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eine Sammlung von Volksliedern (»Vaux-de-Vire« genannt),
die jedoch erst später verfaßt worden ist, während einige von Basselins und seiner Genossen Gedichten sich wohl in den »Chansons normandes du XIV. siècle« (hrsg. von Gasté, Caen 1866) erhalten haben. Das 15. Jahrh. weist zwei Lyriker von hervorragender Bedeutung auf: Karl von Orléans [* 2] (gest. 1465) und Fr. Villon (gestorben um 1480); der erste ein fürstlicher Sänger, fein, elegant, der Vertreter der höfischen Poesie; der andre ein Volksdichter, kühn, genial, oft cynisch und frech, das Muster eines verbummelten Studenten und Landstreichers. Diesem steht am nächsten Guillaume Coquillart (gest. 1510) mit seinen frivol-burlesken, meist satirischen Gedichten (hrsg. von d'Héricault, 1857), während Octavien de Saint-Gelais (gest. 1502) mit seiner glatten, moralisierenden Gelegenheitsdichtung und seiner Vorliebe für Allegorie zu den höfischen Dichtern gezählt werden muß.
Einen neuen Mittelpunkt fand die Poesie in Flandern, am Hof [* 3] des mächtig aufblühenden burgundischen Reichs; dort sammelte sich eine Dichterschule, die durch rhetorischen Schwulst und pedantische Gelehrsamkeit zu glänzen suchte, und deren Hauptvertreter Georges Chastelain, Jean Molinet und Jean le Maire (genannt »les grands rhétoriqueurs«) sind; sie fanden zahlreiche Schüler und sind als die Vorläufer der »Plejade« zu betrachten. Doch erfreute sich in Frankreich die Manier, feine und leichte, lustige und bissige Gedichte zu fabrizieren, worin z. B. Martial d'Auvergne, Henri Baude und Jean Marot sich auszeichneten, trotzdem einer größern Beliebtheit; interessante Proben dieser frischen Poesie bieten die Sammlungen: »Chants populaires du XV. siècle« von G. Paris [* 4] (Par. 1875) und »Französische Volkslieder«, zusammengestellt von M. Haupt (hrsg. von A. Tobler, Leipz. 1877). -
In dieser Zeit des Niedergangs der Poesie ist die didaktische Dichtung schwer von der lyrischen zu trennen; bei vielen Dichterlingen bestand die Lyrik ja nur aus langweiligen, lehrhaften Erörterungen. Mit Vorliebe erging man sich in einem breit-moralisierenden und platt-satirischen Ton;
am meisten sagte der scholastisch-dialektischen Gelehrsamkeit die Allegorie zu.
Der größte Teil der hierher gehörigen Schriften ist noch ungedruckt, und nur wenige verdienen eine Erwähnung, wie: »Le [* 5] miroir de mariage« von Eustache Deschamps;
die »Dits moraux« oder »Enseignements de Christine à son fils« von Christine von Pisan, welche sogar der königlichen Familie Ermahnungsschriften zukommen ließ;
»Le bréviaire des nobles« von Alain Chartier;
»Les trois pélerinages« von Guillaume de Guilleville;
die moralisierten Metamorphosen Ovids von Philipp von Vitry u. a.
Den volksmäßigen Charakter trug am meisten in dieser Periode die dramatische Poesie. Die Mysterien und Mirakel nahmen nach und nach mehr weltliches Element in sich auf, verlegten ihre Bühne auf Straßen und öffentliche Plätze, gingen aus den Händen der Geistlichkeit in die der Laien über und dienten dem Volk bald mehr zur Kurzweil als zur Andacht. Mit der Mitte des 15. Jahrh. hörte auch hier die ursprüngliche Einfachheit auf: die Stoffe werden encyklisch verarbeitet, schwellen übermäßig an und werden prächtiger inszeniert;
realistische Einschaltungen und possenhafte Zwischenspiele nehmen allmählich überhand, und es gab Mysterien, die wochenlang dauerten, bei welchen Hunderte von Menschen thätig waren und ganze Städte und Provinzen das Publikum bildeten.
