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Verbindung des savoyischen Adels, schwer bedrängt, bis ein Auszug Berns und Freiburgs den Herzog zwang, im Frieden von St.-Julien Genfs Unabhängigkeit anzuerkennen. Die Reformation stürzte [* 2] in neue Wirren. Während Bern [* 3] für Farel freie Predigt verlangte, forderte Freiburg, [* 4] daß man sie ihm verbiete, und erklärte, als der Rat von Genf schwankte, sein Bündnis für erloschen (Mai 1534). Dies ermutigte den Herzog, im Einverständnis mit den katholischen Schweizer Kantonen seine Pläne gegen Genf, das sich jetzt ganz der Reformation zuwandte, wieder aufzunehmen, und er brachte es wieder in die größte Not.
Als Frankreich Miene machte, die Stadt zu besetzen, kam ihm Bern zuvor, nahm dem Herzog die Waadt weg und befreite Genf (Februar 1536). Im Juli d. J. kam Calvin nach Genf und begann, von Farel festgehalten, eine völlige Umgestaltung des politischen und sozialen Lebens in theokratischem Sinn. Der von dem Konsistorium, welches aus den Geistlichen und zwölf »Ältesten« bestand, gehandhabte Sitten- und Glaubenszwang, die Verpönung der unschuldigsten Vergnügen, von Volksfesten, Theater, [* 5] Tanz etc., erregten den Widerstand einer Freiheitspartei, der »Libertins«, unter denen sich die angesehensten Genfer Bürger befanden.
Nachdem Calvin 1538 mit Farel vertrieben worden war, kehrte er 1541 zurück, konnte aber sein System nur durch eine Schreckensherrschaft halten, welche er mit Hilfe der auf seine Fürsprache hin zahlreich eingebürgerten fremden Religionsflüchtlinge gegen die alten Genfer Familien ins Werk setzte. Viele, die nicht rechtzeitig flohen, mußten das Schafott besteigen, so ein Sohn des Freiheitsmärtyrers Berthelier, und Hunderte von Familien verließen die Stadt. So gelang es Calvin, sich seit 1555 zum allmächtigen Beherrscher Genfs aufzuschwingen, das er dafür zum Mittelpunkt der reformierten Welt, zum »protestantischen Rom«, [* 6] erhob. 1559 gründete er die berühmte Akademie, die Pflanzschule für reformierte Geistliche Frankreichs, der Niederlande, [* 7] Englands und Schottlands.
Nach seinem Tod 1564 folgte ihm als Vorsteher der Genfer Kirche und Akademie Theodor Beza (gest. 1605). Genfs Anschluß an die Schweiz [* 8] wurde durch ein »ewiges Burgrecht« mit Bern und Zürich [* 9] vom noch enger; um so hartnäckiger aber wiesen die fünf katholischen Orte alle Anträge zur Aufnahme der Stadt als eines Gliedes der gesamten Eidgenossenschaft zurück, ja die mit ihnen seit 1560 im Bund stehenden Herzöge von Savoyen bedrohten Genfs Freiheit neuerdings. In der Nacht vom 11. zum 12. Dez. (alten Kalenders) 1602 suchte Karl Emanuel die Stadt zu überrumpeln; schon hatten 300 Savoyarden mittels geschwärzter Leitern die Mauern erstiegen, als sie entdeckt und aufgerieben wurden. Noch immer feiert Genf den Jahrestag dieser glücklich abgeschlagenen »Eskalade«.
Auch in Genf gestaltete sich nach der Reformation das Staatswesen immer aristokratischer. Die Erwerbung des Bürgerrechts wurde fast unmöglich gemacht; die Befugnisse der allgemeinen Bürgerversammlung (Conseil général) beschränkten sich zuletzt darauf, daß sie die vier Syndiken, die höchsten Beamten, nach den Vorschlägen der Räte wählen durfte. Die Staatshoheit ging völlig auf den Kleinen Rat und den Rat der Zweihundert über, die sich an den jährlichen Wahltagen gegenseitig bestätigten und die leeren Plätze mit Verwandten füllten.
