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Die Stadt Genf.
Die Stadt Genf am Ausfluß [* 2] des Rhône aus dem Genfer See ist das »schweizerische Paris«. [* 3] Der belebte See mit seinen reizenden Ufern, der Wasserschwall des klargrünen Stroms, die Firsten der Jurakette im N., der schroffe Salève im S., dahinter die Firne des Montblanc, dazu die stolze Stadt selbst, das rege öffentliche und wissenschaftliche Leben, der Reichtum, die Eleganz: das alles macht Genf zu einem der reizendsten Plätze des Erdbodens, und darum auch ist es schon lange der Aufenthalt vieler Fremden von Rang und Bedeutung.
Die stärkere Stadthälfte (la vieille Cité), der Sitz der vornehmen Bevölkerung, [* 4] ist auf dem steilen linken Ufer erbaut; gegenüber, auf flacherm Gelände, liegt St.-Gervais, jetzt aus einem sonst unansehnlichen Arbeiterviertel erweitert und verschönert. Der enge und bei den hoch getürmten Häusermassen ziemlich finstere Stadtkern hat neuerdings durch Schleifung der Festungswerke und Abdämmungen des Sees ganz außerordentliche Erweiterungen erhalten und ist mit neuen Straßenreihen und Stadtteilen ausgestattet worden.
Nach Carouge und Chêne führen Pferdebahnen. In dem Rhône liegt das Quartier l'Ile, welches durch Brücken [* 5] mit den beiden Uferstädten in Verbindung steht. Unter den sechs Rhônebrücken ist die neue, prächtige, in zwölf leicht geschwungenen Bogen [* 6] übersetzende Montblancbrücke dem See am nächsten. Zwischen dieser und dem Pont des Bergues, von letzterm aus zugänglich und eine kostbare Aussicht über den See, die beiden Uferseiten und das Gebirge darbietend, liegt die von Bäumen überschattete Rousseau-Insel, wo eine Bildsäule von Pradier an den Philosophen erinnert. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören, außer den großartigen neuen Stadtteilen und Kais beider Ufer und außer manchen Privatpalästen, der St. Petersdom, die Kirche Notre Dame, das Rathaus, der botanische Garten, [* 7] das neuerbaute Athenäum (für permanente Gemäldeausstellungen), der Englische [* 8] Garten, das nach seinem Gründer benannte Musée Rath mit Kunstschätzen, das nach dem Vorbild der Neuen Oper in Paris erbaute Theater [* 9] (1879), das Kantonsspital, das Nationaldenkmal von Dorer (1871) zum Andenken an die Vereinigung des Kantons Genf mit der Schweiz [* 10] das Reiterstandbild des Herzogs Karl von Braunschweig [* 11] von Cain (1879, im Jardin des Alpes) und des Generals Dufour (Place neuve), das Hôtel des Bergues auf dem rechten, das Hôtel de la Métropole auf dem linken Ufer, die neue großartige Machine hydraulique inmitten des Rhône, welche mittels 20 Turbinen die Stadt mit Wasser versieht.
Der erwähnte, den Reformierten gehörende Dom St.-Pierre, mit drei Türmen, liegt auf dem höchsten Punkte der Cité und wurde 1124 im Übergangsstil vollendet, im 18. Jahrh. jedoch durch geschmacklose Anbauten verunstaltet; er enthält im Innern gute Holzschnitzereien und die Grabmäler des Herzogs von Rohan (Chefs der Protestanten unter Ludwig XIII.) und des Agrippa d'Aubigné (des Freundes Heinrichs IV.). Unter den Privatgebäuden bieten das ehemalige Wohnhaus [* 12] Calvins (Rue Calvin) und das Geburtshaus Rousseaus (Grande Rue) das meiste Interesse.