Während diese Darstellungen ihre Stoffe aus der Bibel [* 6] und Heiligenlegende entlehnten, behandelten die Farces, Soties und Moralités nur weltliche Stoffe. Die Farcen, welche auch die Dits, Débats, Disputes, Monologues, Dialogues, Sermons joyeux etc. mit umfassen, ziehen die Schäden und Gebrechen des sozialen Lebens, besonders das Lächerliche, vor ihr Forum; [* 7] sie versteigen sich in ihren übermütigen, derben Scherzen nicht selten bis zur Schamlosigkeit. In den Sottien tritt eine Gesellschaft von Narren auf, mit Eselsohren und Schellenkappe, die im Vertrauen auf das Privilegium der Narrheit: »ridendo dicere verum«, oft recht ernste und wichtige Dinge behandeln;
ihre Lieblingsthemata waren politische.
Doch wirkte das Einerlei ihrer Figuren ermüdend; es waren immer dieselben Masken, [* 8] immer dieselben Personen und Attribute, der »Prince des sots« meist die Maske für König und Staat, die »Mère sotte« für Kirche und Geistlichkeit etc. Das Interesse des Publikums knüpfte sich bald nur noch an die Pantomimen und Grimassen, und damit verlor die Sottie ihre Bedeutung. Die Moralitäten sind ebenfalls politisch; auch sie wollen die Wunderlichkeiten und Thorheiten der menschlichen Gesellschaft heilen, aber sie sind dabei ernsterer Natur und haben eine moralisierende Tendenz; sie machen den ausgiebigsten Gebrauch von der Allegorie, die naturgemäß schon in der Sottie eine große Rolle spielt. Blut und Leben, Leidenschaft und Charakter fehlten auch ihnen, und Hohlheit und Langweiligkeit waren ihre schlimmsten Gebrechen. Alle diese dramatischen Gattungen gehen leicht ineinander über; häufig ist eine Sottie nichts weiter als eine von Narren aufgeführte Moralität; auch für die Pastorales und Bergeries (Hirten- und Schäferspiele), welche sich hier und da finden, ist eine strenge Abgrenzung nicht durchgeführt worden.
Dies sind die dramatischen Formen, in denen das ausgehende Mittelalter seinen Geist und seine Sitten zum Ausdruck brachte. Hundert Jahre lang, von der Mitte des 14. bis zu der des 15. Jahrh., wütete der schreckliche Krieg mit England; aber das geistige Leben der Nation ruhte nicht. Wie um Vergessen von seinen Drangsalen zu suchen, strömte das Volk zu den großen Festen, an denen die Leidensgeschichte und Auferstehung des Heilands dargestellt wurde; überall bildeten sich litterarische Gesellschaften, die den kunstvollen Gesang pflegten oder mit übermütigen Possen Not und Jammer der Zeiten zu übertönen versuchten.
Als aber der Friede gesichert war und Frankreich mächtiger denn je dastand, da brach eine lange glückliche Zeit an, die bis zur Mitte des 16. Jahrh. dauerte, und in der das geistige Leben einen gewaltigen Aufschwung nahm und besonders die dramatische Kunst eifrig gepflegt wurde. Unter den litterarischen Gesellschaften, welche sich überall zusammenfanden, interessieren uns am meisten die in Paris entstandenen. Hier war es vor allen die Zunft der Parlaments- und Gerichtsschreiber, der »Clercs de la Bazoche«, welche seit 1303 das Vorrecht hatten, bei ihren öffentlichen Aufzügen dramatische Spiele zu veranstalten.
