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abzuschicken (Mitte April 1830). Aber die Kammern (selbst die modifizierte Pairskammer) zeigten sich nach ihrem Zusammentritt (März 1830) entschlossen, vor allem die konstitutionellen Rechte gegen das Kabinett Polignac in Schutz zu nehmen, und die Deputierten richteten in diesem Sinn eine Adresse an den König, welche mit 221 gegen 181 Stimmen angenommen wurde. Darauf wurden die Kammern unter dem stärksten Ausdruck des königlichen Unwillens vertagt, endlich (16. Mai) die Deputiertenkammer aufgelöst und die Minister, welche sich nicht zu einem eventuell nötig werdenden Staatsstreich verstehen wollten, entlassen. Dagegen schlossen sich alle verfassungstreuen Elemente aufs engste aneinander, nicht nur zu den bevorstehenden Wahlen, sondern auf alle Fälle. Obwohl der König selbst sich mit Ermahnungen und Drohungen in die Wahlbewegung mischte, ergaben die Neuwahlen Ende Juni doch eine große liberale Mehrheit. 202 von den 221 Deputierten der Adresse wurden wieder gewählt. Aber ermutigt durch die Eroberung der Stadt Algier (5. Juli), beschloß Karl X., den Willen der Nation mit Gewalt zu brechen. Sonntag, unterzeichnete er fünf Ordonnanzen, die 26. Juli im »Moniteur« erschienen und die Veröffentlichung jeder Druckschrift von der besondern Erlaubnis der Behörden abhängig machten, die Abgeordnetenkammer auflösten, das Wahlgesetz und die Rechte der Kammern willkürlich beschränkten und die Kammern auf Ende September einberiefen.
Nur einen Tag lang war der Eindruck dieser Maßregeln in Paris der der Bestürzung; dann veröffentlichten die Journale einen von Thiers entworfenen Protest, die Volksmassen versammelten sich. Am 27. Juli nachmittags fielen die ersten Schüsse. 20,000 Mann Truppen und Gendarmen gelang es, die Menge noch einmal auseinander zu treiben. Aber in der Nacht vom 27. auf den 28. wußte sich das Volk zu bewaffnen und zu organisieren. Unter blutigem Kampf ward am Abend des 28. das Stadthaus von den Aufständischen behauptet. Am 29. morgens gingen zwei Linienregimenter zum Volk über, die Schweizer, welche das Louvre und die Tuilerien verteidigen sollten, räumten dieselben in panischem Schrecken; die Truppen mußten aus Paris entfernt werden. Um 2 Uhr nachmittags war die Revolution in der ganzen Hauptstadt siegreich.
Inzwischen versammelten sich die in Paris anwesenden Deputierten bei dem liberalen Bankier Laffitte, bildeten eine Munizipalkommission und eine provisorische Regierung, stellten die Nationalgarde wieder her und wiesen alle Vergleichsvorschläge Karls X. zurück, den sie für abgesetzt erklärten. Während die niedere Bevölkerung die Republik wünschte, ernannten auf den Vorschlag Laffittes die schnell zusammentretenden Kammern 30. Juli den Herzog Ludwig Philipp von Orléans, der sich stets durch bürgerliche Sitten und liberale Gesinnung ausgezeichnet und den Hof gemieden hatte, zum Generalleutnant des Königreichs.
Karl X. wollte zuerst widerstehen, dankte dann aber 2. Aug. zu gunsten seines Enkels, des Herzogs von Bordeaux, als Heinrichs V. ab, und als er vernahm, daß man seine Anerbietungen nicht annähme, sondern Truppen wider ihn schicken wollte, entfloh er nach Cherbourg, wo er unter Aufsicht von Kommissaren der provisorischen Regierung sich 16. Aug. auf dem amerikanischen Paketboot Great Britain nach England einschiffte. Damit war die Julirevolution abgeschlossen und das legitime Königtum, welches die verhaßten Zustände vor der Revolution wieder hatte herstellen wollen, von neuem gestürzt.
