Erscheinungen gehen können, bei anscheinend normalem Befinden des Körpers und Geistes auftreten und auch durch eine einseitige
Erregbarkeit von Gehirnteilen wohl erklärbar sind. Das Widersinnige in der Annahme, daß wirkliche Geister gesehen werder könnten,
liegt dabei weniger in dem Glauben, daß Geister existieren, als vielmehr in der Annahme, wenn solche immaterielle
Wesen wirklich existieren, mit ihnen auf materielle Weise, nämlich durch das körperliche Gefühls-, Gehörs- oder Tastorgan,
in Verkehr treten zu können.
Daher nehmen auch die modernen Geisterbeschwörer eine vorhergehende Materialisation der Geister an. Den Glauben an Geisterseherei teilen
nicht nur fast alle Religionen, sondern (mit Ausnahme derjenigen, welche die körperliche Materie für
das einzige Wirkliche erklären) sämtliche dualistische und spiritualistische Metaphysiker, mögen dieselben monistisch oder
pluralistisch sein, d. h. nur einen einzigen Geist (Allgeist) oder unzählige Einzelgeister (Monaden) anerkennen; von letzterer
Annahme aber haben sich mit Ausnahme der Geisterbeschwörer und Spiritisten wenigstens die Philosophen freigehalten.
Dieselben verwarfen die Annahme eines unmittelbaren Verkehrs mit der Geisterwelt entweder ganz, oder sie
ließen einen solchen doch nur auf immateriellem Weg durch ein innerliches Sehen, Hören oder Fühlen in mystischer Weise zu.
Ein solcher nur intellektueller Verkehr von Geist zu Geist kann wohl ein (allerdings problematisches) Sehertum des Geistes, auf
keine Weise jedoch Geisterseherei genannt werden. Diese umfaßt nur die Fälle, in welchen angeblich übersinnliche
Geister mit sinnlichem (leiblichem) Auge (Ohr, Tastorgan) wahrgenommen werden sollen.
Der Glaube an Geistererscheinungen spielt nicht nur in den meisten alten Religionen eine Rolle, wie z. B. bei Griechen, Römern,
Juden etc. (s. Nekromantie und Dämon), sondern hat sich auch im Christentum und um so leichter behaupten
können, als die ältern Kirchenväter, z. B. Lactantius, die Nekromantie geradezu als Beweismittel für die Fortdauer der Seelen
nach dem Tod, spätere Kirchenlehrer für das Dasein des Fegfeuers und des Teufels anriefen. Während es in neuerer Zeit schien,
als wollte die sogen. Aufklärungsperiode diesen Glauben unter den Kulturvölkern ausrotten, so daß er
nur noch in Volkssagen, wie die von den Sonntagskindern, denen die Gabe des Geistersehens angeboren sein sollte etc., fortleben
könnte, nahm derselbe vielmehr gegen Ende des vorigen Jahrhunderts einen neuen Aufschwung, den man wohl als eine Reaktion
gegen die Bemühungen der Aufklärer ansehen darf. Es kamen die Zeiten, in denen Swedenborg Anhänger für
seine durch den Verkehr mit Geistern erhaltenen religiösen Offenbarungen warb, in denen Lavater und Jung-Stilling versuchten,
eine neue Theorie für die Lehren der Geisterseherei aufzustellen.
Der erstere behauptet in seiner Übersetzung von Bonnets »Palingénésie« (1796) die sinnliche Wahrnehmbarkeit der
übersinnlichen Geisterwelt, indem er seine darauf bezügliche Theorie an Bonnets Lehre von der Unsterblichkeit des in feinerer
Gestalt als Nervengeist seine Seele auch nach dem Tod noch umhüllenden Körpers anschloß. Jung-Stilling aber sprach in seiner
Schrift »Leben und Verwandtschaft« (1778) als seine Überzeugung aus, daß Gott, eine Art von menschlicher
Gestalt annehmend, in die unbedeutendsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens unmittelbar eingreife und die Dinge in ganz
körperlich handgreiflicher Weise regiere.
