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des Kantons Genf beläuft sich auf (1880) 101,595 Seelen. Bei 85 Proz. der Bevölkerung ist das Französische, bei 11 Proz. das Deutsche, bei 2 Proz. das Italienische die Muttersprache. Im J. 1880 zählte man 51,557 Katholiken, 48,359 Protestanten (Reformierte), 662 Juden. Das katholische Bekenntnis herrscht mehr in Carouge und den Landgemeinden, besonders des linken Ufers, das reformierte in der Hauptstadt und deren neuen Vorstädten Plainpalais und Eaux Vives. Die Genfer Katholiken waren bisher dem Bistum Freiburg-Lausanne zugeteilt; über den durch die Ernennung eines besondern Bischofs für Genf neuerlich entstandenen Konflikt s. unten (Geschichte).
Infolgedessen setzt ein Statut vom fest, daß die katholischen Pfarrer und Vikare von den katholischen Wählern ernannt werden, daß nur der vom Staat anerkannte Diözesanbischof die bischöfliche Jurisdiktion und Verwaltung handhaben kann, daß die katholischen Gemeinden einer schweizerischen Diözese angehören müssen und der Bischofsitz nicht in den Kanton Genf verlegt werden darf. Es gibt im Kanton nur noch ein Kloster (in Carouge). Die Verwaltung der protestantischen Nationalkirche übt ein Konsistorium von 25 weltlichen und 6 geistlichen Mitgliedern, welche von der Gesamtheit der stimmfähigen Konfessionsangehörigen auf je vier Jahre gewählt werden.
In dem milden Thalgelände sind Gärtnerei, Obst- und Weinbau die Haupterwerbszweige. 83 Proz. des Areals sind produktives Land; davon entfallen auf Äcker, Gärten und Weiden 197 qkm, auf Waldungen 21 qkm, auf Weinberge 14,8 qkm. Zu dieser Urproduktion hat die neuere Zeit eine großartige Uhrmacherei und Bijouterie gesellt, die selbst im Land Faucigny (Savoyen) 2000 Arbeiter beschäftigt. Genf pflegt insbesondere das Fach der teurern dekorierten Uhren, während die gewöhnlichen goldenen oder silbernen Taschenuhren in den jurassischen Gebieten und in Besançon verfertigt werden.
Die jährliche Produktion bewegt sich gegenwärtig um 10 Mill. Frank, diejenige in Schmuckwaren um 10-12 Mill. Andre Gewerbe, wie Töpferei, Parketterie, Gerberei etc., sind hauptsächlich in der nahen Arbeiterstadt Carouge angesiedelt. Genf bildet das Thor, durch welches der schweizerische Handel mit Lyon, Marseille, Spanien, Algerien etc. pulsiert; ja, solange nicht die direkte Schienenverbindung des St. Gotthard geöffnet war, bildete es auch die bequemste Pforte nach den östlichen Mittelmeerländern und dem fernern Orient.
Nach Paris ist die direkte Linie (über den Col de Faucille) durch die Bahnverbindung überholt. Von der Genf-Lyoner Bahn zweigt (in Culoz) die Bahn nach dem Mont Cenis ab. Von Genf führt eine Linie der Suisse Occidentale den See entlang nach Morges-Lausanne, teils zur Verbindung mit der Nord- und Ostschweiz, teils zum Anschluß an die zum Simplon strebende Walliser Ligne d'Italie. Diesen Anschluß vermitteln teils die Dampfschiffahrt des Sees, welche in Bouveret direkt mit der Ligne d'Italie verkehrt, teils die Uferbahn Lausanne-Vevey-Villeneuve, welche in St.-Maurice einmündet.
Zur Förderung des Handels dienen mehrere Banken in der Stadt Genf, darunter die Banque du commerce mit einem Kapital von 10 Mill. Fr. Der Kanton besitzt eine Menge öffentlicher Schulen und Privatinstitute, an der Spitze jener die 1559 gegründete, jetzt zur Universität umgetaufte Akademie, welche 1886: 21 Dozenten und 330 Studierende (dazu 216 Hörer) zählte. Außer den Sekundärschulen bestehen zwei Collèges in der Stadt Genf und eins in Carouge, ferner zu Genf eine Industrie- und Handelsschule und ein Gymnasium, ein Observatorium, eine vom Staat unterstützte Taubstummenanstalt etc. Die Bürgerbibliothek, eine Stiftung Bonnivards, zählt 81,000, die Société de Lecture 62,000, die sämtlichen öffentlichen Bibliotheken des Kantons zusammen 235,300 Bände.
