aus. Vielmehr ist es sicher, daß es wenigstens bei den meisten Völkerschaften der Germanen einen, wenn auch nicht sehr zahlreichen Adel gab; seine Mitglieder, die »Adalinge« oder »Ethelinge«, galten als besonders angesehen oder einflußreich, man legte hohen Wert auf edle Geburt und vornehme Abkunft; aber politische Vorrechte verlieh der Adel nicht, höchstens das eine kann angeführt werden, daß die Könige, wo es solche gab, regelmäßig einem und zwar dem edelsten der adligen Geschlechter angehörten.
Unter den Freien standen die Hörigen (Liten oder Halbfreien), vielleicht Angehörige ganzer Völkerschaften, die im Krieg unterworfen worden waren; sie entbehrten des freien Grundbesitzes und besaßen nur Land, für das sie einem Herrn dienten oder zinsten; sie hatten keine politischen Rechte, aber ihre Person war frei. Noch tiefer standen die Knechte, meist einzelne Kriegsgefangene, die als Sache galten, gekauft und verkauft werden konnten und somit in harter Abhängigkeit standen. Aber auch ihre soziale Stellung war keine allzu ungünstige, selten nur hören wir von grausamer Behandlung der Knechte; in der Regel lebten sie auf ihnen angewiesenem Land, von dem sie Getreide [* 7] oder Vieh als Abgabe entrichteten, und mit der römischen Sklavenwirtschaft hat das Verhältnis der Knechte bei den Germanen wenig gemein.
Der Gliederung des Volkes im Frieden entsprach die Ordnung im Gefecht: das Gefolge umgab seinen Führer, familien- und stammweise vereinigt focht das übrige Volk. Die Schlachtordnung war meist keilförmig, Reiter und Fußstreiter waren vermischt. Der Angriff begann mit einem wilden Schlacht- oder Schildgesang (baritus), welchen die Römer [* 8] nicht schrecklich genug schildern können. Der Angriff war stürmisch, aber nicht immer ausdauernd; oft wich man zurück; aber nur, um den Angriff alsbald zu erneuern.
Den Schild [* 9] auf feiger Flucht wegzuwerfen, galt als die ärgste Schmach, lieber setzte man sich gewissem Tod aus; daher kommt es, daß in unglücklichen Kämpfen stets die Leichen von Tausenden der Germanen das Schlachtfeld bedeckten. Es fehlte den Germanen nicht an geschickter und kundiger Führung; anfangs den Römern an Kriegskunst nicht gewachsen, haben sie doch bald von den Siegern gelernt. Ihre Hauptwaffe war der Speer, der mit eiserner Spitze beschlagen war und zum Kampf in der Nähe und in der Ferne diente, und, besonders bei den Völkern des Nordens, das kurze Schwert. Hauptverteidigungswaffe war der meist bunt gemalte Schild. Das Fußvolk führte auch Bogen [* 10] und Pfeile. Nur wenige Bevorzugte hatten ¶
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Harnische und Helme. [* 12] Einzelne Völkerschaften, wie die Tenkterer und Chauken, werden ihrer Reiterei halber gerühmt; die Hauptstärke der germanischen Heere bestand jedoch im Fußvolk. Roh im Vergleich zur Kriegskunst waren die übrigen Künste, obwohl, selbst durch den Krieg begünstigt, Gesang, Poesie und Heilkunde den alten Germanen nicht fremd gewesen sind. Die Sprache [* 13] (s. Germanische Sprachen) war reich und bildungsfähig; auch gab es bereits Schriftzeichen, Runen [* 14] (s. d.), deren sich Priester und andre kundige Männer bedienen mochten.
Doch ward kein ausgiebiger Gebrauch von der Schrift gemacht, und bis zu Aufzeichnungen ihrer Geschichte und ihres Rechts waren die Germanen zur Zeit der Römer noch nicht vorgeschritten. Nur mündlich, in Liedern und Gesängen, die im Volk lebten, bewahrte man die Erinnerung an hervorragende Helden und ruhmvolle Thaten. Einen eignen Priesterstand, wie ihn bei den Kelten die Druiden bildeten, hatten die Germanen nicht; es wird das ausdrücklich als einer der Hauptunterschiede zwischen beiden Nachbarvölkern hervorgehoben.