Dies geschah zuerst in gemischter Sprache, [* 9] lateinisch und französisch, woher diese Stücke »Farces« genannt wurden, ein Name, der bald auf alle satirisch-possenhaften Darstellungen ausgedehnt wurde. Ein Meisterwerk ging aus der Bazoche hervor, die »Farce de Patelin« (um 1469); durch ihren geschickten Aufbau, die Lebendigkeit und Wahrheit der Charakterzeichnung und durch ihre treffliche Komik überragt sie weit alle gleichzeitigen Stücke. Der große Erfolg der Bazoche regte 1380 ¶
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eine andre Vereinigung an, die der »Enfants sans soucy«. Dies waren junge Leute aus guter Familie, welche in der Narrentracht der Karnevalszeit auf ihrem Theater in [* 11] den Hallen ihre lustigen Stücke (soties) aufführten. Das christliche Drama fand seine Darsteller in einer Gesellschaft frommer Handwerker, der »Confrères de la Passion«, die 1396 gegründet war und 1402 das Privilegium für die Darstellung von Mysterien und Mirakeln erhalten hatte. Dasselbe wurde ihr aber 1548 durch Parlamentsbeschluß wieder entzogen, als das Überwuchern des komischen Elements den Schichten der Bevölkerung, [* 12] denen Renaissance und Reformation die Augen geöffnet hatten, zum Ärgernis wurde. Eine Zeitlang traten die Moralitäten in die Lücke ein; aber die Vorstellungen der Confrérie hatten ihren Reiz verloren. Sehr häufig tauschten diese Gesellschaften ihre Stücke miteinander aus, und das interessanteste Datum hierfür ist das Jahr 1511, in welchem der Dichter und Schauspieler Pierre Gringore (gest. 1547) auf seinem Theater (in den Hallen) mit Erfolg eine Art Trilogie in Szene setzte: »Jeu et sotie du prince des sots«, »Moralité de l'homme obstiné« und die obscöne Farce »De dire et de faire«. Sammlungen von Komödien finden sich bei Leroux de Lincy und Michel, Recueil etc. (Par. 1837, 4 Bde.); Viollet le Duc, Ancien théâtre français (das. 1854, 10 Bde.), und P. L. Jacob, Recueil de farces, etc. (das. 1859); von Mysterien bei Jubinal (das. 1837, 2 Bde.).
Das 16. Jahrhundert.
Die Bekanntschaft mit der glänzenden Bildung und der feinen Geselligkeit der Italiener, welche die Franzosen aus den Kriegen Karls VIII., Ludwigs XII. und Franz' I. mit heimbrachten, und das Studium der Werke des Altertums, welche durch berühmte Gelehrte (Budäus, Scaliger, Casaubonus, die beiden Stephanus u. a.) und durch treffliche Übersetzer (besonders Amyot) dem großen Publikum zugänglich gemacht wurden, übten eine mächtige Wirkung auf das geistige Leben der Nation aus.
Überall zeigte sich Interesse für Kunst und Wissenschaft, besonders aber an den glänzenden Höfen des lebensfrohen, genußsüchtigen Franz I. und seiner Schwester Margarete von Navarra, der Verfasserin einer vielbewunderten Novellensammlung in Boccaccios Geschmack, des »Heptameron«. Wer eine lustige Erzählung, ein Madrigal oder ein Sonett, ein Rondeau oder ein witziges Epigramm zu schmieden vermochte, stand in hohen Ehren, und oft trug ein gelungenes Gedicht den Lohn reicher Pfründen davon.
Auch spanisches Wesen fand am französischen Hof Eingang: die Amadisromane, die unter dem Einfluß der Artusromane entstanden sind, und welche Franz I. während seiner Gefangenschaft zu Madrid [* 13] kennen und lieben gelernt hatte, wurden auf den Wunsch des Königs ins Französische übertragen und fanden begeisterte Aufnahme. In dieser geistig angeregten, jedoch noch ziemlich rohen Gesellschaft gab den Ton Clément Marot an (gest. 1544), der Lieblingsdichter der königlichen Geschwister, dessen unverwüstliche Laune, Naivität und Frische trotz seiner Derbheiten noch jetzt ansprechen; nächst ihm Des Périers (gestorben um 1544), der mit Margarete den Ruhm teilt, die elegantesten und pikantesten Erzählungen verfaßt zu haben.