Die gegenwärtig in Kraft bestehende Verfassung des Kantons Genf wurde vom Volk angenommen, seither wiederholt revidiert. Zufolge derselben bildet die Republik Genf einen Kanton der schweizerischen Eidgenossenschaft von demokratischer Form. Garantiert sind die in den Schweizer Republiken üblichen Grundrechte. Die Souveränität ruht in der Gesamtheit der stimmfähigen Einwohner; diese stimmen als Conseil général über Kantonal- und Bundesverfassung ab. Das Organ der legislativen Gewalt ist der Grand Conseil, welcher von den drei Bezirken (Stadt, rechtes und linkes Ufer) auf je zwei Jahre nach Verhältnis der Kopfzahl gewählt wird. Es kommt je ein Mitglied auf 1000 Seelen, solange nicht die Zahl der Mitglieder 100 übersteigt; von da an wird die Skala entsprechend reduziert.
Wählbar sind die Bürger weltlichen Standes, sofern sie das 25. Altersjahr zurückgelegt haben und im Vollgenuß ihrer Wahlrechte stehen. Der Grand Conseil versammelt sich ordentlicherweise zweimal jährlich. Das Initiativrecht üben der Staatsrat und die Mitglieder des Grand Conseil; die Vorschläge der letztern können an eine Legislativkommission gewiesen werden. Seit 1879 besteht das fakultative Referendum; eine Zahl von 3500 Wählern genügt, um die Abstimmung zu verlangen.
Der Grand Conseil übt das Begnadigungsrecht, überwacht und bestimmt den jährlichen Staatshaushalt, ernennt die Abgeordneten in den eidgenössischen Ständerat etc. Die Exekutivgewalt ist einem Conseil d'État von sieben Mitgliedern übertragen, die durch den Conseil général auf je zwei Jahre, abwechselnd mit den Wahlen in den Großen Rat, gewählt werden. Wählbar sind die Wähler weltlichen Standes, sofern sie das 27. Altersjahr zurückgelegt haben. Die Gesetzgebung ordnet die Rechtspflege, alle Richter werden vom Großen Rat gewählt.
Das Schwurgericht für Strafsachen und das Institut der Friedensrichter sind garantiert. Jede Gemeinde hat einen Conseil municipal, der je auf vier Jahre gewählt wird. In der Stadt Genf ist die Munizipalverwaltung einem Conseil administratif übertragen, der durch den Munizipalrat aus der eignen Mitte bestellt wird. Der Staat sorgt für den Primär-, Sekundär- und akademischen Unterricht; der Primärunterricht ist unentgeltlich (und seit 1872 auch obligatorisch).
Die Verfassung kann jederzeit (nach bestimmtem Modus) revidiert werden. Die Staatsrechnung von 1884 (Einnahmen 4,483,027 Fr., Ausgaben 5,546,920 Fr.) ergab ein Defizit von 1,063,893 Fr. Unter den Einnahmen ist der stärkste Posten Enregistrement, Timbres etc. mit 1,485,177;
dann folgen Mobiliartaxe mit ca. 800,000 Fr., Contribution foncière mit über 600,000 Fr. etc. Den stärksten Ausgabeposten verursachte die Verzinsung und Amortisation der Staatsschuld mit 903,585 Fr.;
dann folgt der Unterricht mit 381,050 für die Primärschule, 365,400 für die Universität etc. Auch der Staat Genf beanspruchte unter dem Titel einer Erbschaftssteuer einen Teil des großen Vermögens, welches der am verstorbene Herzog Karl von Braunschweig der Stadt hinterließ;
er ließ sich mit einer Summe von 2,400,000 Fr. abfinden, und der Anteil der Stadt Genf beläuft sich auf ca. 20 Mill. Fr.
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Die Stadt Genf.
Die Stadt Genf am Ausfluß des Rhône aus dem Genfer See ist das »schweizerische Paris«. Der belebte See mit seinen reizenden Ufern, der Wasserschwall des klargrünen Stroms, die Firsten der Jurakette im N., der schroffe Salève im S., dahinter die Firne des Montblanc, dazu die stolze Stadt selbst, das rege öffentliche und wissenschaftliche Leben, der Reichtum, die Eleganz: das alles macht Genf zu einem der reizendsten Plätze des Erdbodens, und darum auch ist es schon lange der Aufenthalt vieler Fremden von Rang und Bedeutung.
Die stärkere Stadthälfte (la vieille Cité), der Sitz der vornehmen Bevölkerung, ist auf dem steilen linken Ufer erbaut; gegenüber, auf flacherm Gelände, liegt St.-Gervais, jetzt aus einem sonst unansehnlichen Arbeiterviertel erweitert und verschönert. Der enge und bei den hoch getürmten Häusermassen ziemlich finstere Stadtkern hat neuerdings durch Schleifung der Festungswerke und Abdämmungen des Sees ganz außerordentliche Erweiterungen erhalten und ist mit neuen Straßenreihen und Stadtteilen ausgestattet worden.