Diese und ähnliche Lehren fanden trotzdem, daß das Zeitalter der Aufklärung huldigte,
besonders in der Zeit von 1770 bis 1785 im
protestantischen Deutschland, wo sich in tonangebenden Kreisen im Gegensatz zu der französischen Frivolität
hier und da eine starke Neigung zu sentimental-religiöser Schwärmerei kundgab, williges Gehör, und es wird daher begreiflich,
wie Gaukler von Profession, ein Pater Gaßner, Cagliostro u. a., jahrelang das Interesse selbst der gebildeten Welt in Anspruch
nehmen konnten.
Einen weitern Aufschwung nahmen diese Phantastereien durch Mesmers angebliche Entdeckung des tierischen
Magnetismus, dessen vermeintliche Thatsachen mystischen und schwärmerischen, aber auch betrügerischen Bestrebungen ein willkommenes
Feld darboten. Seitdem hat sich der Glaube an die Möglichkeit eines Verkehrs mit der übersinnlichen Welt zu einer besondern
Doktrin entwickelt, die sich mehr und mehr von der Verbindung mit den alten Religionsvorstellungen losmacht
und einem auf diesem Verkehr begründeten neuen Religionssystem zustrebt, welches namentlich in Amerika einen großen Anhängerkreis
gewonnen hat. S. Spiritismus. Die sichtbaren und namentlich die ungerufen erscheinenden Schreckbilder bezeichnet man gewöhnlich
als Gespenster (s. d., dort auch die neuere Litteratur über Geistererscheinungen). Die ältere, sehr umfangreiche Litteratur
findet man bei Graesse, Bibliotheca magica et pneumatica (Leipz. 1843).
Vgl. Sierke, Schwärmer und Schwindler
des 18. Jahrhunderts (Leipz. 1874).
(griech. Charisma), in der urchristlichen Lehrsprache jede an die natürliche
Begabung sich anschließende, dieselbe steigernde Virtuosität, die in den Dienst der christlichen Gemeinschaft und ihrer Zwecke
tritt. Nach der Grundstelle
1. Kor. 12. bilden die in den verschiedensten Richtungen thätigen Charismen
die Organe, wodurch die Gemeinde existiert und am Leben erhalten wird. Bald nach der apostolischen Zeit finden wir die wesentlichsten
derselben, wie Leitung und Dienst in der Gemeinde, Seelsorge und Predigt, in Ämter verwandelt, die wunderbaren Geistesgaben aber
allmählich in den Hintergrund gedrängt.
(Seelenstörungen, Gemütskrankheiten, Psychosen, psychische Krankheiten), diejenigen Krankheiten, welche
sich durch Störungen im Gebiet der Sinneseindrücke, des Vorstellens, Wollens oder Handelns kundgeben. Da alle Thätigkeiten,
welche man vom philosophischen Gesichtspunkt aus dem »Geist« oder der »Seele« zuschreibt, von dem Zentralorgan des Nervensystems
und speziell von der grauen Substanz der Großhirnhemisphären geleistet werden, so müssen wir auch die
krankhaften Abweichungen dieser Verrichtungen von der Norm als Symptome dafür betrachten, daß die genannten Zentralstellen
des Gehirns krankhafte Veränderungen erfahren haben.
Bei einem Teil der Geisteskrankheiten werden diese anatomischen Veränderungen so bedeutend, daß man schon mit bloßem
Auge, z. B. an den verdickten Gehirnhäuten eines Alkoholtrinkers oder an der geschrumpften Hirnsubstanz
eines an paralytischer Geisteskrankheit Verstorbenen, mit Sicherheit Rückschlüsse auf diejenigen Krankheitserscheinungen
machen kann, welche bei Lebzeiten an diesen Kranken beobachtet wurden. In andern Fällen führt erst eine feine mikroskopische
Untersuchung zur Erkenntnis von Strukturveränderungen in diesem überaus komplizierten Organ; in einer dritten
Reihe von Geisteskrankheiten, sowohl solchen, welche durch eine gesteigerte Erregung (Tobsucht, Epilepsie), als auch solchen, welche durch Depression
ausgezeichnet waren, wie Hypochondrie,
mehr
Melancholie, war es bislang nicht möglich, bestimmte materielle Anomalien nachzuweisen. Dennoch ist es unzweifelhaft, daß
die Geisteskrankheiten auf krankhaften Veränderungen des Gehirns beruhen, mithin Gehirnleiden sind, ebenso wie die schmerzhaften Neuralgien
durch Veränderungen der Nervenfasern bedingt werden, obwohl diese Veränderungen in beiden Fällen erst dann anatomisch nachzuweisen
sind, wenn die nervöse Substanz bereits zerfallen und zu Grunde gegangen ist.
