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Seitdem wurde die Politik des Kaiserreichs immer unsicherer und schwankender. Um das ungestüme Verlangen nach irgend einer Genugthuung für 1866 zu befriedigen, wollte Napoleon 1867 Luxemburg [* 2] kaufen, mußte aber auf den Einspruch Preußens [* 3] davon abstehen und sich mit der Neutralisation des Landes und der Räumung der Festung [* 4] durch die preußischen Truppen begnügen. Die Besuche der Souveräne während der glänzenden Weltausstellung 1867 verliehen dem Kaiserreich wiederum einigen Nimbus.
Die durch Garibaldis Angriff auf Rom [* 5] nötig gewordene Intervention im Kirchenstaat und das Gefecht bei Mentana welches die weltliche Herrschaft des Papstes noch einmal rettete, wurden dagegen dem Kaiser von den Liberalen und von Italien [* 6] sehr verdacht und von der Kirche nicht gedankt, wie denn der Rat Frankreichs, der größten katholischen Macht, bei dem vatikanischen Konzil in keiner Weise beachtet wurde. Auf zwei Punkte konzentrierte sich besonders die Thätigkeit der Regierung, auf die Reorganisation der Armee und die politische Reform.
Die erstere führte der Kriegsminister Marschall Niel nach dem Muster des bewährten preußischen Systems durch; die Kammern bewilligten reichliche Mittel, und es konnte auch eine Neubewaffnung der Infanterie mit dem Chassepotgewehr beschafft werden. In der innern Politik entschloß sich der Kaiser endlich zu der seit lange verheißenen, aber immer wieder hinausgeschobenen »Krönung des Gebäudes« durch freiheitliche Institutionen, da sich das bisherige Schaukelsystem zwischen Zugeständnissen und Repressivmaßregeln trotz der Gewandtheit und der rhetorischen Kunststücke des »Vizekaisers« Rouher nicht bewährt und ein stetes Anwachsen der Opposition zur Folge hatte.
Nur hatte das allzu lange Zaudern die Wirkung, daß die liberale Verfassungsreform als ein Zeichen der Schwäche und der Verlegenheit der kaiserlichen Regierung angesehen wurde und daher nicht zur Beschwichtigung, sondern zur Vermehrung der Agitation beitrug. Denn bei den Neuwahlen für den Gesetzgebenden Körper erhielt die Regierung trotz aller Anstrengungen nur 4,467,720 Stimmen, die Opposition 3,258,777, wenn auch bloß 54 oppositionelle Deputierte gewählt wurden, und in der kurzen Kammersession im Juli 1869 verlangten bereits 116 Deputierte der Linken und einer neugebildeten Mittelpartei in einer Interpellation Verantwortlichkeit der Minister und Unabhängigkeit sowie freie parlamentarische Bewegung mit Initiative für den Gesetzgebenden Körper.
Indem der Kaiser jetzt nachgab und 17. Juli Rouher entließ, erweckte er den Anschein, als ob er nicht freiem Antrieb, sondern nur dem Zwang der Situation gehorche. Daher stieg die Aufregung in der Pariser Bevölkerung, [* 7] und die oppositionelle Presse [* 8] wie die Agitatoren wurden täglich kecker. Dennoch übten die Worte der Thronrede, mit welcher der Kaiser 29. Nov. die Kammer eröffnete: »Frankreich will die Freiheit, aber mit der Ordnung; für die Ordnung stehe ich ein, helfen Sie mir die Freiheit zu schützen!« eine gute Wirkung aus, und die erweckten Hoffnungen schienen sich zu erfüllen, als das bisherige Mitglied der Opposition, Emile Ollivier, mit der Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt wurde, das aus gemäßigt liberalen Anhängern des Kaiserreichs sich zusammensetzte.
Aber dem alternden, kränklichen Kaiser fehlte es an Thatkraft, um entschieden in das neue System einzulenken und die Nation mit Vertrauen zu seinem aufrichtigen, ernsten Willen zu erfüllen, während die Pariser Demokratie sich nicht in ihrer unversöhnlichen Feindschaft gegen das Kaiserreich beirren ließ und bei dem Begräbnis des vom Prinzen Peter Bonaparte erschossenen Journalisten V. Noir sowie nach der Verurteilung Rocheforts große Demonstrationen, ja sogar schon Aufstandsversuche ins Werk setzte.