Nach Carouge und Chêne führen Pferdebahnen. In dem Rhône liegt das Quartier l'Ile, welches durch Brücken mit den beiden Uferstädten in Verbindung steht. Unter den sechs Rhônebrücken ist die neue, prächtige, in zwölf leicht geschwungenen Bogen übersetzende Montblancbrücke dem See am nächsten. Zwischen dieser und dem Pont des Bergues, von letzterm aus zugänglich und eine kostbare Aussicht über den See, die beiden Uferseiten und das Gebirge darbietend, liegt die von Bäumen überschattete Rousseau-Insel, wo eine Bildsäule von Pradier an den Philosophen erinnert. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören, außer den großartigen neuen Stadtteilen und Kais beider Ufer und außer manchen Privatpalästen, der St. Petersdom, die Kirche Notre Dame, das Rathaus, der botanische Garten, das neuerbaute Athenäum (für permanente Gemäldeausstellungen), der Englische Garten, das nach seinem Gründer benannte Musée Rath mit Kunstschätzen, das nach dem Vorbild der Neuen Oper in Paris erbaute Theater (1879), das Kantonsspital, das Nationaldenkmal von Dorer (1871) zum Andenken an die Vereinigung des Kantons Genf mit der Schweiz das Reiterstandbild des Herzogs Karl von Braunschweig von Cain (1879, im Jardin des Alpes) und des Generals Dufour (Place neuve), das Hôtel des Bergues auf dem rechten, das Hôtel de la Métropole auf dem linken Ufer, die neue großartige Machine hydraulique inmitten des Rhône, welche mittels 20 Turbinen die Stadt mit Wasser versieht.
Der erwähnte, den Reformierten gehörende Dom St.-Pierre, mit drei Türmen, liegt auf dem höchsten Punkte der Cité und wurde 1124 im Übergangsstil vollendet, im 18. Jahrh. jedoch durch geschmacklose Anbauten verunstaltet; er enthält im Innern gute Holzschnitzereien und die Grabmäler des Herzogs von Rohan (Chefs der Protestanten unter Ludwig XIII.) und des Agrippa d'Aubigné (des Freundes Heinrichs IV.). Unter den Privatgebäuden bieten das ehemalige Wohnhaus Calvins (Rue Calvin) und das Geburtshaus Rousseaus (Grande Rue) das meiste Interesse.
Erwähnung verdient auch das 13 m lange, 0,8 m hohe, in Lindenholz geschnitzte Montblancrelief im Englischen Garten, eine Arbeit von Sené. Die Stadt zählt (1880) 50,043, mit den Vorstädten Plainpalais und Eaux Vives 68,328 Einw. Dem Reichtum der Stadt entsprechend ist die Zahl der wohlthätigen Anstalten, die zum Teil städtisch (wie das große Bürgerhospital, das, mit einem Fonds von 3½ Mill. Fr. dotiert, jährlich an 800 Personen verpflegt, das Irrenhaus, die Anstalt für Unheilbare, die neue Waisenanstalt u. a.), zum großen Teil auch Privatanstalten sind. Wie ehedem, ist auch heute noch Genf die Burg des Protestantismus für die Schweiz und die westlich und südlich angrenzenden Länder, und es zeugen für den keineswegs erkalteten religiösen Eifer die vielen Sekten und die vielen religiösen Gesellschaften.
Geschichte der Stadt und des Kantons Genf.
Genf (Genava) erscheint zuerst in der Geschichte als befestigte Grenzstadt der Allobroger gegen die Helvetier und gelangte mit jenen um 120 v. Chr. unter die Herrschaft der Römer.
Von Genf aus hinderte Cäsar 58 v. Chr. den Übergang der Helvetier über den Rhône. Früh drang das Christentum von Lyon her in die Stadt, welche angeblich schon 381 Sitz eines Bischofs wurde. 443 fiel an die Burgunder und wurde eine ihrer Hauptstädte; 532 kam es mit Burgund an die Franken, 888 an das neuburgundische und 1032 mit diesem an das Deutsche Reich. Frühzeitig erlangten die Bischöfe der Stadt ihre Befreiung von der Gerichtsbarkeit der Grafen des Genfer Gaues (pagus genevensis, Genévois), und Friedrich Barbarossa erkannte sie förmlich als Fürsten von an (1162); doch hatten sie stets gegen die Übergriffe der Grafen von Genf zu kämpfen, bis diese durch die mächtigern Grafen von Savoyen beiseite geschoben wurden, welche 1290 das Recht erlangten, den »Vidomne« (vicedominus) zu setzen, der im Namen des Bischofs den weltlichen Bewohnern der Stadt Recht sprach. Um dieselbe Zeit legte die Genfer Bürgerschaft den Grund zu ihrer Freiheit, indem sie sich einen Rat mit »Syndiken« an der Spitze gab, eine Organisation, die der Bischof 1309 anerkannte; 1364 besaß sie schon den Blutbann.