Die Einteilung der Geisteskrankheiten ist demnach bis jetzt auf anatomischer Grundlage nicht zu machen. Die Gesetzgebungen haben seit den ältesten
Zeiten die Geisteskrankheit nahezu als eine Einheit angesehen, das römische Recht nennt dieselbe Dementia und unterscheidet
unter den Kranken nur die Mente capti (Wahnsinnigen im allgemeinen Sinn) und die Furiosi (Rasenden). Fast
alle deutschen Gesetzbücher sowie der Code civil haben mit wenigen Modifikationen die in Wahnsinn, Raserei und Blödsinn unterschieden,
während das preußische Strafgesetz (1851) überhaupt nur die Unterarten des Wahnsinns und Blödsinns gelten läßt.
Die vielen Schwierigkeiten, welche sich in der Praxis daraus ergeben, daß eine Fülle höchst verschiedener
Störungen in der Sphäre der Vorstellung oder des Handelns formell als Einheit betrachtet werden müssen, sind im § 51 des deutschen
Strafgesetzbuchs dadurch umgangen worden, daß für die forensische Frage der Zurechnungsfähigkeit fortab entscheidend ist,
ob die freie Willensbestimmung als vorhanden oder als ausgeschlossen zu betrachten ist. Im Sinn des Gesetzes
ist der Name der Geisteskrankheit also gleichbedeutend mit krankhafter Unfreiheit der Willensbestimmung.
Auf wissenschaftlicher Grundlage ist eine Einteilung der Geisteskrankheiten nur möglich, wenn man von der Erfahrung ausgeht, daß eine verhältnismäßig
kleine Anzahl krankhafter Symptome beobachtet wird, welche sich einzeln oder in gewisser bestimmter Reihenfolge
bei allen Geisteskranken wiederfindet. Diese Symptome heißen deshalb psychische Elementarstörungen oder elementare Anomalien.
Dazu zählen hauptsächlich die folgenden:
1) Sinnestäuschungen oder Halluzinationen, welche zu den häufigsten Symptomen bei Geisteskrankheiten gehören und entweder in die Sphäre des
Gesichts oder des Gehörs, seltener des Geruchs, Geschmacks oder Gefühls fallen. Wenn Halluzinationen im Bereich
des Sehorgans bestehen, so glauben die Kranken Personen, Tiere oder Gegenstände zu sehen, welche nicht dasind, und an diese
vermeintlichen Bilder knüpfen sich dann weitere Vorstellungen oder Impulse an, welche tausendfach verschieden sein können,
aber alle auf das Hauptsymptom der Gesichtshalluzinationen zurückzuführen sind. Bei Gehörshalluzinationen
sind es entweder einzelne Klänge oder Wörter, oder ganze Sätze, welche die Kranken zu hören glauben, und durch deren Inhalt
sie in fromme (religiöser Wahn) oder heitere (Delirium), in traurige oder angsterfüllte Stimmung (Verfolgungswahn) versetzt
werden.
2) Wahnvorstellungen, die Gesamtheit der verschiedenartigen irrigen Ideen und Kombinationen, welche aus
den Sinnestäuschungen entstehen. Man hat sie mit Recht als besondere Gruppe der Elementarstörungen aufgeführt, jedoch ist
es eine jetzt allseitig als irrig anerkannte Lehre, daß eine oder die andre Wahnvorstellung bei manchen sonst ganz gesunden
Personen auftreten könne und alsdann die Bedeutung einer selbständigen Geisteskrankheit (Monomanie oder fixe Idee) beanspruchen
dürfe.
Manche Irrenärzte sind sogar noch weiter gegangen und haben solche Triebe, welche
aus Halluzinationen und Wahnvorstellungen
hervorgehen, als besondere Arten von Monomanien gedeutet, woraus die Namen Kleptomanie (Diebstahlstrieb), Pyromanie (Trieb zur
Brandstiftung), Monomanie homicide (Selbstmordstrieb), Nympho- und Aidoiomanie (Geschlechtstrieb) entstanden sind; alle diese
Namen sind veraltet und nur geeignet, Mißverständnisse zu erwecken, seit es mit Sicherheit erkannt
ist, daß alle Personen, welche mit sogen. fixen Ideen behaftet sind, auch sonst nicht normale Individuen sind, sondern an
einer wirklichen Geisteskrankheit (meist Epilepsie) leiden, von welcher die fixe Idee nur ein Symptom ist.
