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Falten, unverhüllte Sinnlichkeit sind die charakteristischen Merkmale dieser Schule, als deren Führer Champfleury gilt. Aber auch hier führte die Übertreibung bald über die Grenzen [* 2] des ästhetisch und sittlich Erlaubten hinaus: von der »Dame aux camélias« des jüngern Dumas, der »Madame Bovary« von Flaubert, der »Fanny« von Feydeau und den unmoralischen Schriften von X. de Montépin, Th. Gautier und den Brüdern de Goncourt ist nur ein kleiner Schritt bis zu dem Naturalismus E. Zolas, dessen Romane in ihrer Brutalität und Lüsternheit allem Schamgefühl Hohn sprechen.
Ihre fast beispiellosen Erfolge (»Assommoir« und »Nana« haben über 100 Auflagen erlebt) verdanken dieselben neben dem prickelnden Sinnenreiz der minutiösen Genauigkeit der Beobachtung und der wunderbaren Gestaltungskraft E. Zolas, Vorzüge, welche seinen Jüngern in viel geringerm Maß eigen sind. Von diesen sind J. ^[Jules] Claretie, Huysmans, J. ^[Jules] Vallès, A. Belot die rührigsten und talentvollsten; ihre Romane finden, auch in dramatisierter Form, besonders wegen ihrer Aktualität zahlreiche Bewunderer.
Ähnlicher Erfolge haben sich die trefflichen Schilderungen Pariser Sitten von A. Daudet und die liebenswürdigen und pikanten Darstellungen von G. Droz zu rühmen; doch wurden sie weit überflügelt von den Erfolgen des Feuilletonromans, der in dieser Epoche eine unglaubliche Ausdehnung [* 3] gewann. Erfunden von L. Véron, eingeführt von E. de Girardin vermittelst seiner »Presse«, [* 4] wurde derselbe durch die geschickten Federn eines A. Dumas (Vater), Fr. Soulié, P. Féval, E. Sue, Th. Gautier, L. Gozlan eine Macht ersten Ranges und führte eine Umgestaltung der gesamten Preßverhältnisse herbei.
Der immer ungenierter hervortretenden Spekulation auf das Amüsement und die Neugierde der Leser, welche dem Charakter des Feuilletonromans als eines Konkurrenz- und industriellen Unternehmens entspricht, mußten der künstlerische Aufbau und die solide Durchführung der Erzählung zum Opfer fallen; jetzt ist er ebenfalls eine Domäne der Naturalisten geworden: statt der lang ausgesponnenen Abenteuer- und Verbrecherromane liest man jetzt ihre anatomischen und pathologischen Schilderungen.
Anspruch auf Erwähnung in diesem Genre haben noch: P. Meurice, E. Gonzales, P. Zaccone, Gaboriau (Kriminalromane), E. Richebourg u. a. Im sentimentalen Roman sind neben der hochpoetischen G. Sand deren Geistesverwandte, der aristokratische O. Feuillet, der geschmackvolle V. Cherbuliez, der treffliche Landschafter A. Theuriet und der humoristische und psychologisch wahre J. ^[Julien] Sandeau (gest. 1883), zu nennen, ferner eine Anzahl Schriftsteller, die sich um die »Revue des Deux Mondes« gruppieren; H. Malot zeigt realistische Färbung.
In dem luftigen Reich der Phantasie und des Witzes tummelt sich eine Schar glänzender Stilisten: der geistvolle, satirische E. About (gest. 1885), A. Karr, der affektierte A. Houssaye und Ch. Monselet. Moralische und religiöse Romane schrieben der jüngst bekehrte P. Féval, H. Violeau, L. Gautier und Mad. A. Craven; gute Schilderungen vom Seeleben lieferte (nächst E. Sue und Corbière) de la Landelle, vom Soldatenleben P. de Molènes und A. de Gondrecourt, vom Künstlertum H. Murger, von der Geistlichkeit Ferdinand Fabre u. a. In der Wiedergabe kleinstädtischen, dörfischen Lebens exzellierten neben E. Souvestre, G. Sand und J. ^[Jules] Janin besonders die Elsässer E. Erckmann und A. Chatrian, welche in einfacher, schmuckloser, in letzter Zeit freilich stark chauvinistisch gefärbter Darstellung Land und Leute ihrer Heimat schilderten.