Nachdem aber das Haus Savoyen durch das Erlöschen der Grafen von in den Besitz der Landschaft Genévois gekommen war und den Herzogstitel erlangt hatte (1416), trachtete es danach, die Stadt, die gleichsam den Schlußstein seines den Genfer See umgebenden Gebiets bildete, ganz in seine Gewalt zu bringen. Die Gefälligkeit der römischen Kurie ermöglichte es den Herzögen, den Bischofsstuhl gegen Ende des 15. Jahrh. mit jüngern Söhnen oder Bastarden ihrer Familie zu besetzen; aber an dem Freiheitssinn der Genfer Bürgerschaft scheiterten alle ihre Anschläge.
Der patriotische Verein der »Kinder Genfs« (enfants de Genève) suchte, geleitet von Philipp Berthelier, Bezanson Hugues und Bonivard, gegen die Gewaltthaten Herzog Karls III. (1504-53) Rettung durch Anschluß an die Eidgenossenschaft. Als sich Freiburg 1519 zu einem Bündnis bewegen ließ, gelang es dem Herzog, die Schweizer Tagsatzung zur Aufhebung desselben zu bewegen, worauf er Genf mit Truppen besetzte. Zwar mußte er es vor den Drohungen Freiburgs bald wieder räumen. Allein der Bischof gab sich zum Werkzeug des Herzogs her, Berthelier wurde enthauptet, und mehrere Jahre lastete die Tyrannei Savoyens auf der Stadt, bis es dem entflohenen Bezanson Hugues gelang, außer Freiburg auch Bern zu einem Bund mit Genf zu gewinnen. Als nunmehr die Bürgerschaft die Gewalt des Vidomne und Bischofs nicht mehr anerkannte, verließ letzterer die Stadt, und diese wurde von dem »Löffelbund«, einer
[* ] ^[Abb.: Wappen von Genf.]
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Verbindung des savoyischen Adels, schwer bedrängt, bis ein Auszug Berns und Freiburgs den Herzog zwang, im Frieden von St.-Julien Genfs Unabhängigkeit anzuerkennen. Die Reformation stürzte in neue Wirren. Während Bern für Farel freie Predigt verlangte, forderte Freiburg, daß man sie ihm verbiete, und erklärte, als der Rat von Genf schwankte, sein Bündnis für erloschen (Mai 1534). Dies ermutigte den Herzog, im Einverständnis mit den katholischen Schweizer Kantonen seine Pläne gegen Genf, das sich jetzt ganz der Reformation zuwandte, wieder aufzunehmen, und er brachte es wieder in die größte Not.
Als Frankreich Miene machte, die Stadt zu besetzen, kam ihm Bern zuvor, nahm dem Herzog die Waadt weg und befreite Genf (Februar 1536). Im Juli d. J. kam Calvin nach Genf und begann, von Farel festgehalten, eine völlige Umgestaltung des politischen und sozialen Lebens in theokratischem Sinn. Der von dem Konsistorium, welches aus den Geistlichen und zwölf »Ältesten« bestand, gehandhabte Sitten- und Glaubenszwang, die Verpönung der unschuldigsten Vergnügen, von Volksfesten, Theater, Tanz etc., erregten den Widerstand einer Freiheitspartei, der »Libertins«, unter denen sich die angesehensten Genfer Bürger befanden.
Nachdem Calvin 1538 mit Farel vertrieben worden war, kehrte er 1541 zurück, konnte aber sein System nur durch eine Schreckensherrschaft halten, welche er mit Hilfe der auf seine Fürsprache hin zahlreich eingebürgerten fremden Religionsflüchtlinge gegen die alten Genfer Familien ins Werk setzte. Viele, die nicht rechtzeitig flohen, mußten das Schafott besteigen, so ein Sohn des Freiheitsmärtyrers Berthelier, und Hunderte von Familien verließen die Stadt. So gelang es Calvin, sich seit 1555 zum allmächtigen Beherrscher Genfs aufzuschwingen, das er dafür zum Mittelpunkt der reformierten Welt, zum »protestantischen Rom«, erhob. 1559 gründete er die berühmte Akademie, die Pflanzschule für reformierte Geistliche Frankreichs, der Niederlande, Englands und Schottlands.