Eine fernere Art der Elementarstörungen gehört der Sphäre des Empfindens, dem Gemütsleben an: 3) die
heitere Verstimmung, bei welcher die Personen mehr oder weniger andauernd in außerordentlicher Ausgelassenheit leben und einen
Frohsinn an den Tag legen, der meist irgend einer eingebildeten Idee entspringt, dem gesunden Verstand eines Beobachters aber
durchaus unmotiviert erscheint. Diese Anomalie geht oft ganz unvermittelt über in 4) die traurige Verstimmung,
bei welcher ein Alp auf den Kranken lastet und alles Denken und Fühlen von traurigen, sorgen- und kummervollen Ideen beherrscht
wird.
Als Elementarstörungen, welche hauptsächlich dem Gebiet der Intelligenz angehören, gelten 5) die Ideenflucht, ein Zustand,
bei welchem die Gedanken sich überstürzen, ein neuer auftaucht, bevor der erste ausgedacht und ausgesprochen
ist, 6) die Urteilsschwäche und 7) die Gedächtnisschwäche. Beide letztere faßt man oft zusammen als Schwachsinn oder in
den höchsten Graden als Blödsinn (stupor). Keine dieser aufgezählten wesentlichen sieben Gruppen elementarer psychischer Anomalien
ist nun an und für sich eine Psychose, d. h. wirkliche Geisteskrankheit, ja es ist sogar keine einzige
derselben ein sicheres Symptom, daß eine Geisteskrankheit dahinter stecken müsse.
Die ausgelassene Heiterkeit, in welche jemand durch den unverhofften Gewinn großer Reichtümer versetzt wird, kann in ihrer
äußern Erscheinung ganz dem Gebaren eines tobsüchtigen Irren gleichen, der tiefe Seelenschmerz eines schwer geprüften,
kummervollen Leidtragenden ist äußerlich nicht von dem Bild eines melancholischen Geisteskranken zu
unterscheiden, die Sinnestäuschungen eines Trunkenen oder eines im Typhusfieber delirierenden Kranken werden sogar von Krankenwärtern
und erfahrenen Laien nicht selten für Zeichen wahrer Geisteskrankheiten gehalten.
Nur die fortgesetzte Beobachtung der Symptome, durch welche sich ihre abnorme Dauer ergibt, durch welche
sich für die Verstimmungen deren Grundlosigkeit, Ungereimtheit herausstellt, ferner die umsichtige Beachtung aller vorausgegangenen
Ereignisse, Kenntnisnahme von der persönlichen und Familiengeschichte, körperliche Untersuchung etc.
können dazu führen, aus den genannten elementaren Anomalien den Schluß auf eine vorhandene Geisteskrankheit zu machen.
Die Geisteskrankheiten selbst sind demnach Krankheitsbilder (psychologische Formen), in welchen einzelne der erwähnten
Elementarstörungen in bestimmter typischer Weise aufeinander folgen oder nebeneinander bestehen oder in regelmäßigem Wechsel
wiederkehren. Nur durch die Erfahrung sind so im Lauf der Zeit die scheinbar regellosen Symptome gruppiert und geordnet worden,
und mit der Fülle der Beobachtungen und der Herausbildung der Psychiatrie als Spezialwissenschaft gewinnt
diese Gruppierung noch täglich an Schärfe und Feinheit. Die vielen populären Fremdwörter sind dem
mehr
Eingeweihten Marksteine wertvoller Arbeiten; der französische oder englische Name ist erhalten worden, weil er bezeichnend
ist oft für eine Theorie oder ein ganzes System; für den Laien aber wird es ganz unmöglich, selbst mit Hilfe des Lexikons Bezeichnungen
wie Folie raisonnante, Aliénation, Moral insanity, Dementia, Monomanie de grandeur avec paralysie ohne detaillierte
Kenntnis der in ihren Unterschieden zu begreifen. Eins der bestgekannten und am meisten typischen der Krankheitsbilder ist
die paralytische Geisteskrankheit oder chronische Paralyse der Irren.