Die Einwohnerschaft aber schied sich in bestimmte Rangklassen. Von den alten, reichen, regimentsfähigen Familien, den Citoyens, unterschied man die später Eingebürgerten als Bourgeois. Ganz außerhalb der Bürgerschaft standen die zahlreichen Natifs, d. h. die in Genf gebornen Nachkommen von nicht eingebürgerten Einwohnern, und die bloßen Habitants, die gegen eine Abgabe in der Stadt geduldeten Ansässigen; beide Klassen waren nicht nur von allen Staatsstellen, sondern auch vom Handel und den höhern Berufsarten ausgeschlossen.
Dazu kamen noch die Sujets, die Bewohner der wenigen der Stadt unterthänigen Ortschaften. Aber mit dem 18. Jahrh. begann Genf durch eine Reihe von revolutionären Bewegungen die Aufmerksamkeit Europas auf sich zu ziehen. 1707 verlangte die Bürgerschaft unter der Führung des Rechtsgelehrten und Ratsmitgliedes Fatio eine auf dem Prinzip der unzerstörbaren Volkssouveränität aufgebaute Verfassung; die Räte wußten jedoch dieselbe durch einige Konzessionen zu teilen, worauf Fatio u. a. wegen angeblicher Verschwörung hingerichtet wurden. 1734 kam es zu neuen Unruhen zwischen den sogen. Représentants, d. h. Bürgern, welche Beschwerden gegen die Regierung erhoben, den Négatifs, den Anhängern der letztern, welche jenen Vorstellungen kein Gehör [* 10] geben wollten, und den Natifs, die bald zu den erstern, bald zu den letztern standen.
Erst nach dreijährigem Bürgerzwist kam durch die Vermittelung Frankreichs, Berns und Zürichs 1738 ein Vergleich zu stande, welcher der Bürgergemeinde das Recht, über Krieg und Frieden, Gesetze und Steuern zu bestimmen, zurückgab, dessen Weisheit von J. J. Rousseau gepriesen wird. Nun herrschte in Genf ungestörte Ruhe, bis die Verurteilung von Rousseaus »Émile« und »Contrat social« 1763 den Kampf zwischen den Représentants und Négatifs erneuerte, infolgedessen 1768 der Conseil général das Recht erlangte, die Hälfte der Mitglieder der Zweihundert zu wählen.
Nun traten auch die Natifs mit dem Verlangen nach Besserstellung auf; als der Rat sich weigerte, Zugeständnisse, die sie mit Hilfe der Représentants von der Bürgergemeinde erlangt hatten, zu bestätigen, vereinten sich die beiden Parteien zum Sturz der Regierung und übergaben die Staatsleitung einem »Sicherheitsausschuß« Aber auf Einladung der gestürzten Machthaber rückten 6000 Franzosen, 3000 Berner und 2500 Sardinier in die Stadt ein, die Führer der Volkspartei, Clavière, Duroveray, Dumont, Reybaz u. a., flohen, um später als Mitarbeiter Mirabeaus eine bedeutende Rolle in der französischen Revolution zu spielen, und der alte Zustand wurde wiederhergestellt (Juli 1782). Erst die französische Revolution brachte die herrschende Aristokratie zum Nachgeben; gewährte die Regierung eine freiheitliche Verfassung.