Unter dem Eindruck dieser Vorfälle ließ sich der Kaiser von der Kaiserin, die von den Jesuiten geleitet wurde, und von Rouher bestimmen, die Rückkehr zum persönlichen Regiment vorzubereiten. Während Ollivier mit seinen Vorschlägen über eine liberale Preßgesetzgebung und die weitere Ausdehnung [* 9] der Befugnisse der Kammern noch beschäftigt war, wurde er bewogen, im Auftrag des Kaisers dem Senat 28. März einen Entwurf vorzulegen, welcher die angeblich beabsichtigten freisinnigen Verfassungsänderungen nur in sehr allgemeiner Form enthielt, hauptsächlich und aufs klarste aber die alleinige Verantwortlichkeit des Kaisers vor der Nation und sein Recht betonte, jederzeit Berufung an dieselbe einzulegen.
Nach Annahme dieses Konsults durch den Senat (20. April) wurde es dem Volk zur Abstimmung vorgelegt in Form eines Plebiszits, welches sehr geschickt so gefaßt war: »Das französische Volk billigt die in der Verfassung seit 1860 bewirkten liberalen Reformen und genehmigt den Senatsbeschluß vom 20. April". Die Abstimmung vom 8. Mai ergab zwar 7,350,142 Ja und nur 1,538,825 Nein; allein die großen Städte hatten durchgängig mit starker Mehrheit ein Nein abgegeben, und, was sehr peinlich für den Kaiser war, auch aus der Armee und Marine waren gegen 50,000 Nein gekommen. Um diese letztern wieder für sich zu gewinnen und zugleich die durch das Plebiszit für das persönliche Regime geschaffene Grundlage weiter zu befestigen, entschloß sich die Kamarilla zu einem großen populären auswärtigen Krieg.
Zu diesem Zweck wurde anstatt Darus Gramont zum auswärtigen Minister ernannt. Derselbe nahm die spanische Thronkandidatur des Erbprinzen von Hohenzollern [* 10] zum Kriegsvorwand, indem er hoffte, diese Frage werde in Deutschland [* 11] als eine preußisch-dynastische aufgefaßt und Preußen [* 12] dadurch isoliert werden. In der Sitzung des Gesetzgebenden Körpers 6. Juli erklärte der Herzog von Gramont unter stürmischem Beifall der Majorität, Frankreich werde nicht dulden, daß eine fremde Macht einen ihrer Prinzen auf den Thron [* 13] Karls V. setze.
Zwar schien durch die Verzichtleistung des Prinzen und die gemäßigte Haltung des Königs von Preußen jeder Grund zum Krieg wegzufallen, und Ollivier äußerte auch 12. Juli, daß damit der Zwischenfall erledigt sei. Aber die Kriegspartei wollte den Krieg um jeden Preis, zumal der Kriegsminister Leboeuf erklärte, die Armee sei bis zum letzten Knopf bereit, und die weitern Forderungen, die an den König Wilhelm durch Benedetti in Ems [* 14] gestellt wurden, waren darauf berechnet, den Krieg unvermeidlich zu machen. Am 14. Juli wurden die französischen Reserven einberufen, am 15. eine Kreditforderung gestellt und am 19. die Kriegserklärung in Berlin [* 15] übergeben.
Der deutsch-französische Krieg.