Großartigen Beifall fanden die phantastischen Abenteuer- und Reiseromane von J. ^[Jules] Verne, welche unter ihrer märchenhaften Hülle der Jugend ein reiches Maß naturhistorischer Belehrung und eine interessante Einführung in die Probleme moderner Wissenschaft bieten wollen. Eine eigne Litteratur brachten die Jahre 1870 und 1871 hervor, die sogen. Revanchelitteratur, die ihren Mittelpunkt in der »Nouvelle Revue« der Madame Adam (Juliette Lamber) hat, und in der fast alle jüngern Kräfte sich versucht und leichte Lorbeeren gepflückt haben.
Hier ersetzten die Kraft [* 5] des Hasses, die Heftigkeit der Invektiven, die wortreichen Klagen über das Unglück Frankreichs den Mangel an wahrer Poesie, Originalität und Korrektheit. Fr. Coppée, Achard, J. ^[Jules] Lacroix, Soulary, C. Mendès, E. Manuel, Ch. Lomon, Deroulède u. a. ließen ihre Wut gegen Deutschland [* 6] in Gedichten, Dramen, Memoiren etc. aus, und gehässige und parteiische Schriften über Deutschland und das Elsaß, wie die von E. About und V. Tissot, finden noch jetzt einen gläubigen Leserkreis.
Wissenschaftliche Litteratur.
Philosophie.
Wie bei den übrigen modernen Nationen, hat es zwar auch in Frankreich schon im Mittelalter an philosophischen Bestrebungen nicht gefehlt, eine eigentlich französische Philosophie gehört aber erst den neuern Zeiten an. Die erste Spur jener Bestrebungen findet sich im 9. Jahrh., als Karl der Kahle den Vater der scholastischen Philosophie, Joh. Scotus Erigena (s. d.), aus England an die Hofschule zu Paris, [* 7] den ersten Keim der nachherigen Pariser Universität, berief, welcher jedoch schon nach wenigen Jahren, der Ketzerei verdächtig, orthodoxer Verfolgung weichen mußte.
Beide Erscheinungen, sowohl die Verpflanzung liberaler Denkweise von der Nachbarinsel her als kirchengläubige Reaktion gegen Freidenkende, haben sich seitdem im Lauf der geschichtlichen Entwickelung der Philosophie in Frankreich mehrmals wiederholt. Dennoch blieb von da an die hohe Schule von Paris (seit 1206 Universität) der vornehmste, lange Zeit neben der noch ältern Schwester Bologna der einzige Sitz der scholastischen Philosophie in Europa, [* 8] die sich von dort auf die andern nach dem Muster jener beiden allmählich entstehenden Universitäten ausbreitete.
Bis zum Ausgang des 14. Jahrh., d. h. bis zur Gründung der Universitäten zu Prag [* 9] (1348) und Wien [* 10] (1365), gibt es fast keinen namhaften Philosophen, der nicht entweder an der Pariser Universität gelehrt, oder doch daselbst seine Bildung empfangen hätte. Der Gegensatz der beiden großen Schulen des Realismus und Nominalismus, deren Hauptträger Wilhelm v. Champeaux und Johannes Roscellin, beide geborne Franzosen, wie der spätere der Thomisten und Scotisten, deren Vertreter, der Italiener Thomas von Aquino und der Brite Duns Scotus, beide Doktoren und Lehrer der Pariser Hochschule waren, ist von Paris ausgegangen. Das skeptische, dem französischen Nationalcharakter besonders entsprechende Element trat in Abälard (gest. 1142) hervor, dessen Konzeptualismus ebenso die herrschenden logischen wie seine berühmte Schrift »Sic et non« die herrschenden kirchlichen Gegensätze unentschieden ließ. Wie wenig die Neigung des französischen Geistes dem Dogma zugewandt war, beweist der Bericht des Marinus Mersennus in seinem Kommentar zur Genesis, daß es im Anfang des 15. Jahrh. zu Paris nicht weniger als 50,000 »Atheisten«, d. h. ¶
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Bestreiter des Kirchenglaubens, gegeben habe. Auch waren die philosophischen Grundlagen der Albigenserhäresie hauptsächlich von Franzosen, wie Amalrich von Bena und David von Dinant, gelegt worden. Als mit dem Anbruch der Renaissance die französische Sprache auch in die wissenschaftliche Litteratur eindrang, gehörten die ersten Versuch eines Philosophierens in der Nationalsprache: die Schriften eines Montaigne (gest. 1592), Charron, Boëtie, Bodin, dem Skeptizismus an, während die lateinisch schreibenden Humanisten, wie Ramus (de la Ramée), mit ihren Geistesverwandten in England, Italien [* 12] und Deutschland zugleich das Ansehen des scholastischen Aristoteles bekämpften.