Die Julimonarchie.
Inzwischen hatte der Generalleutnant 3. Aug. die Kammern einberufen. Guizot arbeitete sogleich die Verfassung um, und in dieser neuen Gestalt wurde sie von beiden Kammern 6. und 7. Aug. angenommen. Die persönlichen Rechte waren mit bessern Garantien umgeben, die Macht der Kammern erweitert, das Königtum war in die bürgerliche Sphäre herabgerückt; doch blieb ein so hoher Wahlzensus in Geltung, daß nur etwa 200,000 Franzosen Wähler, nur etwa 24,000 wählbar wurden und die politische Gewalt allein in der Hand des wohlhabenden Bürgerstandes (bourgeoisie) lag.
Unter diesen Bedingungen übertrugen beide Kammern die Krone dem Herzog von Orléans, der sie als Ludwig Philipp, König der Franzosen, annahm; die dreifarbige Fahne wurde wiederum anstatt der weißen das nationale Abzeichen. Die neue Regierung ward allerdings von Anfang an von den Legitimisten und den in ihren Erwartungen bitter getäuschten Republikanern auf das heftigste angefeindet. Aber solange Ludwig Philipp den Grundsätzen der freisinnigen konstitutionellen Monarchie treu blieb und die Führer der Liberalen, Laffitte (bis 1831) und Casimir Périer (bis 1832), als leitende Minister neben sich hatte, stand sein Thron sicher und fest.
Selbst die vorsichtige Haltung des Königs, der sich das Vertrauen der Heiligen Allianz erwerben wollte, in der äußern Politik erschütterte ihn nicht. Auf die von der Linken geforderte abenteuerliche Unterstützung der Polen gegen Rußland ließ er sich nicht ein; doch sicherte er in Italien den französischen Einfluß den österreichischen Interventionen gegenüber durch die Besetzung Anconas und unterstützte die Unabhängigkeitsbestrebungen Belgiens, indem er im Sommer 1831 durch den Marschall Gérard die holländische Armee aus Belgien vertreiben und im Herbst 1832 die Citadelle von Antwerpen durch ein französisches Heer zur Kapitulation zwingen ließ.
Nach dem frühzeitigen Tod Périers (Mai 1832) wurde nach einem Zwischenministerium Soult-Montalivet und nach Niederwerfung des legitimistischen Aufstandes der Herzogin von Berri in der Vendée und eines republikanischen Aufstandes in Paris im Oktober 1832 ein Koalitionsministerium, das Kabinett vom 11. Oktober, gebildet, dessen Scheinpräsidentschaft Napoleonische Marschälle, wie Soult, Gérard, Mortier, führten, dessen einflußreichste Mitglieder aber Guizot und Thiers waren, und das sich mit einigen Veränderungen sieben Jahre im Amt behauptete.
Dasselbe befolgte die Politik der rechten Mitte (juste-milieu), hatte aber mit immer größern Schwierigkeiten im Innern zu kämpfen. Scheinbar herrschte in Frankreich das streng konstitutionelle System; aber die Kammern waren nur die Vertretungen eines kleinen Teils der Nation, da selbst das neue Wahlgesetz noch an einem Steuerzensus von 200 Frank festhielt, der die Zahl der wahlfähigen Bürger auf weniger als ½ Mill. beschränkte und den kleinen Besitzer, den Handwerker, den Bauer ebenso wie den Arbeiter und den Proletarier von allen politischen Rechten ausschloß. Die Regierung beherrschte die Wahlen durch ihren Einfluß sowie durch direkte und indirekte Bestechung und schaffte sich in der Deputiertenkammer stets eine gefügige Majorität, während die vom König ernannten Pairs gänzlich abhängig waren. Daher wurde in den Kammern selten Opposition gemacht, höchstens die Personen einzelner Minister angefochten. Die schmähliche Gewinnsucht und Korruption der leitenden Kreise wurde durch mehrere
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skandalöse Vorfälle offenkundig. Auch der König verscherzte die öffentliche Achtung durch seine Habgier und die Beflissenheit, mit der er die Interessen seiner Familie wahrnahm; seine bürgerliche Einfachheit galt für Geiz, und man beschuldigte ihn offen gewinnsüchtiger Geldspekulationen. Die 1836 beantragte Rentenkonversion, welche die Staatsfinanzen erheblich entlastet hätte, wurde vom König und den hohen Finanzmännern aus Eigennutz hintertrieben.