Nach seinem Tod 1564 folgte ihm als Vorsteher der Genfer Kirche und Akademie Theodor Beza (gest. 1605). Genfs Anschluß an die Schweiz wurde durch ein »ewiges Burgrecht« mit Bern und Zürich vom noch enger; um so hartnäckiger aber wiesen die fünf katholischen Orte alle Anträge zur Aufnahme der Stadt als eines Gliedes der gesamten Eidgenossenschaft zurück, ja die mit ihnen seit 1560 im Bund stehenden Herzöge von Savoyen bedrohten Genfs Freiheit neuerdings. In der Nacht vom 11. zum 12. Dez. (alten Kalenders) 1602 suchte Karl Emanuel die Stadt zu überrumpeln; schon hatten 300 Savoyarden mittels geschwärzter Leitern die Mauern erstiegen, als sie entdeckt und aufgerieben wurden. Noch immer feiert Genf den Jahrestag dieser glücklich abgeschlagenen »Eskalade«.
Auch in Genf gestaltete sich nach der Reformation das Staatswesen immer aristokratischer. Die Erwerbung des Bürgerrechts wurde fast unmöglich gemacht; die Befugnisse der allgemeinen Bürgerversammlung (Conseil général) beschränkten sich zuletzt darauf, daß sie die vier Syndiken, die höchsten Beamten, nach den Vorschlägen der Räte wählen durfte. Die Staatshoheit ging völlig auf den Kleinen Rat und den Rat der Zweihundert über, die sich an den jährlichen Wahltagen gegenseitig bestätigten und die leeren Plätze mit Verwandten füllten.
Die Einwohnerschaft aber schied sich in bestimmte Rangklassen. Von den alten, reichen, regimentsfähigen Familien, den Citoyens, unterschied man die später Eingebürgerten als Bourgeois. Ganz außerhalb der Bürgerschaft standen die zahlreichen Natifs, d. h. die in Genf gebornen Nachkommen von nicht eingebürgerten Einwohnern, und die bloßen Habitants, die gegen eine Abgabe in der Stadt geduldeten Ansässigen; beide Klassen waren nicht nur von allen Staatsstellen, sondern auch vom Handel und den höhern Berufsarten ausgeschlossen.
Dazu kamen noch die Sujets, die Bewohner der wenigen der Stadt unterthänigen Ortschaften. Aber mit dem 18. Jahrh. begann Genf durch eine Reihe von revolutionären Bewegungen die Aufmerksamkeit Europas auf sich zu ziehen. 1707 verlangte die Bürgerschaft unter der Führung des Rechtsgelehrten und Ratsmitgliedes Fatio eine auf dem Prinzip der unzerstörbaren Volkssouveränität aufgebaute Verfassung; die Räte wußten jedoch dieselbe durch einige Konzessionen zu teilen, worauf Fatio u. a. wegen angeblicher Verschwörung hingerichtet wurden. 1734 kam es zu neuen Unruhen zwischen den sogen. Représentants, d. h. Bürgern, welche Beschwerden gegen die Regierung erhoben, den Négatifs, den Anhängern der letztern, welche jenen Vorstellungen kein Gehör geben wollten, und den Natifs, die bald zu den erstern, bald zu den letztern standen.
Erst nach dreijährigem Bürgerzwist kam durch die Vermittelung Frankreichs, Berns und Zürichs 1738 ein Vergleich zu stande, welcher der Bürgergemeinde das Recht, über Krieg und Frieden, Gesetze und Steuern zu bestimmen, zurückgab, dessen Weisheit von J. J. Rousseau gepriesen wird. Nun herrschte in Genf ungestörte Ruhe, bis die Verurteilung von Rousseaus »Émile« und »Contrat social« 1763 den Kampf zwischen den Représentants und Négatifs erneuerte, infolgedessen 1768 der Conseil général das Recht erlangte, die Hälfte der Mitglieder der Zweihundert zu wählen.
Nun traten auch die Natifs mit dem Verlangen nach Besserstellung auf; als der Rat sich weigerte, Zugeständnisse, die sie mit Hilfe der Représentants von der Bürgergemeinde erlangt hatten, zu bestätigen, vereinten sich die beiden Parteien zum Sturz der Regierung und übergaben die Staatsleitung einem »Sicherheitsausschuß« Aber auf Einladung der gestürzten Machthaber rückten 6000 Franzosen, 3000 Berner und 2500 Sardinier in die Stadt ein, die Führer der Volkspartei, Clavière, Duroveray, Dumont, Reybaz u. a., flohen, um später als Mitarbeiter Mirabeaus eine bedeutende Rolle in der französischen Revolution zu spielen, und der alte Zustand wurde wiederhergestellt (Juli 1782). Erst die französische Revolution brachte die herrschende Aristokratie zum Nachgeben; gewährte die Regierung eine freiheitliche Verfassung.
