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volkswirtschaftlichen Kongreß, in welchem E. Wiß, Ascher, O. Michaelis, M. Wirth, O. Hübner, A. Soetbeer, dann K. Braun, V. Böhmert, A. Emminghaus, A. Lammers, Al. Meyer, W. Eras, O. Wolff u. a. für den Freihandel nach außen wie auch für wirtschaftliche Freiheit im Innern (Gewerbefreiheit, Freizügigkeit etc.) lebhaft Propaganda machten, indem sie sich ganz vorzüglich der Besprechung praktischer Fragen zuwandten und damit den Boden für einen Teil der künftigen Gesetzgebung des Reichs ebneten. In gleicher Richtung war auch der deutsche Handelstag thätig, dessen norddeutsche Mitglieder zum Teil als »Delegiertenkonferenz der vereinigten norddeutschen Seestädte« ihre Angriffe gegen die Schutzzölle richteten. Unterstützung fanden sie in dieser Beziehung im Kongreß deutscher Landwirte (s. Landwirtschaftlicher Kongreß).
Als nun nach den politischen Ereignissen von 1866 und 1870 das Bedürfnis nach legislatorischen Änderungen und Neuschöpfungen erwuchs, wußten sich die freihändlerischen Ideen, deren Träger [* 2] auch gleichzeitig warme Vertreter der deutschnationalen Idee waren, größere Geltung zu verschaffen (so im Zollwesen, in der Gewerbeordnung etc.). Wirksame Unterstützung fanden sie hierbei in der Regierung selbst, welche gern förderte, was zum einheitlichen Ausbau des Reichs notwendig und ihm dienlich war (Freizügigkeit, Münze, Maß, Gewicht etc.). Nun sind allerdings viele und selbst gemäßigtere Anhänger der Freihandelslehre in ihrer Begeisterung früher vielfach mit ihren Forderungen über die Grenzen [* 3] einer gesunden Volkswirtschaft hinausgegangen (Bekämpfung der Patenterteilung, der Expropriationsgesetze etc.). Die Gesetzgebung, welche übrigens in kurzer Frist für neue Verhältnisse geschaffen werden mußte, erwies sich in vielen Beziehungen als reformbedürftig.
Inzwischen hatte der Sozialismus seinen heftigen Kampf gegen die Bourgeoisökonomie eröffnet, hatte der Verein für Sozialpolitik das Bedürfnis betont, mehr die wirklichen Gestaltungen des praktischen Lebens zu berücksichtigen, was die abstrakte Freihandelstheorie versäumt habe. Dazu kam Ende der 70er Jahre die wirtschaftliche Notlage, welche den Wunsch nach gesetzlicher Hilfe mehr und mehr laut werden ließ. Viele waren nur zu geneigt, die seitherige Freihandelspolitik als Ursache der beklagten wirtschaftlichen Übelstände zu betrachten.
Folge hiervon war, daß nun andre Strömungen (Schutzzollpartei, konservative Sozialpolitiker) die Oberhand gewannen, zumal nachdem auch der Reichskanzler mit der seitherigen Wirtschaftspolitik gebrochen und mit Vorlegung des Zolltarifs von 1879 eine neue inauguriert hatte. Die Anhänger des Freihandels wurden nun mehr darauf hingedrängt, Errungenes zu behaupten. Dahin sind auch im wesentlichen die Bestrebungen des Vereins zur Förderung der Handelsfreiheit gerichtet, welcher unperiodisch kleine »Mitteilungen« in Broschürenform herausgibt.
Ebenfalls auf freihändlerischem Boden stehen die »Volkswirtschaftlichen Zeitfragen«, Vorträge und Abhandlungen, herausgegeben von der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin [* 4] und der ständigen Deputation des Kongresses deutscher Volkswirte. Übrigens ist zu betonen, daß die Zahl der Anhänger eines extremen Freihandels verschwindend klein ist. Auch die Mitglieder des volkswirtschaftlichen Kongresses weisen dem Staat positive Aufgaben zu, wollen der individuellen Freiheit Schranken gezogen wissen.
Demnach unterscheidet sich der heutige Freihandel von andern volkswirtschaftlichen Richtungen dadurch, daß er dem Individualismus, der individuellen Selbständigkeit und Verantwortlichkeit, der unbeengten Privatwirtschaft u. der freien Konkurrenz einen größern Spielraum eingeräumt, dagegen die Fürsorge, Hilfe und beschränkende Maßregeln sowie Unternehmungen und gewerbliche Betriebe des Staats auf ein engeres Gebiet beschränkt wissen will. Aus der umfangreichen Litteratur vgl. Lehr, Schutzzoll und Freihandel (Berl. 1877); Fawcett, Free trade, protection and reciprocity (6. Aufl., Lond. 1885; deutsch, Leipz. 1878).