Aber das Revolutionsfieber war damit nicht gestillt; schon traten revolutionäre »Ausschüsse« an Stelle der gesetzlichen Regierung, und ein »Nationalkonvent« arbeitete eine Verfassung aus, die, angenommen, alle Klassenunterschiede aufhob. Genf hatte seine Klubs, seine Montagnards, seine Sansculotten und nach einem Pöbelaufstand auch seine Schreckenszeit, in welcher ein Revolutionstribunal binnen 18 Tagen 37 Personen zum Tod verurteilte, wovon 11 hingerichtet wurden, dann nach Robespierres Sturz seine ebenfalls nicht unblutige Gegenrevolution. Erst 1796 kehrten geordnete Zustände zurück. Nachdem ein erster Versuch der französischen Republik, sich Genfs zu bemächtigen, an der Wachsamkeit Berns und Zürichs gescheitert war (September 1792), wurde nach dem Einrücken der französischen Heere in die Schweiz die Annexion gewaltsam vollzogen ¶
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Nach dem Sturz Napoleons wurde Genf als 22. Kanton [* 12] wieder mit der Schweiz vereinigt und von den Mächten am Wiener Kongreß und im zweiten Pariser Frieden mit einer kleinen Gebietsvergrößerung auf Kosten Savoyens und Frankreichs bedacht, die es in direkte Verbindung mit derselben setzte. Nach dem Abzug der französischen Behörden traten die bessern Elemente der Gesellschaft zusammen und oktroyierten der Stadt eine oligarchische Verfassung Die Gewalt lag in den Händen eines »Staatsrats« von 28 lebenslänglichen Mitgliedern; ihm stand zur Seite ein ziemlich ohnmächtiger »Repräsentantenrat« von 250 Mitgliedern, der statt des aufgehobenen Conseil général die Souveränität repräsentierte und durch hohen Zensus und komplizierte Wahlart selbst aristokratischer Natur war.
Aber die leitenden Staatsmänner wußten durch freisinnige und intelligente Handhabung der Verfassung diese Mängel auszugleichen. Wissenschaft und Künste blühten daher in Genf wie nirgends in der Schweiz, und ebenso nahmen Handel, Industrie und Ackerbau großen Aufschwung. Deshalb ließ sich 1830 die Bevölkerung [* 13] durch einige leichte Modifikationen der Verfassung, wie Herabsetzung des Zensus und Verkürzung der Amtsdauer des Staatsrats auf acht Jahre, befriedigen.
Erst 1841 bildete sich auf die Weigerung der Regierung, der Stadt Genf eine eigne Munizipalbehörde zu gestatten, ein großer Reformverein (Association du 3 mars), den Obersten Rilliet-Constant und den Journalisten James Fazy an der Spitze. Die grundsatzlose Haltung der Regierung in der Aargauer Klosterfrage brachte die Mißstimmung zum Ausbruch; der Verein vom 3. März stellte das Verlangen nach Einberufung eines aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgehenden Verfassungsrats, und ein drohender Volksauflauf zwang Staats- und Repräsentantenrat, demselben nachzugeben (21.-22. Nov.). Die neue vom Volk angenommene Verfassung führte allgemeines Stimmrecht, Repräsentation im Großen Rat nach der Kopfzahl, einen Staatsrat von 15 Mitgliedern mit beschränkter Amtsdauer und Befugnis, Gemeindeautonomie und gesonderte Kirchenverwaltung jeder Konfession ein; aber die Neuwahlen in die Behörden fielen vorwiegend konservativ aus.
Damit waren die Radikalen nicht zufrieden, und kam es zu einem Aufstand des Arbeiterviertels St.-Gervais und zu Kämpfen mit dem Militär, bis die Insurgenten gegen Zusicherung voller Amnestie die Waffen [* 14] niederlegten. Die Weigerung des Großen Rats, für Auflösung des Sonderbundes zu stimmen, erweckte neue Erbitterung, die sich in stürmischen Volksversammlungen äußerte, und als Fazy, der Führer der Radikalen, verhaftet werden sollte, errichtete das Quartier St.-Gervais Barrikaden und verteidigte sich gegen die Regierungstruppen mit Glück (6.-7. Okt. 1846). Da die übrige Bürgerschaft gegen die Fortsetzung des Kampfes protestierte, legte die Regierung ihre Gewalt in die Hände des Stadtrats nieder.
Eine große Volksversammlung wählte als Conseil général eine provisorische Regierung mit James Fazy an der Spitze und ordnete die Wahl eines neuen Großen Rats an. Die von dem neuen radikalen Großen Rat revidierte und von 5541 gegen 3186 Stimmen angenommene Verfassung übergab dem Volk auch die Wahl des auf 7 Mitglieder reduzierten Staatsrats, welche jährlich mit der des Großen Rats wechseln sollte, setzte die Wahlkreise von 10 auf 3 herab und führte Unentgeltlichkeit des Primärschulunterrichts, Geschwornengerichte und völlige Freiheit auch für den katholischen Kultus ein.