Das französische Volk ließ sich zumeist von der Kriegsbegeisterung anstecken; bei der Abstimmung über die Kreditforderung 15. Juli fanden sich nur zehn Opponenten, die auch nur aus Opportunitätsgründen vor Überstürzung warnten. Indessen die französischen Erwartungen wurden in politischer Beziehung sofort getäuscht. Die süddeutschen Staaten stellten ihre Heere unter preußischen Oberbefehl;
Österreich [* 16] wartete erst einen Sieg Frankreichs ab, um offen auf dessen Seite zu treten;
in Italien verhinderte die ¶
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Volksstimme den König, den Unterdrückern Roms sich anzuschließen; selbst Dänemark [* 18] blieb endlich neutral, während England in gewohnter Unthätigkeit verharrte. Bei der Mobilmachung zeigte sich sofort, daß die Armee keineswegs kriegsbereit war. So kam es, daß die Franzosen, statt Deutschland sofort mit ihren Scharen zu überschwemmen, in ihrem eignen Land angegriffen wurden. Schon nach den Schlachten [* 19] bei Wörth [* 20] und Spichern zeigte sich der ganze Staatsorganismus bedroht. Am 9. Aug. traten die schleunigst berufenen Kammern zusammen; das Ministerium Ollivier wurde sofort gestürzt und der Graf Palikao mit Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt, in welchem er selbst das Präsidium und den Krieg übernahm, und welches übrigens durchaus bonapartistisch war.
Das Ministerium Palikao suchte durch Beschönigung der wirklichen Sachlage die öffentliche Stimmung zu beruhigen und die Dynastie zu retten sowie die Streitkräfte des Landes zu organisieren. Aber die Ereignisse machten durch ihre Schnelligkeit alle diese Bemühungen vergeblich. Die gewaltige Niederlage bei Sedan [* 21] am 1. und die Kapitulation vom 2. Sept. warfen das Kaisertum über den Haufen. Die erbitterte Volksmenge zwang in Paris [* 22] die Kaiserin zur Flucht nach England, drang in den Sitzungssaal des Gesetzgebenden Körpers und nötigte denselben 4. Sept. zur Absetzung Napoleons. Auf dem Stadthaus wurde darauf die Republik ausgerufen und eine provisorische Regierung aus den Pariser Deputierten unter dem Präsidium des Generalgouverneurs von Paris, Trochu, gebildet. Dieselbe nannte sich Regierung der nationalen Verteidigung (Gouvernement de la défense nationale).
Ohne jede Schwierigkeit ward die Republik und ihre Regierung im ganzen Land anerkannt, das längst gewohnt war, sein Losungswort von Paris zu empfangen. Der Minister des Auswärtigen, J. ^[Jules] Favre, erklärte sich zwar zum Abschluß eines Friedens bereit, zugleich aber keinen Zoll des französischen Gebiets und keinen Stein seiner Festungen abtreten zu wollen; lieber werde Frankreich den Kampf bis zum Äußersten fortsetzen. Unter diesen Umständen blieb eine Verhandlung Favres mit Bismarck in Ferrières 19. und 20. Sept. resultatlos.
Allein die Hoffnung auf eine fremde Dazwischenkunft, welche Thiers durch eine Rundreise bei den Großmächten herbeizuführen suchte, schlug fehl, und seit Mitte September war Paris durch die deutschen Heere eingeschlossen. Die französische Regierung blieb trotzdem in Paris, jedoch schlug ein Teil derselben als »Delegation« seinen Sitz in Tours [* 23] auf. Die Seele der republikanischen Regierung wurde bald Léon Gambetta, der, nachdem er sich 6. Okt. in einem Luftballon aus Paris nach Tours begeben hatte, sich zum Diktator Frankreichs aufwarf.
Sein glühender Ehrgeiz, seine fieberhafte Thätigkeit, sein aufrichtiger Enthusiasmus schufen mit Hilfe der großartigen Vaterlandsliebe, Opferfähigkeit und Kriegsbegeisterung, welche das französische Volk auch diesmal bewährte, schon seit Mitte November immer neue zahlreiche Armeen aus dem scheinbar erschöpften Frankreich, das den Widerstand in Paris und den Provinzen noch fünf Monate fortsetzte und schließlich nach den blutigen Kämpfen der Nordarmee bei Amiens, [* 24] Bapaume und St.-Quentin, der Loirearmee bei Orléans [* 25] und Le Mans, [* 26] der Ostarmee bei Belfort, [* 27] endlich der Pariser Armee bei Villiers und am Mont Valérien Ende Januar 1871 mit der Kapitulation von Paris ehrenvoll unterlag.