Erwähnung verdient auch das 13 m lange, 0,8 m hohe, in Lindenholz geschnitzte Montblancrelief im Englischen Garten, eine Arbeit von Sené. Die Stadt zählt (1880) 50,043, mit den Vorstädten Plainpalais und Eaux Vives 68,328 Einw. Dem Reichtum der Stadt entsprechend ist die Zahl der wohlthätigen Anstalten, die zum Teil städtisch (wie das große Bürgerhospital, das, mit einem Fonds von 3½ Mill. Fr. dotiert, jährlich an 800 Personen verpflegt, das Irrenhaus, die Anstalt für Unheilbare, die neue Waisenanstalt u. a.), zum großen Teil auch Privatanstalten sind. Wie ehedem, ist auch heute noch Genf die Burg des Protestantismus für die Schweiz und die westlich und südlich angrenzenden Länder, und es zeugen für den keineswegs erkalteten religiösen Eifer die vielen Sekten und die vielen religiösen Gesellschaften.
Geschichte der Stadt und des Kantons Genf.
Genf (Genava) erscheint zuerst in der Geschichte als befestigte Grenzstadt der Allobroger gegen die Helvetier und gelangte mit jenen um 120 v. Chr. unter die Herrschaft der Römer. [* 13]
Von Genf aus hinderte Cäsar 58 v. Chr. den Übergang der Helvetier über den Rhône. Früh drang das Christentum von Lyon [* 14] her in die Stadt, welche angeblich schon 381 Sitz eines Bischofs wurde. 443 fiel an die Burgunder und wurde eine ihrer Hauptstädte; 532 kam es mit Burgund an die Franken, 888 an das neuburgundische und 1032 mit diesem an das Deutsche Reich. [* 15] Frühzeitig erlangten die Bischöfe der Stadt ihre Befreiung von der Gerichtsbarkeit der Grafen des Genfer Gaues (pagus genevensis, Genévois), und Friedrich Barbarossa erkannte sie förmlich als Fürsten von an (1162); doch hatten sie stets gegen die Übergriffe der Grafen von Genf zu kämpfen, bis diese durch die mächtigern Grafen von Savoyen beiseite geschoben wurden, welche 1290 das Recht erlangten, den »Vidomne« (vicedominus) zu setzen, der im Namen des Bischofs den weltlichen Bewohnern der Stadt Recht sprach. Um dieselbe Zeit legte die Genfer Bürgerschaft den Grund zu ihrer Freiheit, indem sie sich einen Rat mit »Syndiken« an der Spitze gab, eine Organisation, die der Bischof 1309 anerkannte; 1364 besaß sie schon den Blutbann.
Nachdem aber das Haus Savoyen durch das Erlöschen der Grafen von in den Besitz der Landschaft Genévois gekommen war und den Herzogstitel erlangt hatte (1416), trachtete es danach, die Stadt, die gleichsam den Schlußstein seines den Genfer See umgebenden Gebiets bildete, ganz in seine Gewalt zu bringen. Die Gefälligkeit der römischen Kurie ermöglichte es den Herzögen, den Bischofsstuhl gegen Ende des 15. Jahrh. mit jüngern Söhnen oder Bastarden ihrer Familie zu besetzen; aber an dem Freiheitssinn der Genfer Bürgerschaft scheiterten alle ihre Anschläge.
Der patriotische Verein der »Kinder Genfs« (enfants de Genève) suchte, geleitet von Philipp Berthelier, Bezanson Hugues und Bonivard, gegen die Gewaltthaten Herzog Karls III. (1504-53) Rettung durch Anschluß an die Eidgenossenschaft. Als sich Freiburg [* 16] 1519 zu einem Bündnis bewegen ließ, gelang es dem Herzog, die Schweizer Tagsatzung zur Aufhebung desselben zu bewegen, worauf er Genf mit Truppen besetzte. Zwar mußte er es vor den Drohungen Freiburgs bald wieder räumen. Allein der Bischof gab sich zum Werkzeug des Herzogs her, Berthelier wurde enthauptet, und mehrere Jahre lastete die Tyrannei Savoyens auf der Stadt, bis es dem entflohenen Bezanson Hugues gelang, außer Freiburg auch Bern [* 17] zu einem Bund mit Genf zu gewinnen. Als nunmehr die Bürgerschaft die Gewalt des Vidomne und Bischofs nicht mehr anerkannte, verließ letzterer die Stadt, und diese wurde von dem »Löffelbund«, einer
[* 1] ^[Abb.: Wappen [* 18] von Genf.] ¶
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Verbindung des savoyischen Adels, schwer bedrängt, bis ein Auszug Berns und Freiburgs den Herzog zwang, im Frieden von St.-Julien Genfs Unabhängigkeit anzuerkennen. Die Reformation stürzte in neue Wirren. Während Bern für Farel freie Predigt verlangte, forderte Freiburg, daß man sie ihm verbiete, und erklärte, als der Rat von Genf schwankte, sein Bündnis für erloschen (Mai 1534). Dies ermutigte den Herzog, im Einverständnis mit den katholischen Schweizer Kantonen seine Pläne gegen Genf, das sich jetzt ganz der Reformation zuwandte, wieder aufzunehmen, und er brachte es wieder in die größte Not.