Ebenso originell wie Marot, aber ungleich bedeutender ist Fr. Rabelais (1495-1553), der in seinem »Gargantua et Pantagruel« ein geniales Gemälde der Verderbnis und der Thorheiten seiner Zeit entwirft. Schonungslos greift er die Mächtigen der Erde, besonders die Kirche, an und entwickelt dabei in seiner Ausdrucksweise einen Reichtum und eine schöpferische Kraft, [* 14] wie sie nie wieder ein französischer Schriftsteller besessen hat. Dies waren die Hauptvertreter der nationalen, volkstümlichen Richtung, die von einem selbstbewußten, freisinnigen Bürgertum gepflegt wurde; ihre Spottgedichte und Satiren sind zugleich der Ausdruck des immer dringender sich erhebenden Rufs nach kirchlichen Reformen.
Die wuchtigsten Hiebe gegen die verrotteten Institutionen der mittelalterlichen Kirche führten die berühmten Prosaisten der Reformation, Calvin (gest. 1564), La Boétie, Michel L'Hôpital u. a.; die Existenz des Papsttums war ernstlich gefährdet. Da raffte die Kirche noch einmal alle ihre Macht zusammen, und in einem der schrecklichsten Bürgerkriege, die je ein Land verwüstet, wurden der Widerstand und die Kraft des Bürgertums gebrochen: Kirche und Königtum standen unumschränkter da als je.
Hiermit war auch der Sieg des italienischen und altklassischen Einflusses über die nationale Strömung in der Litteratur endgültig entschieden;
am Hof, wo eine Katharina von Medicis herrschte, waren diese fremden Elemente schon seit Rabelais' Tod (1553) die herrschenden gewesen.
Damals hatte sich nämlich eine Vereinigung von sieben Dichtern, die sogen. Pléjade, zusammengefunden, die den ausgesprochenen Zweck verfolgte, durch die Verschmelzung der antiken mit der modern-italienischen eine nationale Bildung zu schaffen und die französische Sprache zur Höhe der klassischen zu erheben. Der Herold der neuen Schule, Joachim Du Bellay (gest. 1560), verkündete diesen Zweck in seinem berühmten Manifest »Défense et illustration de la langue française« (1549); ihr Haupt Ronsard (gest. 1585) hat ein halbes Jahrhundert hindurch unbestritten den französischen Parnaß beherrscht. Ein Feuereifer beseelte diese Dichterschule: der Meister selbst dichtete Oden nach Pindar und Horaz, Elegien nach Tibull, Liebes- und Trinklieder nach Anakreon, brachte den »Plutos« des Aristophanes auf die Bühne und suchte mit seiner »Franciade« in Vergils Manier das Frankenvolk mit Ilions Geschicken in Verbindung zu setzen; Jodelle (gest. 1573) schrieb Dramen nach klassischen Mustern (»Cléopâtre captive«, »Didon se sacrifiant« etc.), die vor einem eleganten und gelehrten Publikum ungeheuern Beifall fanden; andre strebten nach dem Ruhm Petrarcas und suchten die poetische Sprache Ronsards noch künstlicher zu gestalten. Aber hierin gerade lag der Fehler der Pléjade: diese Sucht nach neuen Worten und Wendungen, dieser Abscheu vor dem Gewöhnlichen, Hergebrachten mußten zur Unnatur und Geschmacklosigkeit führen. Denn nur da, wo Ronsard am wenigsten antikisiert, zeigt er sich als wahren Dichter; der Mittelmäßigkeit seiner Schüler aber fehlt jeder poetische Hauch. Am natürlichsten sind noch die Gedichte von Phil. Desportes (gest. 1606) und Jean Bertaut (gest. 1611), den Typen der galanten, frivolen Abbés dieser Zeit; doch auch sie entgehen nicht dem scharfen Spott Malherbes. Mehr an Marot als an Ronsard schließen sich an Jean Passeret (gest. 1602) und Louise Labé (gest. 1566), die schöne Seilerin; bei ihnen findet man oft tiefes Gefühl und echt lyrischen Schwung. Auch im Drama hat die Pléjade nichts Bleibendes geschaffen: Jodelles Stücke hatten keine Ahnung von dramatischer Verknüpfung, und von seinen Nachfolgern kann nur Robert Garnier (gest. 1590) auf Erwähnung Anspruch machen. Neben diesem gelehrten Schuldrama, das vornehmlich aus Übersetzungen und Nachahmungen von Terenz, Seneca etc. bestand, gab es eine ¶