Sie befällt meist Männer der mittlern Lebensjahre, beginnt mit Wahnvorstellungen über eingebildeten Reichtum, hohe Abstammung
oder unglaubliche Gaben und Fähigkeiten (Größenwahn), führt dann durch ein Stadium krankhafter Verstimmung
zu allmählichem Verfall der geistigen Kräfte, Lähmung der Pupillen, schwankendem Gang und endet unter dem Bild fortschreitenden
Blödsinns mit dem Tod. Außerordentlich wechselvoll ist das Bild der epileptischen Geisteskrankheiten; hier treten oft die verschiedenen Elementarstörungen
in regelmäßigem Wechsel ein, zuweilen wird eine derselben durch eine andre ersetzt, es liegen oft lange
freie Intervalle (lucida intervalla) dazwischen, und gerade diese Form der Geisteskrankheiten ist es, welche außerordentlich
häufig die Gerichte beschäftigt, wenn es sich darum handelt, ob ein Verbrecher zur Zeit der That zurechnungsfähig gewesen
sei oder nicht.
Ein drittes Bild der Geisteskrankheiten ist die Verrücktheit, auch primäre Verrücktheit (im Gegensatz zu einer von Griesinger
angenommenen sekundären Verrücktheit), welche besonders charakterisiert ist durch halluzinatorische Störungen (Größen-
und Verfolgungswahn) mit psychischer Schwäche, welche oft auf Grund erblicher Belastung, Verletzungen und Krankheiten des Gehirns
im kindlichen Alter, Anlage zum Blödsinn bei sogen. invaliden Gehirnen (Schüle) sich entwickelt.
Meist werden junge Männer von 18-22 Jahren oder Frauen zwischen 40 und 50 Jahren, also in der klimakterischen Periode, befallen.
Heilungen nach ca. sechs Monaten sind höchst selten, die Dauer dieser Geisteskrankheit währt zuweilen jahrzehntelang. Außerordentlich
verwickelt und mannigfaltig ist der Komplex von Symptomen, welcher die Demenz oder Geistesschwäche (s. d.)
ausmacht. Als Gemütskrankheiten im engern Sinn bezeichnet man die Manie, welche durch exaltierte, tobende, zornige Wahnideen
charakterisiert ist, während bei der Melancholie der Inhalt der Wahnideen ein depressiver, tieftrauriger ist.
Bei beiden Geisteskrankheiten fehlen Halluzinationen, sie gehen häufiger nach mehrmonatlicher Dauer in Heilung über. Die Melancholie befällt
meist Personen zwischen 17 und 25 Jahren oder alte Leute; die Kranken klagen sich der unwürdigsten Handlungen
an, leiden unter dauernder Angst (s. d.), verweigern zuweilen die Nahrung (Abstinenz) und sind zum Selbstmord geneigt; endlich
verfallen auch diese Kranken dem Schwachsinn. Zuweilen wechselt das Bild der Manie mit dem der Melancholie rhythmisch ab, und
so entsteht das zirkuläre Irresein (Folie circulaire von Falret; Folie à double forme von Baillarger). Diese Geisteskrankheit
befällt ohne Unterschied des Alters und Geschlechts meist kräftige Personen, sie hat freie Intervalle von längerer Dauer,
ist aber unheilbar.
Die Ursachen der Geisteskrankheiten lassen sich in zwei große Gruppen, die angeerbten und die erworbenen, zusammenfassen.
Nicht nur diejenigen krankhaften Bildungen von Schädel und Gehirn, welche wir bei Kretins und Mikrokephalen antreffen, kommen
in gewissen Bezirken oder Familien als Hinterlassenschaft geisteskranker Ahnen vor, sondern jede
Art der anomalen Gehirnanlage,
welche als Epilepsie, als Schwermut oder primäre Verrücktheit, als paralytische Geisteskrankheit oder Schwachsinn zum
Ausdruck kommt, schließt die Gefahr einer Vererbung auf die Nachkommen in sich. Dazu kommen Heiraten unter Blutsverwandten, Abstammung
von Gewohnheitstrinkern, welche nicht selten in der Deszendenz zu Geisteskrankheiten übergehen.