Als Frankreich Miene machte, die Stadt zu besetzen, kam ihm Bern zuvor, nahm dem Herzog die Waadt weg und befreite Genf (Februar 1536). Im Juli d. J. kam Calvin nach Genf und begann, von Farel festgehalten, eine völlige Umgestaltung des politischen und sozialen Lebens in theokratischem Sinn. Der von dem Konsistorium, welches aus den Geistlichen und zwölf »Ältesten« bestand, gehandhabte Sitten- und Glaubenszwang, die Verpönung der unschuldigsten Vergnügen, von Volksfesten, Theater, Tanz etc., erregten den Widerstand einer Freiheitspartei, der »Libertins«, unter denen sich die angesehensten Genfer Bürger befanden.
Nachdem Calvin 1538 mit Farel vertrieben worden war, kehrte er 1541 zurück, konnte aber sein System nur durch eine Schreckensherrschaft halten, welche er mit Hilfe der auf seine Fürsprache hin zahlreich eingebürgerten fremden Religionsflüchtlinge gegen die alten Genfer Familien ins Werk setzte. Viele, die nicht rechtzeitig flohen, mußten das Schafott besteigen, so ein Sohn des Freiheitsmärtyrers Berthelier, und Hunderte von Familien verließen die Stadt. So gelang es Calvin, sich seit 1555 zum allmächtigen Beherrscher Genfs aufzuschwingen, das er dafür zum Mittelpunkt der reformierten Welt, zum »protestantischen Rom«, [* 20] erhob. 1559 gründete er die berühmte Akademie, die Pflanzschule für reformierte Geistliche Frankreichs, der Niederlande, [* 21] Englands und Schottlands.
Nach seinem Tod 1564 folgte ihm als Vorsteher der Genfer Kirche und Akademie Theodor Beza (gest. 1605). Genfs Anschluß an die Schweiz wurde durch ein »ewiges Burgrecht« mit Bern und Zürich [* 22] vom noch enger; um so hartnäckiger aber wiesen die fünf katholischen Orte alle Anträge zur Aufnahme der Stadt als eines Gliedes der gesamten Eidgenossenschaft zurück, ja die mit ihnen seit 1560 im Bund stehenden Herzöge von Savoyen bedrohten Genfs Freiheit neuerdings. In der Nacht vom 11. zum 12. Dez. (alten Kalenders) 1602 suchte Karl Emanuel die Stadt zu überrumpeln; schon hatten 300 Savoyarden mittels geschwärzter Leitern die Mauern erstiegen, als sie entdeckt und aufgerieben wurden. Noch immer feiert Genf den Jahrestag dieser glücklich abgeschlagenen »Eskalade«.
Auch in Genf gestaltete sich nach der Reformation das Staatswesen immer aristokratischer. Die Erwerbung des Bürgerrechts wurde fast unmöglich gemacht; die Befugnisse der allgemeinen Bürgerversammlung (Conseil général) beschränkten sich zuletzt darauf, daß sie die vier Syndiken, die höchsten Beamten, nach den Vorschlägen der Räte wählen durfte. Die Staatshoheit ging völlig auf den Kleinen Rat und den Rat der Zweihundert über, die sich an den jährlichen Wahltagen gegenseitig bestätigten und die leeren Plätze mit Verwandten füllten.
