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die Durchschnittstalente sich in kleinlicher Detailmalerei verloren, Phrasen drechselten ohne Gedanken und den Inhalt dem Reim opferten. Doch gibt es unter den Mitarbeitern am »Parnasse contemporain« auch einige, welche weder der Form noch dem Tone nach dieser Richtung angehören, und deren anspruchsloser und gefühlvoller Lyrik nichts fehlt als der Schwung der Begeisterung: J. ^[Joseph] Autran (gest. 1877), Sully Prudhomme, Mad. Ackermann, Mad. Colet (Luise Revoil, gest. 1876). Eine besondere Erwähnung verdienen die frischen Chansons von G. Nadaud, die zarten Elegien und Romanzen der Frau v. Girardin (Delphine Gay, gest. 1855), die eleganten Sonette J. ^[Joséphin] Soularys, die mythologischen Allegorien A. Lefèvres und das vortreffliche Epos »Mirèio« von Fr. Mistral, dem Haupte der neuprovençalischen Dichterschule.
Das romantische Drama verlor immer mehr an Interesse. Waren schon V. Hugo und A. Dumas ihres Erfolgs nicht mehr sicher, so gelang es ihren Nachahmern A. Vacquerie, P. Meurice, Französische Mallefille, V. Séjour, Französische Dugué, E. Plouvier noch weniger, ihr Publikum zu fesseln; das fehlende Talent sollte durch Kühnheit der Verwickelungen und Effekte ersetzt werden, und die Trivialitäten in Form und Inhalt wurden immer unausstehlicher. Nur vereinzelte Werke, wie »La conjuration d'Amboise« (1868) von Louis Bouilhet, erinnerten an die Blütezeit dieser Schule, und der rauschende Erfolg bei der Wiederaufnahme des »Hernani« vor dem Publikum der Alten und Neuen Welt (bei der Ausstellung von 1867) war einer der schönsten Triumphe des Romantizismus.
Solange Rachel Felix lebte (bis 1858),
bevorzugte ein Teil des gebildeten Publikums die Aufführungen der »École du bon sens«; Ponsards Tragödien, J. ^[Joseph] Autrans »Fille d'Eschyle« und Augiers »Gabrielle«, welche beide den akademischen Preis davontrugen, »Mlle. de la Seiglière« von J. ^[Jules] Sandeau, »Lady Tartuffe« von Frau v. Girardin u. a. beherrschten damals das Théâtre français, welches unter der geschickten Leitung A. Houssayes große Triumphe feierte. Aber auch dieser Stücke ward man überdrüssig, als in dem jüngern A. Dumas (Sohn) ein treuer Interpret der realistischen Neigungen seiner Zeit erstand.
Ihm fehlten die üppige Phantasie, die großartige Leichtigkeit des Schaffens, die seinen Vater auszeichneten; dafür war er ein Meister in der Darstellung des wirklichen Lebens. Er schilderte die Schwächen und Fehler der menschlichen Natur, die Geheimnisse des Familienlebens und studierte besonders die Schichten der Gesellschaft, wo unter der glänzenden Hülle des Lasters sich Not und Elend verbergen. Häufig erkennt man in seinen Dramen die bittere Satire und die moralisierende Tendenz, doch wird die Unmoralität meist zu nahe gestreift, und unter den ungeschickten Händen seiner Nachahmer verfallen seine immerhin ausgezeichneten Sittenstudien dem nackten Naturalismus. In allen seinen Stücken, von der »Dame aux camélias« (1852),
»Demimonde« (1856) bis zur »Étrangère«, »Princesse de Bagdad« (1881) und »Denise« (1885),
handelt es sich um die Lösung sozialer Fragen, um die Rehabilitierung der gefallenen Frau, um Ehebruch und Ehescheidung; ja, sein »Monsieur [* 2] Alphonse« bringt noch bedenklichere Sachen auf die Bühne. Je mehr sich aber die sittenlose Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs für dergleichen Stücke interessierte, um so weniger konnten sich die Dichter diesem Einfluß entziehen; alle Formen der szenischen Darstellung wurden zu Zeit- und Sittenbildern, in denen die Dekorationen und Sinnenreize die Hauptanziehungspunkte bilden, und Drama und Komödie unterscheiden sich oft nur dadurch, daß jenes einen weinerlichen, moralisierenden Ton annimmt, diese ins Derbe und Possenhafte umschlägt.