Aber auf ihre legale Gewalt trotzend, nahm die Regierung auf kein Symptom der Unzufriedenheit Rücksicht. Den immer erneuten Attentaten und Aufstandsversuchen der republikanischen Partei gegenüber beschränkte die Kammer im März 1834 die Vereinsfreiheit bedeutend. Darauf brachen Mitte April zuerst in Lyon, dann in Paris, St.-Etienne und an vielen andern Orten umfassende Arbeiteraufstände von sozialistischer Färbung aus, welche nur mit großer Mühe unterdrückt werden konnten. Die Aufregung, welche der Monstreprozeß gegen die 2600 Angeklagten dieser Aufstände vor der Pairskammer sowie das neue Attentat Fieschis erregten, benutzte das Ministerium, um in den bekannten Septembergesetzen eine Beschränkung der Preßfreiheit und der Geschwornengerichte herbeizuführen.
Nun ließ der König Thiers, der ihm besonders in der auswärtigen Politik durch sein Drängen zur Intervention gegen die Karlisten in Spanien unbequem wurde, fallen und berief den streng konservativen, aber äußerst gewandten Molé an die Spitze des Ministeriums, das sonst aus doktrinär-konservativen Männern, wie Guizot, Duchâtel etc., zusammengesetzt war. Damals machte Prinz Ludwig Napoleon den verunglückten Versuch, das Militär in Straßburg zu einem bonapartistischen Aufstand zu bewegen.
Die Kammer war indes keineswegs geneigt, dem Ministerium auf seinen reaktionären Bahnen zu folgen, und sowohl die dynastische Opposition unter Odilon Barrot als Thiers und seine Freunde legten dem Ministerium immer mehr Hindernisse in den Weg. Dennoch behauptete sich dasselbe infolge der Eifersucht der ehrgeizigen Parteiführer und befriedigte auch die Eitelkeit der Nation durch kriegerische Erfolge in Algerien, die Anerkennung der Unabhängigkeit Belgiens auf der Londoner Konferenz und die Erzwingung reichlicher Entschädigung für das verletzte Eigentum französischer Staatsangehörigen in Haïti, Mexiko und Buenos Ayres.
Als jedoch bei der Adreßdebatte in den zwei Kammern im Januar 1839 Molé nur eine geringe Majorität erhielt, schritt er zur Auflösung und reichte, da die Opposition sich bei den Neuwahlen verstärkte, seine Entlassung ein. Mehrere Monate kam kein neues Kabinett zu stande; endlich veranlaßte ein sozialistischer Aufstand in Paris (Mai 1839) die Bildung eines Koalitionsministeriums, an dessen Spitze der Marschall Soult stand. Auch dieses Kabinett konnte sich der entschieden liberalen Kammermehrheit gegenüber nicht halten; Thiers benutzte die schwankende Haltung desselben in der orientalischen Frage, um es heftig anzugreifen, und als es mit einem Vorschlag zur Dotierung des Herzogs von Nemours durchfiel, nahm es im Januar 1840 seine Entlassung.