Während aber für jene der theoretische Zweifel (»Que sais-je?« sagte Montaigne) der Endpunkt war, bildete er für den größten wissenschaftlichen Philosophen, den Frankreich hervorgebracht hat, Descartes oder Cartesius (1596-1650), nur den Ausgangspunkt des Philosophierens, die Überwindung des Zweifels durch rationale, weder empirische noch historische Gründe die Aufgabe der Philosophie, durch deren Lösungsversuch derselbe nicht bloß für die französische, sondern für die Philosophie als solche epochemachend geworden ist.
Der Kern desselben lag in der Folgerung von der nicht abzuleugnenden Thatsache des eignen Denkens auf die nicht abzuwehrende Notwendigkeit des eignen Seins und von der unüberwindlichen Klarheit und Deutlichkeit gewisser in unserm Bewusstsein vorfindlicher Begriffe auf deren Wahrheit und Realität, also in der Methode, wodurch Descartes einerseits die Aufmerksamkeit von den sogen. äußern Dingen ab- und der Beobachtung des Innern, den Thatsachen des Bewußtseins, zuwandte (Intellektualismus), anderseits dem auf einleuchtenden Grundbegriffen (sogen. Ideen) dogmatisch fortbauenden Rationalismus den Weg vorzeichnete.
Ersterer Umstand unterschied den Cartesianismus von dem (auf Beobachtung mittels des äußern Sinnes sich stützenden) Sensualismus, letzterer von dem (statt aus Begriffen, aus Erfahrungsthatsachen folgernden) Empirismus. Durch jenen wurden die Psychologen und Mystiker, welche der zweifelhaften äußern eine unzweifelhafte innere Erfahrung, durch diesen die Mathematiker und Metaphysiker, welche der nur Wahrscheinlichkeit gewährenden induktiven eine aus reinen Begriffen gefolgerte deduktive Erkenntnis entgegensetzen wollten, für Descartes' Philosophie gewonnen.
Unter den erstern nahmen die Theologen von Port-Royal, die Jansenisten Antoine Arnauld (gest. 1694), Nicole (gest. 1695), Pascal (gest. 1662), unter diesen (außer dem Niederländer Geulings, dem Erfinder des Okkasionalismus) der Arzt und spätere Anhänger Spinozas, Louis de La Forge (von Saumur), und der Oratorianer Malebranche (1638-1715) die ersten Stellen ein. Als Gegner des Cartesianismus traten nicht nur die Feinde der Philosophie überhaupt, insbesondere die Jesuiten, sondern unter den Philosophen selbst sowohl die Skeptiker als die Sensualisten und Empiristen auf.
Unter den Skeptikern machten sich berühmt: der Bischof P. D. Huet (1630-1721), der aus einem Freunde der Cartesianischen Philosophie deren Gegner wurde und aus Verzweiflung an der Möglichkeit des Wissens die Notwendigkeit des Glaubens empfahl; der witzige Satiriker François Lamothe le Vayer (1588-1672), der alle Vernunftreligion für ungewiß und nur die übervernünftige Offenbarung (ironisch) für unbestreitbar erklärte, und vor allen Pierre Bayle (1647-1706), dessen Hauptwerk, das »Dictionnaire historique-critique«, durch seine nach allen Seiten in philosophischer, religiöser und sozialer Hinsicht zersetzende Wirkung das Vorbild der spätern Encyklopädie geworden ist.