Die berühmtesten Vertreter dieser realistischen Richtung sind neben A. Dumas (Sohn): Victorien Sardou, dessen »Nos intimes« (1861),
»Dora« (1877),
»Daniel Rochat« (1880),
»Théodora« (1885) über die meisten europäischen Bühnen gingen; E. Augier, welcher der »École du bon sens« bald untreu geworden war, mit »Les lionnes pauvres« (1858) und »Les Fourchambault« (1878); Th. Barrière mit »Les filles de marbre« (1853),
»Les faux bonshommes« (1856) u. a. Feiner und unanstößiger sind die besonders bei der Frauenwelt gut angeschriebenen Lustspiele und Vaudevilles von O. Feuillet, die lebendigen Schilderungen E. Paillerons (»Les faux ménages«, 1868),
das natürliche und poetische Charakterbild »Jean-Marie« (1871) von A. Theuriet, einzelne Stücke von G. Sand, von P. Meurice, J. ^[Jules] Sandeau u. a. Bei den Talenten zweiten und dritten Ranges, wie Labiche, Dennery, J. ^[Jules] Barbier, Gondinet, Meilhac, A. Thouroude, A. Bouvier, H. Berque, werden die Verwickelungen immer unwahrscheinlicher, die Situationen immer gewagter, die Erfindung immer exzentrischer; aber auch hier findet sich unter der Spreu hin und wieder eine gute Komödie.
Manche von diesen Autoren versuchten sich mit Glück in Melodramen (z. B. Dennery: »Les deux orphelines«, 1875), Feerien, komischen Opern etc., und wenn so thätige und geschickte Textfirmen wie Michel Carré und J. ^[Jules] Barbier oder Meilhac und Halévy so geniale und populäre Komponisten fanden wie J. ^[Jacques] Offenbach [* 3] und Ch. Lecocq, dann hatten sie beispiellose Erfolge zu verzeichnen. Für diese Art von Produktion hatten der Krieg von 1870 und die wüsten Szenen der Kommune kaum die Bedeutung einer Unterbrechung; dagegen scheint das Unglück des Vaterlandes für einen gewissen Teil der dramatischen Poesie nicht ohne läuternde Wirkung geblieben zu sein.
Wiederum wandte man sich, um der materialistischen Zeitströmung und dem unpoetischen Geist entgegenzutreten, zu dem Urquell aller wahren Poesie, zu den Griechen, zurück; man knüpfte an die Zeiten der Rachel, an den »Oedipe roi« von J. ^[Jules] Lacroix (1858) an, man übersetzte Sophokles und Äschylos (besonders Leconte de Lisle) und versuchte sich wieder in der Nachahmung Corneilles und Racines. Da sind vor allem Borniers »Fille de Roland« (1875) zu nennen und J. ^[Jules] Barbiers »Jeanne d'Arc« (1873), welche mit ungewöhnlicher Begeisterung aufgenommen wurden; aber auch andre junge Dichter, wie Ballande, Deroulède, Ch. Lomon, Du Clésieux, E. Delpit, Parodi u. a., bemühen sich nicht ohne Erfolg, Einfachheit und schlichte Reinheit auf die Bühne zurückzuführen.
Der Roman mußte ebenfalls der realistischen Zeitströmung folgen. Man wollte den Romantikern nicht mehr in das Reich der Erfindung, in fremde Länder und vergangene Zeiten folgen; der Roman sollte das wirkliche Leben illustrieren und seinen Schauplatz in Paris [* 4] suchen. Während der ältere Dumas in seiner phantastischen und flachen, aber drastischen und pikanten Manier noch alljährlich 50-60 Bände auf den Büchermarkt warf und die märchenhaften, oft wüsten Erfindungen seiner Nachtreter sowie die grellen Kulturgemälde E. Sues einen starken Absatz fanden, knüpfte die realistische Richtung an Balzac und Beyle an. Auch hier steht der jüngere Dumas mit an der Spitze. Treue Schilderung des wirklichen Lebens, scharfe Beobachtung des menschlichen Herzens bis in seine geheimsten ¶
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Falten, unverhüllte Sinnlichkeit sind die charakteristischen Merkmale dieser Schule, als deren Führer Champfleury gilt. Aber auch hier führte die Übertreibung bald über die Grenzen [* 6] des ästhetisch und sittlich Erlaubten hinaus: von der »Dame aux camélias« des jüngern Dumas, der »Madame Bovary« von Flaubert, der »Fanny« von Feydeau und den unmoralischen Schriften von X. de Montépin, Th. Gautier und den Brüdern de Goncourt ist nur ein kleiner Schritt bis zu dem Naturalismus E. Zolas, dessen Romane in ihrer Brutalität und Lüsternheit allem Schamgefühl Hohn sprechen.