Die Friedensunterhandlungen brachten eine Spaltung in der Regierung hervor. Während nach Abschluß des Waffenstillstandes die Pariser Regierung die Wahlen zur Nationalversammlung ausschrieb, die über Krieg und Frieden entscheiden sollte, erließ auf Gambettas Betreiben die von Tours nach Bordeaux [* 28] übergesiedelte Delegation 31. Jan. ein Dekret, welches alle notorischen Bonapartisten, ehemaligen kaiserlichen Beamten etc. vom Wahlrecht ausschloß.
Aber die Pariser Regierung hob dieses Dekret auf und erklärte die Vollmachten der Delegation für erloschen, worauf dieselbe zurückzutreten sich genötigt sah. Die Wahlen zur Nationalversammlung gingen 8. Febr. ohne jede Beschränkung vor sich und ergaben eine große Mehrheit von Konservativen, da diese dem Land einen schleunigen Abschluß des Friedens versprachen, nach dem es sich vor allem sehnte. Am 13. Febr. trat die Nationalversammlung (750 Mitglieder) in Bordeaux zusammen, wählte den gemäßigten Republikaner Grévy zu ihrem Präsidenten und, nachdem die Regierung der nationalen Verteidigung ihr Amt niedergelegt, 17. Febr. fast einstimmig den in 20 Departements erwählten Thiers zum Chef der ausführenden Gewalt; er behielt Favre, Picard (für Inneres), Simon und Leflô als Minister und übertrug Dufaure die Justiz, Lambrecht den Handel, Pothuau die Marine, de Larcy die öffentlichen Arbeiten.
Diesem aus verschiedenen Parteien zusammengesetzten Ministerium entsprach sein 19. Febr. entwickeltes Programm, welches baldigsten Abschluß des Friedens und Waffenstillstand zwischen allen Parteien bis zur völligen Befreiung und Wiederherstellung des Landes bedeutete. Am 26. Febr. wurden die Friedenspräliminarien zu Versailles [* 29] abgeschlossen, die freilich mit der Abtretung von drei Departements (Elsaß-Lothringen) [* 30] und der Zahlung von 5 Milliarden Kriegskosten harte Opfer auferlegten, aber von der Nationalversammlung unter ungeheurer Aufregung 1. März mit 546 Stimmen gegen 107 angenommen wurden; zugleich wurde fast einstimmig die Dynastie der Bonaparte für des Throns auf immer verlustig erklärt. Der definitive Friede, der an den Präliminarien wenig änderte, wurde in Frankfurt [* 31] a. M. unterzeichnet. (Ausführlicheres über den deutsch-franz. Krieg s. im Spezialartikel.)
Die Begründung der dritten Republik.
Die Zahl der monarchisch gesinnten Mitglieder in der Nationalversammlung war so groß, daß die Herstellung der Monarchie in Frankreich damals wohl möglich gewesen wäre. Aber weder der Graf von Chambord noch die Orléans besaßen den Mut, das Staatsruder mit fester Hand [* 32] zu ergreifen und die Verantwortung für den von der Nation ersehnten, aber für ihren Stolz so demütigenden Frieden mit Deutschland und für die Unterdrückung der republikanischen Partei zu übernehmen.
Die Prätendenten zogen es vor, diese schwierigen Aufgaben erst durch die interimistische Regierung lösen zu lassen, ehe sie selbst den Thron einnahmen, und waren nur darauf bedacht, sich den Weg zu demselben frei zu halten. Die Monarchisten schlossen daher mit den Republikanern in der Nationalversammlung den Pakt von Bordeaux, wonach die Frage der definitiven Regierungsform vorläufig eine offene bleiben solle. Dagegen setzten sie es durch, daß der Sitz der Versammlung nicht nach Paris, sondern nach Versailles verlegt wurde. Hierdurch erweckten sie aber in der aufgeregten Bevölkerung von Paris den Argwohn, daß die Herstellung einer reaktionären Monarchie beabsichtigt sei, und so versuchten die Kommunisten, welche schon während der Belagerung zweimal, und sich empört hatten, 18. März einen neuen Aufstand, welcher glückte. ¶