Den Sensualismus, in dessen Gefolge sich in theoretischer Hinsicht der Materialismus, in praktischer der egoistische Eudämonismus allmählich (besonders seit dem Bekanntwerden der materialistischen Korpuskularphilosophie des Engländers Hobbes in Frankreich) einstellten, vertrat dem Intellektualismus und Idealismus des Cartesius gegenüber vornehmlich Pierre Gassendi (1592-1655). Dieser, als ausgezeichneter Physiker, stellte der Cartesianischen Naturphilosophie, welche das Wesen der körperlichen Materie in die reine Ausdehnung gesetzt hatte, die Atomistik des Epikur entgegen, die er als die einzige mit den Anforderungen der Physik verträgliche Form metaphysischer Grundlegung der materiellen Erscheinungswelt ansah, welche Meinung nachher durch den Atomismus der Newtonschen »Principia philosophiae naturalis mathematica« bestärkt, von den wesentlich auf diesen fortbauenden Philosophen der Encyklopädie, die ihren Ausgangspunkt von der Physik nahmen, wieder aufgenommen und gegenwärtig inner- und außerhalb Frankreichs bei den Naturlehrern die herrschende geworden ist.
Auch der Eudämonismus Epikurs ist von Gassendi eingeführt und als konsequente Folgerung einer Lehre, [* 13] die keine andre Erkenntnisquelle als den äußern Sinn und keinen andern ethischen Wertmesser als sinnliche Lust oder Unlust besitzt, auf seine Nachahmer und Nachfolger, die französischen Materialisten des 18. Jahrh., vererbt worden. Der vermittelnde Ausgleich, den der gelehrte Minorit Marin Mersenne (gest. 1648), der, wie Gassendi, mit Hobbes in persönlich freundschaftlichem Verhältnis stand, zwischen jenem und Descartes besonders in Bezug auf den ontologischen Beweis für das Dasein Gottes herzustellen versuchte, blieb ohne nachhaltigen Erfolg, ebenso wie der Ausbau des Cartesianischen Idealismus auf dem von Malebranche eingeschlagenen Weg, welchen der französische Leibniz, de Fontenelle (1657-1757), in seinen oft nachgeahmten »Entretiens sur la pluralité des mondes« (1686) ausführte.
Der dem aus Ideen und Begriffen apriorisch folgernden Rationalismus feindliche Empirismus trat in Frankreich zuerst und auf originelle Weise auf dem Gebiet der Moral und Politik, dagegen erst infolge des Bekanntwerdens Lockes, welcher den angebornen Ideen des Cartesianismus ein Ende machte, auf psychologischem und pädagogischem Feld auf. Die sogen. Moralisten, zu welchen Saint-Evremond (1613-1703), La Rochefoucauld (1613-80), der berühmte Verfasser der »Maximes«, und La Bruyère (1645-95),
der Verfasser der »Caractères«, gehören, verwandelten die Moralphilosophie aus einer Sittenlehre, wie der Mensch sein sollte, in eine bloße Sittenkunde, wie er wirklich sei, und legten derselben die zwar sehr naturgetreue, aber nichts weniger als nachahmungswürdige Schilderung ihrer der Mehrzahl nach sittlich verwahrlosten Zeitgenossen zu Grunde. Montesquieu (1689-1755), der in seinen »Lettres persanes« zuerst gleichfalls als (ironischer) Sittenschilderer aufgetreten war, verpflanzte in seinem Hauptwerk: »Esprit des lois«, den Empirismus auf den Boden der Staatswissenschaft, indem er statt eines aus Vernunftideen geschöpften Staatsideals die durch Klima, [* 14] Bodenbeschaffenheit, Nationalität etc. gegebenen Bedingungen bestehender Gesetzgebungen und Staatsformen schilderte und dadurch den Grund zu einer Philosophie der Geschichte als natürlicher Entwickelungsgeschichte [* 15] ¶