Die erworbenen Geisteskrankheiten entstehen teils aus örtlichen Krankheiten des Gehirns und seiner Häute durch Verletzungen, chronische Entzündungen,
Altersschwund, teils entwickeln sie sich aus allgemeinen Leiden, aus Typhus, Wechselfieber, Syphilis, bei
Trunksucht, nach Erkrankungen der Geschlechtssphäre etc.; zuweilen sind Neurosen, Hysterie oder Überanstrengung des Gehirns,
rastloses Arbeiten, zuweilen heftige Seeleneindrücke als Ursache, mindestens aber als Veranlassung zum Ausbruch einer vielleicht
im Keim schlummernden Geistesstörung anzusprechen.
Die Statistik der Geisteskrankheiten weist im allgemeinen eine Zunahme gegen frühere Zeiten nach, doch sind die ältern
Angaben sehr ungenau und die neuen nicht lange genug einheitlich zusammengestellt, um über die Ursachen dieser Erscheinung
Schlüsse zuzulassen. In Preußen kamen auf 10,000 Einw. 1871: 23 männliche, 22 weibliche Geisteskranke und 1880: 25 männliche, 23 weibliche.
Es kamen 1880 auf 10,000 evang. Einwohner 24,1,
auf katholische 23,7, auf jüdische 38,9 Geisteskranke. Es waren
unter 10,000 Personen 1880:
32.2
ledige männliche,
29.3
weibliche Geisteskranke,
9.5
verheiratete "
9.5
" "
32.1
verwitwete "
25.6
" "
107.5
geschiedene "
103.0
" "
Nach einer Statistik von Lunier, welche das Verhältnis der in Frankreich vom J. 1831 bis 1876 umfaßt,
ist die Zahl der Geisteskranken in dieser Zeit um das Fünffache gestiegen; doch ist dabei zu bedenken, daß in jüngster
Zeit viel mehr Personen als geisteskrank erkannt werden, welche früher als Verbrecher behandelt wurden oder frei umhergingen,
und ferner, daß durch die sorgfältigere Behandlung die Lebensdauer der Kranken beträchtlich verlängert
wird.
Die Behandlung der Geisteskrankheiten darf durchaus nicht darauf gerichtet sein, den Kranken durch Zureden oder logische
Beweise das Ungereimte ihrer Ideen klarmachen zu wollen, da dieses Verfahren absolut nutzlos ist. Warme Bäder, geeignete körperliche
Pflege, zuweilen Arzneimittel bilden die Grundlage der Behandlung; diese selbst sollte aber soviel wie
möglich in einer darauf eingerichteten Anstalt erfolgen. Daß die Geisteskranken den Irrenanstalten übergeben werden, ist
eine Notwendigkeit, welcher häufig von den Verwandten viel zu spät Rechnung getragen wird.
Bis jetzt geschah dies aber in nicht wenig Fällen deshalb, weil man die Irrenanstalt fürchtete und in
ihr ein Gefängnis vermutete, in welches man seine Angehörigen nur mit Zagen brachte. Mit der Abschaffung des Zwanges durch
Conolly, welcher auch die Zwangsjacken aus der Irrenbehandlung verbannte (Non-restraint-System), haben auch die Anstalten selbst
ein ganz andres Ansehen gewonnen: alles Gefängnisartige hat man abgeschafft, das Innere ist freundlicher
und bequemer für die Kranken eingerichtet, so daß, abgesehen von dem Verschlossensein der Thüren, die Irrenanstalt sich
nicht viel von einem andern Krankenhaus unterscheidet. Dadurch ist das Vertrauen des Publikums in hohem Maß gestiegen; die
Kranken werden ruhiger und vor allem zeitiger nach der Irrenanstalt gebracht und können
mehr
häufiger von ihrer Krankheit geheilt werden als früher. Das Non-restraint-System hat noch eine weiter gehende Bedeutung.
Bis jetzt herrschte und herrscht auch noch hier und da eine gewisse Scheu vor den Geisteskranken, welche sich auch dann noch
geltend macht, wenn dieselben aus der Anstalt entlassen worden sind. Welche Nachteile und welche oft
traurigen Folgen dies für die Unglücklichen haben muß, liegt auf der Hand. Eine derartige Scheu ist zum Teil ein Überrest
aus jener Zeit, in welcher die Geisteskranken ein unwürdiges Los traf, und in welcher man glaubte, sie fürchten zu müssen.