Wohl aber gab es Priester, welche, wenn das Volk unter dem besondern Frieden der Götter (über diese vgl. Deutsche Mythologie) [* 15] zur Versammlung oder zum Heer zusammentrat, den Gottesfrieden zu wahren hatten und mit einer weitgehenden Strafgewalt gegen die, welche denselben verletzten, ausgestattet waren. Aus dem Ausfall der Opfer, die sie brachten (und wenigstens in der ältesten Zeit waren auch Menschenopfer gebräuchlich), aus dem Flug der Vögel, [* 16] aus dem Wiehern der heiligen Rosse, aus Losen, die geworfen wurden, verkündeten sie und die heiligen weissagenden Frauen den Willen der Götter und die Zukunft. Tempel [* 17] und Bilder der Götter gab es nicht; in heiligen Hainen und Wäldern wurden ihnen Altäre errichtet und die Opfer dargebracht.
Die Gewerbe waren einfach, da sie nur einfache Bedürfnisse zu befriedigen hatten und nur in wenigen Fällen dem Handel dienten. Jagd und Weberei [* 18] sorgten für die Kleidung; Schnitzen, Schmieden und Schmücken der Waffen gehörte zu den edlen Gewerben und ausschließlich zum männlichen Beruf. Die Kunst, Eisen [* 19] und Kupfer [* 20] zu schmelzen und zu verarbeiten, wurde allgemein geübt. Oft wurden die Lieblingswaffen, Speer und Schild, mit Silber- oder Goldblech beschlagen, oder ausgelegt und mit Figuren verziert.
Auch die Schiffahrt war nicht unbekannt; die Flüsse [* 21] befuhr man mit Kähnen, die Küstenbewohner wagten sich ins offene Meer und waren auch hier streitbar. Geringere Gewerbe trieben ausschließlich die Unfreien und Knechte. Der Handel nahm eine sehr untergeordnete Stelle ein. Das Geld und seinen Gebrauch kannten die germanischen Völker (die an den Römergrenzen ausgenommen) nur dem Namen nach. Nur tauschweise trieben sie einigen Verkehr mit den Nachbarn; Plinius nennt Felle, Honig, Bernstein, [* 22] Federn, Schinken, Vieh und Sklaven als Gegenstände des Handels; eingeführt ward besonders Wein, der auch schon früh, man nimmt an, auf Anordnung des Kaisers Probus, am Rhein gebaut wurde, außerdem Schmuck und Kleidung mancherlei Art.
Nicht überall sind die Züge aus dem Lebender alten Germanen, die hier zu einem Gesamtbild vereinigt sind, so reichhaltig und ausführlich, wie man es wünschen möchte; nicht wenige Lücken unsrer Kenntnis bleiben unausgefüllt. Aber das, was wir wissen, reicht aus, um die früher vielverbreitete Meinung, die alten Germanen hätten zur Zeit, da sie mit den Römern in Berührung kamen, ungefähr auf derselben Stufe der Kultur gestanden wie etwa die begabtern der Indianerstämme Amerikas, entschieden zurückzuweisen. Keine Wilden mehr waren die Germanen, und längst waren sie über die niedersten Stufen der Zivilisation hinaus vorgeschritten; aber sie standen erst in den Anfängen einer reichen und glücklichen geschichtlichen Entwickelung, der es vorbehalten war, die Geschicke der Welt von Grund aus umzugestalten und an Stelle der morschen und in sich zerfallenen Römerherrschaft eine neue Ordnung der Dinge zu setzen. -
Vgl. (außer den allgemeinen Geschichten des deutschen Volkes) Zeuß, Die Deutschen und ihre Nachbarstämme (Münch. 1837);
v. Bethmann-Hollweg, Über die Germanen vor der Völkerwanderung (Bonn [* 23] 1850);
v. Wietersheim, Zur Vorgeschichte deutscher Nation (Leipz. 1852);
Grimm, Geschichte der deutschen Sprache (4. Aufl., Leipz. 1880, 2 Bde.);
Thudichum, Der altdeutsche Staat (Gießen [* 24] 1862);
v. Sybel, Entstehung des deutschen Königtums (Frankf. 1844);
Hennings, Über die agrarische Verfassung der alten Deutschen (Kiel [* 25] 1869);
Rogge, Das Gerichtswesen der Germanen (Halle [* 26] 1820);
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (2. Aufl., Kiel 1865);
Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde (Berl. 1870, Bd. 1);
Baumstark, Tacitus' »Germania« (das. 1875);
Arnold, Deutsche Urzeit (3. Aufl., Gotha [* 27] 1881);
Dahn, Geschichte der deutschen Urzeit (das. 1883 ff.).