Ihre fast beispiellosen Erfolge (»Assommoir« und »Nana« haben über 100 Auflagen erlebt) verdanken dieselben neben dem prickelnden Sinnenreiz der minutiösen Genauigkeit der Beobachtung und der wunderbaren Gestaltungskraft E. Zolas, Vorzüge, welche seinen Jüngern in viel geringerm Maß eigen sind. Von diesen sind J. ^[Jules] Claretie, Huysmans, J. ^[Jules] Vallès, A. Belot die rührigsten und talentvollsten; ihre Romane finden, auch in dramatisierter Form, besonders wegen ihrer Aktualität zahlreiche Bewunderer.
Ähnlicher Erfolge haben sich die trefflichen Schilderungen Pariser Sitten von A. Daudet und die liebenswürdigen und pikanten Darstellungen von G. Droz zu rühmen; doch wurden sie weit überflügelt von den Erfolgen des Feuilletonromans, der in dieser Epoche eine unglaubliche Ausdehnung [* 7] gewann. Erfunden von L. Véron, eingeführt von E. de Girardin vermittelst seiner »Presse«, [* 8] wurde derselbe durch die geschickten Federn eines A. Dumas (Vater), Fr. Soulié, P. Féval, E. Sue, Th. Gautier, L. Gozlan eine Macht ersten Ranges und führte eine Umgestaltung der gesamten Preßverhältnisse herbei.
Der immer ungenierter hervortretenden Spekulation auf das Amüsement und die Neugierde der Leser, welche dem Charakter des Feuilletonromans als eines Konkurrenz- und industriellen Unternehmens entspricht, mußten der künstlerische Aufbau und die solide Durchführung der Erzählung zum Opfer fallen; jetzt ist er ebenfalls eine Domäne der Naturalisten geworden: statt der lang ausgesponnenen Abenteuer- und Verbrecherromane liest man jetzt ihre anatomischen und pathologischen Schilderungen.
Anspruch auf Erwähnung in diesem Genre haben noch: P. Meurice, E. Gonzales, P. Zaccone, Gaboriau (Kriminalromane), E. Richebourg u. a. Im sentimentalen Roman sind neben der hochpoetischen G. Sand deren Geistesverwandte, der aristokratische O. Feuillet, der geschmackvolle V. Cherbuliez, der treffliche Landschafter A. Theuriet und der humoristische und psychologisch wahre J. ^[Julien] Sandeau (gest. 1883), zu nennen, ferner eine Anzahl Schriftsteller, die sich um die »Revue des Deux Mondes« gruppieren; H. Malot zeigt realistische Färbung.
In dem luftigen Reich der Phantasie und des Witzes tummelt sich eine Schar glänzender Stilisten: der geistvolle, satirische E. About (gest. 1885), A. Karr, der affektierte A. Houssaye und Ch. Monselet. Moralische und religiöse Romane schrieben der jüngst bekehrte P. Féval, H. Violeau, L. Gautier und Mad. A. Craven; gute Schilderungen vom Seeleben lieferte (nächst E. Sue und Corbière) de la Landelle, vom Soldatenleben P. de Molènes und A. de Gondrecourt, vom Künstlertum H. Murger, von der Geistlichkeit Ferdinand Fabre u. a. In der Wiedergabe kleinstädtischen, dörfischen Lebens exzellierten neben E. Souvestre, G. Sand und J. ^[Jules] Janin besonders die Elsässer E. Erckmann und A. Chatrian, welche in einfacher, schmuckloser, in letzter Zeit freilich stark chauvinistisch gefärbter Darstellung Land und Leute ihrer Heimat schilderten.