Gegen die Neigung des Königs wurde nun Thiers Minister des Auswärtigen und Konseilpräsident. Thiers veranstaltete, seinen chauvinistischen Neigungen entsprechend, die Rückführung der Überreste Napoleons I. von St. Helena nach Paris und suchte in Europa selbst eine kräftige Politik von französischem Standpunkt aus durchzuführen, welche auch die Billigung des französischen Volkes erhielt. Während im Innern ein neuer Aufstandsversuch Ludwig Napoleons in Boulogne mit leichter Mühe unterdrückt wurde, wollte Thiers den gegen die Pforte aufständischen Pascha Mehemed Ali von Ägypten thätlich unterstützen.
Als deshalb Frankreich von dem Londoner Quadrupelvertrag vom zwischen Österreich, Preußen, Rußland und England, durch welchen das Schicksal Mehemed Alis entschieden wurde, ausgeschlossen blieb, wollte Thiers es auf einen Krieg ankommen lassen, mit dem er besonders Deutschland bedrohte. Indes im entscheidenden Augenblick ließ ihn Ludwig Philipp, der weder sein kriegerisches Auftreten nach außen noch sein liberales nach innen billigte, im Stiche, indem er sich weigerte, von der Kammer Bewilligungen zu ernstlichen Kriegsrüstungen zu verlangen. Dieser Umstand veranlaßte das Ministerium Thiers, abzudanken, worauf wiederum Soult mit der Bildung eines dem König unbedingt ergebenen Kabinetts beauftragt wurde, in welchem Guizot, der Minister des Auswärtigen, den herrschenden Einfluß besaß.
Guizot, der 1846 auch nominell die Leitung des Ministeriums übernahm, fügte sich ganz den Wünschen des ängstlichen und egoistischen Königs. In der orientalischen Frage gab Frankreich seine kriegerische Politik auf und schloß sich, nachdem die Selbständigkeit seines Schützlings Ägypten mit gewissen Einschränkungen gerettet worden, den übrigen Mächten an. Um von den legitimen Dynastien als Ebenbürtiger anerkannt zu werden, verfolgte Ludwig Philipp in Italien und im Schweizer Sonderbundskrieg eine ganz reaktionäre Politik, ohne von Österreich und Rußland den gewünschten Dank zu erhalten.
Durch sein unredliches Verhalten gegen England in der Sache der spanischen Heiraten, durch welche er der Familie Orléans den spanischen Thron sichern wollte, verlor er die Sympathien der einzigen auswärtigen Macht, die der Julimonarchie stets Wohlwollen bewiesen hatte. Seine Dynastie endlich erlitt durch den tragischen Tod ihres populärsten Prinzen, des Thronfolgers Herzog von Orléans einen unwiederbringlichen Verlust. Im Innern verlor das System immer mehr an Achtung.
Die Agitation für die Erweiterung des Wahlrechts nahm von Jahr zu Jahr größere Dimensionen an und verbreitete sich über alle Schichten des Volkes. Nur die Kammern setzten ihr einen verblendeten Widerstand entgegen. Die wachsende Erregung machte sich in immer wiederholten Attentaten und Verschwörungen Luft. Während Arbeitseinstellungen und Mißwachs Not und Elend verbreiteten, während das Budget trotz des Friedens ein Defizit von mehr als 70 Millionen zeigte, enthüllten der Monstreprozeß Teste-Cubières, die Ermordung der Herzogin von Praslin und die unwiderlegten Anklagen Emile de Girardins gegen die Regierung die ungeheure und allgemeine Korruption der letztern und der hohen Finanzwelt in ungeahnter Weise. Die Kammern aber fanden kein Wort des Tadels oder des Urteils über diese Zustände. Der allgemeine Unwille gegen dieses Treiben einer privilegierten Kaste, des Geldadels, machte die gefährliche Koalition der republikanischen und der dynastischen Opposition um so enger und den Ruf nach einer Reform des Wahlrechts um so dringender.
Die Februarrevolution und die zweite Republik.