Aber das Revolutionsfieber war damit nicht gestillt; schon traten revolutionäre »Ausschüsse« an Stelle der gesetzlichen Regierung, und ein »Nationalkonvent« arbeitete eine Verfassung aus, die, angenommen, alle Klassenunterschiede aufhob. Genf hatte seine Klubs, seine Montagnards, seine Sansculotten und nach einem Pöbelaufstand auch seine Schreckenszeit, in welcher ein Revolutionstribunal binnen 18 Tagen 37 Personen zum Tod verurteilte, wovon 11 hingerichtet wurden, dann nach Robespierres Sturz seine ebenfalls nicht unblutige Gegenrevolution. Erst 1796 kehrten geordnete Zustände zurück. Nachdem ein erster Versuch der französischen Republik, sich Genfs zu bemächtigen, an der Wachsamkeit Berns und Zürichs gescheitert war (September 1792), wurde nach dem Einrücken der französischen Heere in die Schweiz die Annexion gewaltsam vollzogen
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Nach dem Sturz Napoleons wurde Genf als 22. Kanton wieder mit der Schweiz vereinigt und von den Mächten am Wiener Kongreß und im zweiten Pariser Frieden mit einer kleinen Gebietsvergrößerung auf Kosten Savoyens und Frankreichs bedacht, die es in direkte Verbindung mit derselben setzte. Nach dem Abzug der französischen Behörden traten die bessern Elemente der Gesellschaft zusammen und oktroyierten der Stadt eine oligarchische Verfassung Die Gewalt lag in den Händen eines »Staatsrats« von 28 lebenslänglichen Mitgliedern; ihm stand zur Seite ein ziemlich ohnmächtiger »Repräsentantenrat« von 250 Mitgliedern, der statt des aufgehobenen Conseil général die Souveränität repräsentierte und durch hohen Zensus und komplizierte Wahlart selbst aristokratischer Natur war.
Aber die leitenden Staatsmänner wußten durch freisinnige und intelligente Handhabung der Verfassung diese Mängel auszugleichen. Wissenschaft und Künste blühten daher in Genf wie nirgends in der Schweiz, und ebenso nahmen Handel, Industrie und Ackerbau großen Aufschwung. Deshalb ließ sich 1830 die Bevölkerung durch einige leichte Modifikationen der Verfassung, wie Herabsetzung des Zensus und Verkürzung der Amtsdauer des Staatsrats auf acht Jahre, befriedigen.
Erst 1841 bildete sich auf die Weigerung der Regierung, der Stadt Genf eine eigne Munizipalbehörde zu gestatten, ein großer Reformverein (Association du 3 mars), den Obersten Rilliet-Constant und den Journalisten James Fazy an der Spitze. Die grundsatzlose Haltung der Regierung in der Aargauer Klosterfrage brachte die Mißstimmung zum Ausbruch; der Verein vom 3. März stellte das Verlangen nach Einberufung eines aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgehenden Verfassungsrats, und ein drohender Volksauflauf zwang Staats- und Repräsentantenrat, demselben nachzugeben (21.-22. Nov.). Die neue vom Volk angenommene Verfassung führte allgemeines Stimmrecht, Repräsentation im Großen Rat nach der Kopfzahl, einen Staatsrat von 15 Mitgliedern mit beschränkter Amtsdauer und Befugnis, Gemeindeautonomie und gesonderte Kirchenverwaltung jeder Konfession ein; aber die Neuwahlen in die Behörden fielen vorwiegend konservativ aus.
Damit waren die Radikalen nicht zufrieden, und kam es zu einem Aufstand des Arbeiterviertels St.-Gervais und zu Kämpfen mit dem Militär, bis die Insurgenten gegen Zusicherung voller Amnestie die Waffen niederlegten. Die Weigerung des Großen Rats, für Auflösung des Sonderbundes zu stimmen, erweckte neue Erbitterung, die sich in stürmischen Volksversammlungen äußerte, und als Fazy, der Führer der Radikalen, verhaftet werden sollte, errichtete das Quartier St.-Gervais Barrikaden und verteidigte sich gegen die Regierungstruppen mit Glück (6.-7. Okt. 1846). Da die übrige Bürgerschaft gegen die Fortsetzung des Kampfes protestierte, legte die Regierung ihre Gewalt in die Hände des Stadtrats nieder.
Eine große Volksversammlung wählte als Conseil général eine provisorische Regierung mit James Fazy an der Spitze und ordnete die Wahl eines neuen Großen Rats an. Die von dem neuen radikalen Großen Rat revidierte und von 5541 gegen 3186 Stimmen angenommene Verfassung übergab dem Volk auch die Wahl des auf 7 Mitglieder reduzierten Staatsrats, welche jährlich mit der des Großen Rats wechseln sollte, setzte die Wahlkreise von 10 auf 3 herab und führte Unentgeltlichkeit des Primärschulunterrichts, Geschwornengerichte und völlige Freiheit auch für den katholischen Kultus ein.