Nun, wo diese Zeiten vorbei sind, wo durch Einführung des Non-restraint aufs deutlichste gezeigt worden
ist, daß die Irren (mit gewissen Einschränkungen) gleich andern Kranken behandelt werden können, nun wird sich auch diese
unberechtigte Scheu nach und nach ganz verlieren und einer gerechten Beurteilung Platz machen.
Was die Rechtsgrundsätze über Geisteskranke anbetrifft, so fehlt es in Deutschland an einheitlichen
und umfassenden Irrengesetzgebungen, wie sie in Belgien, England, Holland, Norwegen und Schweden, in einzelnen Schweizer Kantonen
und namentlich in Frankreich (Gesetz vom vorhanden sind. Diese Gesetze gehören wesentlich dem öffentlichen Recht
an, indem sie auf der einen Seite die öffentliche Fürsorge und den rechtlichen Schutz für Geisteskranke,
anderseits die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit Rücksicht auf die Gefährlichkeit geisteskranker Personen anbetreffen.
Die Aufnahme von Geisteskranken in die Irrenanstalten, die Entlassung derselben, die Beaufsichtigung solcher Anstalten und
die Fürsorge für Geisteskranke in und außerhalb der Anstalt durch die Behörden des Staats sind in diesen Gesetzen geordnet.
In England z. B. ist eine besondere Behörde mit der staatlichen Aufsicht des Irrenwesens betraut, welche
vorwiegend aus Anwalten und Ärzten (commissioners in lunacy) zusammengesetzt wird. In den einzelnen deutschen Staaten bestehen
zahlreiche Verordnungen über die Behörden und über das Verfahren, welches auf diesem Gebiet zu beobachten ist.
Die Verwaltungsbehörden haben hier die betreffenden Funktionen auszuüben. Unternehmer von Privatirrenanstalten
bedürfen nach der deutschen Gewerbeordnung (§ 29) einer Konzession der höhern Verwaltungsbehörde. Auf dem Gebiet des Privatrechts
gilt der Geisteskranke als handlungsunfähig und ebendarum gleich dem Unmündigen der Bevormundung bedürftig. Doch ist die
Testierfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, letztwillige Verordnungen mit rechtlicher Wirksamkeit zu treffen,
in lichten Zwischenräumen (dilucida intervalla) während der Geisteskrankheit vielfach gesetzlich anerkannt, so z. B.
im preußischen allgemeinen Landrecht, § 20,
Tit. 1,. Teil 1. Die Rechtsgrundsätze über die Entmündigung (s. d.) geisteskranker
Personen sind in der deutschen Zivilprozeßordnung (§ 593 ff.) festgestellt.
Nur durch Beschluß des Amtsgerichts kann eine Person für geisteskrank (wahnsinnig, blödsinnig etc.)
erklärt werden. In strafrechtlicher Hinsicht ist namentlich die Bestimmung des deutschen Strafgesetzbuchs (§ 51) hervorzuheben,
wonach eine Handlung als strafbar nicht erscheint, wenn der Thäter sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter
Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Ob dies
der Fall, muß nötigen Falls durch ärztliches Gutachten ermittelt werden; doch soll nach Liman der Arzt sein Gutachten darauf
beschränken, ob eine Person geisteskrank sei,
und dem Gericht die Entscheidung überlassen, ob durch die Geisteskrankheit die
freie Willensbestimmung in dem gegebenen Fall für ausgeschlossen zu erachten ist oder nicht.
Die häufigen und oft sehr schwer zu entscheidenden Fragen über vorgebliche Geisteskrankheit (Simulation)
sind nur auf Grund wiederholter und längerer Beobachtung zu beantworten (s. Psychiatrie). Die deutsche Strafprozeßordnung
(§ 81) bestimmt, daß zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Angeschuldigten das Gericht auf Antrag
eines Sachverständigen nach Anhörung des Verteidigers anordnen kann, daß der Angeschuldigte in eine
öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde.
Vgl. Esquirol, Die in Beziehung zur Medizin etc. (deutsch, Berl. 1838);
Flemming, Pathologie und Therapie der Psychosen (das. 1859);
Griesinger, Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten (4. Aufl., Braunschw. 1876);
Derselbe, Gesammelte Abhandlungen
(Berl. 1876);
Liman, Zweifelhafte Geisteszustände vor Gericht (das. 1869);
v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der
Psychiatrie (Stuttg. 1879-80, 3 Bde.);