Zur Belebung der Agitation für diese Zwecke griff man zu einem schon 1840 beliebten Mittel, der Abhaltung öffentlicher Bankette oppositioneller Färbung in allen größern Städten. Das erste fand im Château Rouge in Paris statt und war von mehr
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als 1000 Teilnehmern besucht; darauf folgten bis noch 70 Reformbankette. So sehr auch bei denselben die dynastische Opposition überwogen hatte, sowenig Männer, wie Thiers, Odilon Barrot, Lamartine, dem Julikönigtum als solchem feindlich waren, brandmarkte doch die Thronrede vom den Feldzug der Reformbankette als den Ausfluß »feindseliger oder verblendeter Leidenschaften« und stellte nur ganz geringfügige Reformen in Aussicht. Als darauf das Wahlkomitee des 12. Arrondissements von Paris öffentlich ein Reformbankett anzeigte und das Ministerium dasselbe auf Grund eines Gesetzes von 1790 untersagte, trat ein Komitee aus Redakteuren und Deputierten zusammen, welches dennoch Einladungen zu einem Bankett auf den ergehen ließ. Um dieses zu verhindern und die Ruhe aufrecht zu erhalten, zog die Regierung an 80,000 Mann Truppen in und um Paris zusammen.
Die thatsächliche Verhinderung des Banketts vom 22. Febr. rief die ersten Unruhen hervor, die aber von der bewaffneten Macht noch unterdrückt wurden. Da aber am Morgen des 23. Febr. die Nationalgarde mit dem Volk gemeinsame Sache machte, so trat das mit einer Anklage bedrohte Ministerium Guizot ab, und Molé wurde mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt. Indem es hieß, die Wahlreform sollte gewährt worden sein, schien sich die Aufregung zu legen, als des Abends spät aus Mißverständnis oder Absicht auf einen Haufen Unbewaffneter, der auf das Ministerium des Äußern zudrängte, das dort stehende Militär eine Salve gab.
Infolge davon entbrannte der Kampf zwischen Volk und Militär von neuem. Die Berufung Thiers' und Odilon Barrots zu Ministern kam zu spät. Schnell verbreitete sich der Aufstand (Februarrevolution) über die ganze Stadt, und überall erhoben sich Barrikaden. Da die Soldaten teils müde und entmutigt und ohne bestimmte Befehle waren, teils mit dem Volk gemeinsame Sache machten, so wurde die Siegeszuversicht des Volkes gesteigert, während der König alle Haltung und Geistesgegenwart verlor.
Als die Volksmassen sich gegen die Tuilerien in Bewegung zu setzen anfingen (24. Febr.), dankte der König zu gunsten seines Enkels, des minderjährigen Grafen von Paris, und seiner Schwiegertochter, der Herzogin von Orléans, als Regentin ab und entfloh kurze Zeit darauf nach England. Die Deputiertenkammer wollte zuerst die Regentschaft der Herzogin von Orléans, die selbst in der Deputiertenkammer erschien, bestätigen. Aber das Volk drang in die Kammer ein, und unter dem Druck desselben setzten die republikanischen Abgeordneten die Ernennung einer provisorischen Regierung durch, die teils aus gemäßigten Republikanern: Lamartine, Dupont (de l'Eure), Arago, Crémieux, Garnier-Pagès, Marie, teils aus Sozialisten, wie Louis Blanc, Albert und Ledru-Rollin, bestand. So stürzte die Monarchie, ohne daß es die Masse der Nation wollte, durch die Energie der sozialistischen und republikanischen Klubs.
Die neue Regierung schlug ihren Sitz im Stadthaus auf und proklamierte sofort die Republik, wies aber den von mehreren ihrer Mitglieder begünstigten Sozialismus und dessen Abzeichen, die rote Fahne, energisch zurück; besonders war es Lamartine, der durch Entschlossenheit und glänzende Beredsamkeit die Gesellschaft vor dem siegreichen Pöbel rettete. Doch sah man sich zur Errichtung von »Nationalwerkstätten« zur Beschäftigung und Ernährung der feiernden Arbeiter genötigt. Im geheimen stachelten Ledru-Rollin, welcher das Ministerium des Innern übernommen hatte, und Louis Blanc das Volk auf, um die Einberufung der konstituierenden Nationalversammlung, die sie als konservativ fürchteten, zu hintertreiben; am wurde eine große ochlokratisch-soziale Demonstration versucht, aber die 200,000 Mann Nationalgarde von Paris und Umgegend umzingelten die aufrührerische Menge und hielten die Ordnung aufrecht. Am 4. Mai wurde, zum erstenmal durch allgemeines Stimmrecht gewählt, die Nationalversammlung eröffnet.