Diese Umwälzung war von höchster Wichtigkeit für die ganze Schweiz, indem mit Genf die nötige Stimmenzahl für Auflösung des Sonderbundes gewonnen wurde. Das neue von dem begabten, aber persönlich nicht makellosen Fazy geleitete radikale Regierungssystem that sein möglichstes, um das altcalvinische in eine glänzende moderne Stadt umzuwandeln. Die Festungswerke wurden geschleift, neue Straßen, Kais, die imposante Montblancbrücke, eine Reihe großartiger öffentlicher Gebäude gebaut, den Katholiken, einem Hauptbestandteil der Fazyaner, ein Teil des öffentlichen Grundes für eine neue Domkirche geschenkt, ein Nationalinstitut für Künste und Wissenschaften errichtet u. a. Allein Fazys verschwenderische Finanzwirtschaft sowie seine diktatorische und nicht immer uneigennützige Haltung entfremdeten ihm einen Teil der Radikalen, der sich mit den Konservativen zu der Partei der »Unabhängigen« vereinte.
Nachdem die Annexion Savoyens von seiten Frankreichs 1861 in dem dadurch bedrohten Genf eine ungemeine Aufregung, die sich in Volksversammlungen und Konflikten mit der Grenzbevölkerung äußerte, hervorgebracht hatte, ward es durch den Sturz Fazys in neue Wirren versetzt. Im Mai 1861 nahm der gesamte Staatsrat seine Entlassung, weil die Geschwornen eine von einem Arbeiter gegen den Diktator verübte Realinjurie nicht als ein Attentat gegen eine funktionierende Magistratsperson beurteilt und bestraft hatten.
Zwar wurden alle Mitglieder wieder gewählt, aber Fazy mit der geringsten Stimmenzahl, und bei den noch im nämlichen Jahr stattfindenden regelmäßigen Neuwahlen sah er sich ganz übergangen wurde auf Betreiben der »Unabhängigen« Revision der Verfassung beschlossen und ein Verfassungsrat gewählt, in welchem sie die Mehrheit erhielten; aber da dessen Werk auf Betreiben der Fazyaner verworfen wurde, blieb die alte Verfassung in Kraft. Auch 1863 blieb Fazy in der Minderheit und ebenso 1864 bei Besetzung einer Vakanz im Staatsrat. Als sich hierauf das Fazyanische Wahlbüreau erlaubte, die Wahl seines Gegners Chenevière wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten zu kassieren, kam es 22. Aug. zu einem blutigen Konflikt zwischen den Parteien. Jetzt wurde Genf mit eidgenössischen Truppen besetzt, Chenevières Wahl vom Bundesrat für gültig erklärt und eine gerichtliche Untersuchung angeordnet, die indes mit Freisprechung sämtlicher Angeklagten endete. Fazys Einfluß aber blieb für immer gebrochen, und Großrats- wie Staatsratswahlen gaben den Independenten das Übergewicht bis 1870. Der kosmopolitische Charakter des neuen Genf erhielt gleichsam seine Sanktion, indem 1864 (8.-21. Aug.) der internationale Kongreß zur Verbesserung des Loses der im Krieg verwundeten Militärs, 1867 der erste Kongreß der internationalen Friedens- und Freiheitsliga, an welchem Garibaldi teilnahm, und 1872 (15.-20. Juni und 15. Juli bis 15. Sept.) das Alabama-Schiedsgericht dort tagten. Am starb der Exherzog Karl von Braunschweig in Genf, indem er die Stadt zur Erbin seines Vermögens einsetzte, welches laut der öffentlichen Abrechnung des Stadtrats vom nach Abzug aller Kosten 16½ Mill. Fr. betrug und für Errichtung eines prachtvollen Denkmals für den Erblasser, für Tilgung von 7 Mill. Fr. Schulden, Erbauung eines neuen Theaters etc. verausgabt wurde.
Nach dem Sturz Fazys hatte sich dessen Partei in ihre Elemente aufgelöst, die Radikalen und die Ultramontanen. Erstere erlangten unter der Leitung Carterets 1870 bei den Großratswahlen den Sieg,
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worauf auch der Staatsrat, dessen »unabhängig« gesinnte Mitglieder dimissionierten, in ihrem Sinn bestellt wurde. Die Carteretsche Regierung erwarb sich Verdienste durch Einführung des obligatorischen Primärschulunterrichts (1872), Erweiterung der alten Genfer Akademie zu einer vollständigen Universität mit vier Fakultäten, die schon jetzt die besuchteste der Schweiz ist (Oktober 1873), hat aber namentlich Aufsehen erregt durch den Kampf, den sie gegen die frühern Bundesgenossen der Radikalen, die Ultramontanen, zu führen hatte, welche unter der Leitung des ehrgeizigen katholischen Stadtpfarrers Kaspar Mermillod das altberühmte Bollwerk des Protestantismus wieder in einen katholischen Bischofsitz umzuwandeln bestrebt waren.