Großartigen Beifall fanden die phantastischen Abenteuer- und Reiseromane von J. ^[Jules] Verne, welche unter ihrer märchenhaften Hülle der Jugend ein reiches Maß naturhistorischer Belehrung und eine interessante Einführung in die Probleme moderner Wissenschaft bieten wollen. Eine eigne Litteratur brachten die Jahre 1870 und 1871 hervor, die sogen. Revanchelitteratur, die ihren Mittelpunkt in der »Nouvelle Revue« der Madame Adam (Juliette Lamber) hat, und in der fast alle jüngern Kräfte sich versucht und leichte Lorbeeren gepflückt haben.
Hier ersetzten die Kraft [* 9] des Hasses, die Heftigkeit der Invektiven, die wortreichen Klagen über das Unglück Frankreichs den Mangel an wahrer Poesie, Originalität und Korrektheit. Fr. Coppée, Achard, J. ^[Jules] Lacroix, Soulary, C. Mendès, E. Manuel, Ch. Lomon, Deroulède u. a. ließen ihre Wut gegen Deutschland [* 10] in Gedichten, Dramen, Memoiren etc. aus, und gehässige und parteiische Schriften über Deutschland und das Elsaß, wie die von E. About und V. Tissot, finden noch jetzt einen gläubigen Leserkreis.
Wissenschaftliche Litteratur.
Philosophie.
Wie bei den übrigen modernen Nationen, hat es zwar auch in Frankreich schon im Mittelalter an philosophischen Bestrebungen nicht gefehlt, eine eigentlich französische Philosophie gehört aber erst den neuern Zeiten an. Die erste Spur jener Bestrebungen findet sich im 9. Jahrh., als Karl der Kahle den Vater der scholastischen Philosophie, Joh. Scotus Erigena (s. d.), aus England an die Hofschule zu Paris, den ersten Keim der nachherigen Pariser Universität, berief, welcher jedoch schon nach wenigen Jahren, der Ketzerei verdächtig, orthodoxer Verfolgung weichen mußte.
Beide Erscheinungen, sowohl die Verpflanzung liberaler Denkweise von der Nachbarinsel her als kirchengläubige Reaktion gegen Freidenkende, haben sich seitdem im Lauf der geschichtlichen Entwickelung der Philosophie in Frankreich mehrmals wiederholt. Dennoch blieb von da an die hohe Schule von Paris (seit 1206 Universität) der vornehmste, lange Zeit neben der noch ältern Schwester Bologna der einzige Sitz der scholastischen Philosophie in Europa, [* 11] die sich von dort auf die andern nach dem Muster jener beiden allmählich entstehenden Universitäten ausbreitete.
Bis zum Ausgang des 14. Jahrh., d. h. bis zur Gründung der Universitäten zu Prag [* 12] (1348) und Wien [* 13] (1365), gibt es fast keinen namhaften Philosophen, der nicht entweder an der Pariser Universität gelehrt, oder doch daselbst seine Bildung empfangen hätte. Der Gegensatz der beiden großen Schulen des Realismus und Nominalismus, deren Hauptträger Wilhelm v. Champeaux und Johannes Roscellin, beide geborne Franzosen, wie der spätere der Thomisten und Scotisten, deren Vertreter, der Italiener Thomas von Aquino und der Brite Duns Scotus, beide Doktoren und Lehrer der Pariser Hochschule waren, ist von Paris ausgegangen. Das skeptische, dem französischen Nationalcharakter besonders entsprechende Element trat in Abälard (gest. 1142) hervor, dessen Konzeptualismus ebenso die herrschenden logischen wie seine berühmte Schrift »Sic et non« die herrschenden kirchlichen Gegensätze unentschieden ließ. Wie wenig die Neigung des französischen Geistes dem Dogma zugewandt war, beweist der Bericht des Marinus Mersennus in seinem Kommentar zur Genesis, daß es im Anfang des 15. Jahrh. zu Paris nicht weniger als 50,000 »Atheisten«, d. h. ¶