Die provisorische Regierung legte ihr Amt nieder und wurde durch eine Exekutivkommission ersetzt, die aus Lamartine, Arago, Ledru-Rollin, Marie und Garnier-Pagès bestand. Am 15. Mai versuchte ein tobender Haufe Arbeiter unter Führung Blanquis, Raspails, Barbes' u. a. die Nationalversammlung zu sprengen, wurde aber von der Nationalgarde zurückgeworfen, welche die Führer verhaftete. Diese Szenen stimmten die öffentliche Meinung in den Provinzen und die Nationalversammlung selbst immer konservativer; am 21. Juni verfügte die letztere die Auflösung der Nationalwerkstätten und die Entfernung der in ihnen beschäftigten Arbeiter in die Provinzen.
Die Antwort der Arbeiter war ein allgemeiner Aufstand derselben, der, 22. und 23. Juni vorbereitet, 24. Juni zum vollen Ausbruch kam (Junischlacht). Aber General Cavaignac, der Kriegsminister, hatte aus Linientruppen und zuverlässigen Nationalgarden eine Streitmacht von 100,000 Mann organisiert, mit welcher er bis zum Nachmittag des 26. die Rebellen unter furchtbarem Blutvergießen (über 10,000 Menschen fanden den Tod) überwältigte; die Gefangenen wurden deportiert. Die Nationalversammlung hatte Paris in Belagerungszustand erklärt und beseitigte die Exekutivkommission, indem sie Cavaignac als Ministerpräsidenten die alleinige Leitung der Exekutive übertrug; er setzte sein Ministerium aus gemäßigten, selbst zum Teil reaktionären Männern zusammen.
Unter dem Schutz strenger Maßregeln gegen die Klubs und die Presse setzte die Nationalversammlung ihre Beratungen über die neue republikanische Verfassung auf Grund der Volkssouveränität fort. Unter dem Schrecken der letzten Ereignisse überwogen dabei konservative Tendenzen. Das Recht auf Arbeit und der Vorschlag einer progressiven Besteuerungsweise wurden abgelehnt, dagegen das Einkammersystem mit allgemeinem Stimmrecht und direkte Wahl angenommen.
Verhängnisvoll war der auf Lamartines Betreiben gefaßte Beschluß, daß der Präsident der Republik, dessen Amtsdauer auf vier Jahre festgesetzt wurde, nicht von der Nationalversammlung, sondern direkt vom Volk in allgemeiner Abstimmung gewählt werden sollte. So kam es, daß, nachdem 12. Nov. die neue Verfassung verkündet worden, bei der Präsidentenwahl 10. Dez. nicht der Kandidat der Nationalversammlung, Cavaignac, der sich als loyaler Republikaner bewährt hatte, sondern der Prinz Ludwig Napoleon, der seit 26. Sept. Mitglied der Nationalversammlung war, mit 5,434,226 von 7,327,345 Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde. Cavaignac erhielt nicht ganz 1,450,000 Stimmen, da sich Monarchisten und Sozialisten, Bonapartisten und Klerikale gegen ihn vereinigt hatten. Am 20. Dez. trat Ludwig Napoleon sein Amt an, in dem er der Verfassung Treue schwur und in betreff seiner Anhänglichkeit an die Republik die heiligsten Versicherungen gab. Er bildete zunächst ein ziemlich freisinniges Ministerium, an dessen Spitze Odilon Barrot stand.