Diese Umwälzung war von höchster Wichtigkeit für die ganze Schweiz, indem mit Genf die nötige Stimmenzahl für Auflösung des Sonderbundes gewonnen wurde. Das neue von dem begabten, aber persönlich nicht makellosen Fazy geleitete radikale Regierungssystem that sein möglichstes, um das altcalvinische in eine glänzende moderne Stadt umzuwandeln. Die Festungswerke wurden geschleift, neue Straßen, Kais, die imposante Montblancbrücke, eine Reihe großartiger öffentlicher Gebäude gebaut, den Katholiken, einem Hauptbestandteil der Fazyaner, ein Teil des öffentlichen Grundes für eine neue Domkirche geschenkt, ein Nationalinstitut für Künste und Wissenschaften errichtet u. a. Allein Fazys verschwenderische Finanzwirtschaft sowie seine diktatorische und nicht immer uneigennützige Haltung entfremdeten ihm einen Teil der Radikalen, der sich mit den Konservativen zu der Partei der »Unabhängigen« vereinte.
Nachdem die Annexion Savoyens von seiten Frankreichs 1861 in dem dadurch bedrohten Genf eine ungemeine Aufregung, die sich in Volksversammlungen und Konflikten mit der Grenzbevölkerung äußerte, hervorgebracht hatte, ward es durch den Sturz Fazys in neue Wirren versetzt. Im Mai 1861 nahm der gesamte Staatsrat seine Entlassung, weil die Geschwornen eine von einem Arbeiter gegen den Diktator verübte Realinjurie nicht als ein Attentat gegen eine funktionierende Magistratsperson beurteilt und bestraft hatten.
Zwar wurden alle Mitglieder wieder gewählt, aber Fazy mit der geringsten Stimmenzahl, und bei den noch im nämlichen Jahr stattfindenden regelmäßigen Neuwahlen sah er sich ganz übergangen wurde auf Betreiben der »Unabhängigen« Revision der Verfassung beschlossen und ein Verfassungsrat gewählt, in welchem sie die Mehrheit erhielten; aber da dessen Werk auf Betreiben der Fazyaner verworfen wurde, blieb die alte Verfassung in Kraft. [* 15] Auch 1863 blieb Fazy in der Minderheit und ebenso 1864 bei Besetzung einer Vakanz im Staatsrat. Als sich hierauf das Fazyanische Wahlbüreau erlaubte, die Wahl seines Gegners Chenevière wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten zu kassieren, kam es 22. Aug. zu einem blutigen Konflikt zwischen den Parteien. Jetzt wurde Genf mit eidgenössischen Truppen besetzt, Chenevières Wahl vom Bundesrat für gültig erklärt und eine gerichtliche Untersuchung angeordnet, die indes mit Freisprechung sämtlicher Angeklagten endete. Fazys Einfluß aber blieb für immer gebrochen, und Großrats- wie Staatsratswahlen gaben den Independenten das Übergewicht bis 1870. Der kosmopolitische Charakter des neuen Genf erhielt gleichsam seine Sanktion, indem 1864 (8.-21. Aug.) der internationale Kongreß zur Verbesserung des Loses der im Krieg verwundeten Militärs, 1867 der erste Kongreß der internationalen Friedens- und Freiheitsliga, an welchem Garibaldi teilnahm, und 1872 (15.-20. Juni und 15. Juli bis 15. Sept.) das Alabama-Schiedsgericht dort tagten. Am starb der Exherzog Karl von Braunschweig [* 16] in Genf, indem er die Stadt zur Erbin seines Vermögens einsetzte, welches laut der öffentlichen Abrechnung des Stadtrats vom nach Abzug aller Kosten 16½ Mill. Fr. betrug und für Errichtung eines prachtvollen Denkmals für den Erblasser, für Tilgung von 7 Mill. Fr. Schulden, Erbauung eines neuen Theaters etc. verausgabt wurde.
Nach dem Sturz Fazys hatte sich dessen Partei in ihre Elemente aufgelöst, die Radikalen und die Ultramontanen. Erstere erlangten unter der Leitung Carterets 1870 bei den Großratswahlen den Sieg, ¶