Die Einwohnerschaft aber schied sich in bestimmte Rangklassen. Von den alten, reichen, regimentsfähigen Familien, den Citoyens, unterschied man die später Eingebürgerten als Bourgeois. Ganz außerhalb der Bürgerschaft standen die zahlreichen Natifs, d. h. die in Genf gebornen Nachkommen von nicht eingebürgerten Einwohnern, und die bloßen Habitants, die gegen eine Abgabe in der Stadt geduldeten Ansässigen; beide Klassen waren nicht nur von allen Staatsstellen, sondern auch vom Handel und den höhern Berufsarten ausgeschlossen.
Dazu kamen noch die Sujets, die Bewohner der wenigen der Stadt unterthänigen Ortschaften. Aber mit dem 18. Jahrh. begann Genf durch eine Reihe von revolutionären Bewegungen die Aufmerksamkeit Europas auf sich zu ziehen. 1707 verlangte die Bürgerschaft unter der Führung des Rechtsgelehrten und Ratsmitgliedes Fatio eine auf dem Prinzip der unzerstörbaren Volkssouveränität aufgebaute Verfassung; die Räte wußten jedoch dieselbe durch einige Konzessionen zu teilen, worauf Fatio u. a. wegen angeblicher Verschwörung hingerichtet wurden. 1734 kam es zu neuen Unruhen zwischen den sogen. Représentants, d. h. Bürgern, welche Beschwerden gegen die Regierung erhoben, den Négatifs, den Anhängern der letztern, welche jenen Vorstellungen kein Gehör [* 23] geben wollten, und den Natifs, die bald zu den erstern, bald zu den letztern standen.
Erst nach dreijährigem Bürgerzwist kam durch die Vermittelung Frankreichs, Berns und Zürichs 1738 ein Vergleich zu stande, welcher der Bürgergemeinde das Recht, über Krieg und Frieden, Gesetze und Steuern zu bestimmen, zurückgab, dessen Weisheit von J. J. Rousseau gepriesen wird. Nun herrschte in Genf ungestörte Ruhe, bis die Verurteilung von Rousseaus »Émile« und »Contrat social« 1763 den Kampf zwischen den Représentants und Négatifs erneuerte, infolgedessen 1768 der Conseil général das Recht erlangte, die Hälfte der Mitglieder der Zweihundert zu wählen.
Nun traten auch die Natifs mit dem Verlangen nach Besserstellung auf; als der Rat sich weigerte, Zugeständnisse, die sie mit Hilfe der Représentants von der Bürgergemeinde erlangt hatten, zu bestätigen, vereinten sich die beiden Parteien zum Sturz der Regierung und übergaben die Staatsleitung einem »Sicherheitsausschuß« Aber auf Einladung der gestürzten Machthaber rückten 6000 Franzosen, 3000 Berner und 2500 Sardinier in die Stadt ein, die Führer der Volkspartei, Clavière, Duroveray, Dumont, Reybaz u. a., flohen, um später als Mitarbeiter Mirabeaus eine bedeutende Rolle in der französischen Revolution zu spielen, und der alte Zustand wurde wiederhergestellt (Juli 1782). Erst die französische Revolution brachte die herrschende Aristokratie zum Nachgeben; gewährte die Regierung eine freiheitliche Verfassung.
Aber das Revolutionsfieber war damit nicht gestillt; schon traten revolutionäre »Ausschüsse« an Stelle der gesetzlichen Regierung, und ein »Nationalkonvent« arbeitete eine Verfassung aus, die, angenommen, alle Klassenunterschiede aufhob. Genf hatte seine Klubs, seine Montagnards, seine Sansculotten und nach einem Pöbelaufstand auch seine Schreckenszeit, in welcher ein Revolutionstribunal binnen 18 Tagen 37 Personen zum Tod verurteilte, wovon 11 hingerichtet wurden, dann nach Robespierres Sturz seine ebenfalls nicht unblutige Gegenrevolution. Erst 1796 kehrten geordnete Zustände zurück. Nachdem ein erster Versuch der französischen Republik, sich Genfs zu bemächtigen, an der Wachsamkeit Berns und Zürichs gescheitert war (September 1792), wurde nach dem Einrücken der französischen Heere in die Schweiz die Annexion gewaltsam vollzogen ¶