Schon 1864 hatte Bischof Marilley von Freiburg, zu dessen Diözese seit 1819 das katholische Genf gehörte, auf höhere Weisung hin Mermillod als seinem »Hilfsbischof« die bischöflichen Gewalten über Genf delegieren müssen. Als 1871 Marilley auf die direkte Aufforderung des Staatsrats sich weigerte, irgend welche Verantwortlichkeit für den genferischen Teil seiner Diözese zu übernehmen, untersagte jener Mermillod alle bischöflichen Funktionen und entsetzte ihn, da er sich weigerte zu gehorchen, seiner Stelle als Pfarrer Am erfolgte die förmliche Ernennung Mermillods zum apostolischen Vikar von Genf durch den Papst, worauf der Schweizer Bundesrat 11. Febr. diese Ernennung für nichtig erklärte und am 17. wegen der Widersetzlichkeit Mermillods dessen Ausweisung verfügte, die sofort vollzogen wurde. In Genf wurden, nachdem die nationalen Parteien bei den Großratswahlen einen glänzenden Sieg über die Ultramontanen davongetragen, 1873 zwei Gesetze über den katholischen Kultus erlassen (19. Febr. und 27. Aug.), welche auch die Verfassung der katholischen Kirche auf die Gemeinde basierten und von den Geistlichen einen Eid auf die Staatsgesetze verlangten. Alle Pfarrer, die denselben verweigerten, wurden entfernt und, da nur die christ- (alt-) katholische Richtung sich den Gesetzen fügte, diese als Landeskirche anerkannt, während sich die römisch-katholischen Genossenschaften in die Stellung von Privatvereinen gedrängt sahen.
Diese Ereignisse übten eine wohlthätige Rückwirkung auf die Haltung Genfs in eidgenössischen Dingen aus; während es die Bundesverfassung von 1872 als zu zentralistisch mit 7908 gegen 4541 Stimmen verworfen, standen 1874: 9674 Ja 2827 Nein gegenüber. Angesichts der Hetzereien Mermillods vom französischen Gebiet aus hielt der Staatsrat mit eiserner Konsequenz an der von ihm eingenommenen Position fest; die Altkatholiken wurden in ultramontanen Dörfern durch militärisches Einschreiten geschützt, renitente Munizipalbehörden entsetzt und Pfarrer, die Erlasse Mermillods publizierten, dem Strafrichter überwiesen.
Der Große Rat beschloß die religiösen Korporationen, die schon durch ein Gesetz von 1871 beschränkt worden waren, völlig aufzulösen und ihre Güter einzuziehen, und verbot 28. Aug. alle öffentlichen Kultusfunktionen. Die Ohnmacht der Ultramontanen bewirkte allmählich eine Auflösung der gouvernementalen Majorität; es bildete sich eine Koalition der Konservativen und Independenten, welche als »demokratische« Partei der autoritären Politik der Radikalen Opposition machte, bei den Neuwahlen zum Großen Rat 1878 einen völligen und bei denjenigen zum Staatsrat 1879 einen teilweisen Sieg davontrug.
Durch eine angenommene Partialrevision wurde das fakultative Referendum in die Verfassung eingeführt; dagegen verwarf das Volk die von den Ultramontanen, Fazyanern und den protestantischen Orthodoxen angestrebte Aufhebung des Kultusbudgets und die damit verbundene Trennung von Kirche und Staat mit 9306 gegen 4064 Stimmen. Die Neuwahlen zum Großen Rat vom sicherten der Carteretschen Richtung wieder eine überwiegende Majorität.
Vgl. »Mémoires et documents pour servir à l'histoire de Genève« (Genf 1842 ff.);
Thourel, Histoire de Genève (das. 1833, 3 Bde.);
Pictet de Sergy, Genève, origine et développement de cette république (das. 1842-47, 2 Bde., bis 1532 reichend; mit der Fortsetzung von Gaullieur bis 1856, das. 1856);
Roget, Histoire du peuple de Genève depuis la réforme (das. 1870-83, 7 Bde.);
Galiffe, Quelques pages d'histoire de Genève (das. 1863);
Derselbe, Genève historique et archéologique (das. 1872);
Pictet de Sergy, Genève ressuscitée le 31 déc. 1813 (das. 1869);
Blavignac, Études sur Genève depuis l'antiquité jusqu'à nos jours (das. 1872, 2 Bde.);
Le Fort, L'émancipation politique de Genève (das. 1883);
Cherbuliez, Genève, ses institutions, ses mœurs, etc. (das. 1868);
Marc Monnier, Genève et ses poètes (das. 1875);
Montet, Dictionnaire des Genévois et des Vaudois, etc. (Lausanne 1878, 2 Bde.).