Die reaktionäre Strömung, die seit den Junitagen das Land und die Nationalversammlung beherrschte,
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führte zu dem Beschluß einer Expedition gegen Rom, um hier den von der römischen Bevölkerung vertriebenen Papst wieder einzusetzen und zugleich den französischen Einfluß in Italien gegenüber den siegreichen Österreichern aufrecht zu erhalten (März 1849). Da die Römer sich dem Eindringen der Franzosen widersetzten, kam es zum Kampf, infolge dessen die letztern die Belagerung Roms begannen. Die geheime Billigung, welche dieselbe, von Napoleon unternommen, um den Klerus für sich zu gewinnen, auch bei der Mehrheit der Nationalversammlung fand, sprach sich in dem Übergang zur Tagesordnung aus, welchen die letztere 9. Mai allen diese Ereignisse mißbilligenden Anträgen gegenüber beschloß. Am 26. Mai löste sich die Nationalversammlung auf, und 28. Mai wurde die Gesetzgebende Versammlung eröffnet.
Sie bestand aus einer monarchistischen Majorität und einer sozialistisch-demokratischen Minorität; die gemäßigte Republik, also die bestehende Regierungsform, war nur schwach vertreten. Um so mehr glaubte die Linke ihr Heil in einem neuen Aufstand des Pariser Volkes suchen zu müssen. Sie nahm die Bekämpfung der römischen Republik durch die französische Armee zum Vorwand neuer Aufstände, die aber schnell unterdrückt wurden und nur die rücksichtslose Verfolgung der demokratischen Presse und die Flucht der Führer, die Verurteilung der Verhafteten und die Verschärfung der Strafgesetze zur Folge hatten. Am 2. Juli zogen die französischen Truppen in Rom ein, wo sie die Restauration des päpstlichen Priesterdespotismus durchführen halfen. In ihrem Eifer, die gesellschaftliche Ordnung und die innere Ruhe aufrecht zu erhalten, ließ die Nationalversammlung den Präsidenten ungestört seinen Einfluß befestigen und vermehren.
Man erließ Anfang 1850 ein Unterrichtsgesetz, welches die Lehrer ganz in die Hand der Geistlichkeit und der Präfekten gab;
die Freiheitsbäume mußten überall entfernt werden;
ganz Frankreich wurde in fünf große Militärdistrikte geteilt;
ein Wahlgesetz, welches das Wahlrecht an die direkte Steuer und den zweijährigen Aufenthalt band, nahm dasselbe fast einem Dritteil der Wähler (3 Mill. auf 9 Mill.).
Solche Gesetze machten die Versammlung in den untern Klassen durchaus unpopulär, während der Präsident sich meist sorgfältig von ihr fern hielt und vielmehr als Erwählter der Nation auf wiederholten Reisen mit der Bevölkerung direkte Beziehungen anzuknüpfen suchte. Mit Vorliebe stellte er sich als den Beförderer und Beschützer der nationalen Wohlfahrt und der Volksrechte hin, gab die Gebrechen seiner Regierung dem hemmenden Widerstand der Nationalversammlung schuld und weckte durch Freigebigkeit und Gnadenakte die schlummernden Sympathien des Volkes für die Napoleonische Kaiserzeit. Schon hörte man auf der Truppenrevue von Satory (im Oktober 1850) den Ruf: »Es lebe der Kaiser!«; schon wurde ein General, der denselben verboten hatte, abgesetzt. Bonapartistische Vereine, wie in Paris die Gesellschaft des zehnten Dezembers, bearbeiteten die öffentliche Meinung in ihrem Sinn.
So beschloß der Prinz, den Kampf mit der Versammlung aufzunehmen. Nachdem er die Minister, die ihm nicht unbedingt anhingen, entlassen hatte, beantragte er eine im Land allgemein verlangte Verfassungsrevision, welche das allgemeine Stimmrecht herstellte und die Wiederwahl des Präsidenten nach Ablauf der vierjährigen Amtszeit gestattete. Die Uneinigkeit der Parteien bewirkte im August 1851 die Ablehnung der Revision. Da nun Napoleon im Lauf des Jahrs 1852 die Präsidentschaft niederlegen mußte, die errungene Gewalt aber um keinen Preis aus den Händen lassen wollte, entschloß er sich zu einem Staatsstreich.
Den Versuch der Versammlung, sich gegen einen solchen dadurch zu schützen, daß sie sich das Recht unmittelbarer Requisition der bewaffneten Macht beilegte, vereitelte die durch Verwerfung des allgemeinen Stimmrechts erbitterte Linke. Im tiefsten Geheimnis traf Napoleon, unterstützt von Morny, Fleury, dem Kriegsminister Saint-Arnaud und dem Polizeiminister Maupas, seine Vorbereitungen; in der Nacht vom 1. auf hob die Polizei ungefähr 60 Abgeordnete und andre politische Persönlichkeiten, darunter die Generale Changarnier, Cavaignac, Lamoricière, Bedeau, Leflô, den Obersten Charras, Thiers, Victor Hugo u. a., auf und brachte sie nach Mazas in Haft. Am 2. Dez. morgens wurde der Palast der Gesetzgebenden Versammlung mit Truppen besetzt und durch eine Proklamation des Präsidenten, der sich direkt an die Nation wendete, die letztere verfassungswidrig für aufgelöst erklärt; Abgeordnete, die dennoch eintreten wollten, wurden verhaftet. 218 Abgeordnete versammelten sich in der Mairie des zehnten Arrondissements, wurden aber von den Soldaten sämtlich verhaftet.
Der hohe Gerichtshof und der Staatsrat wurden gleichfalls gewaltsam aufgelöst. Diese Maßregeln machten auf das Pariser Volk einen übeln Eindruck; indessen gelichtet und gedemütigt durch die Junikämpfe, 1830 und 1848 durch die Bourgeoisie um die erhofften Früchte der von ihnen durchgefochtenen Revolutionen gebracht, gegen die reaktionäre Mehrheit der Versammlung erbittert, blieben die Arbeiter gleichgültig, und mit leichter Mühe und unter nutzlosem Blutvergießen wurden 3. und 4. Dez. die wenigen Barrikaden genommen, welche in Paris errichtet worden waren. Tausende der gefangenen Volkskämpfer und der Verhafteten wurden nach Cayenne und Lambessa deportiert.
Die allgemeine Abstimmung, die 20. und 21. Dez. stattfand, bestätigte den Staatsstreich; das Volk sehnte sich nach Ruhe, der Klerus wirkte für Napoleon, dem überdies die glorreichen Erinnerungen des ersten Kaiserreichs zu statten kamen. 7½ Mill. Stimmen gegen 650,000 nahmen die vorgeschlagene Verfassung an, die einen Präsidenten der Republik auf zehn Jahre mit allen königlichen Attributen, aber dem Volk verantwortlich, einen Gesetzgebenden Körper, erwählt auf sechs Jahre durch das allgemeine Stimmrecht, aber ohne legislative Initiative irgend einer Art, und einen vom Präsidenten ernannten Senat, welcher die Verfassung aufrecht zu erhalten und abzuändern hatte, einsetzte.
Diese Verfassung, verkündet verlieh dem Staatsoberhaupt eine völlig absolute Gewalt. Auch die Wahlen für den Gesetzgebenden Körper fielen 1852 ganz für die neue Regierung aus. Die fremden Mächte, welche in Ludwig Napoleon den endgültigen Besieger der Revolution begrüßten, erkannten ihn bereitwillig an. Nach diesen ermutigenden Erfahrungen strebte Napoleon offen die Wiederherstellung des kaiserlichen Throns an. Pomphafte Reisen des Präsidenten durch einen großen Teil Frankreichs, glänzende Napoleonische Feste im Sommer und Herbst 1852, Gnadenbezeigungen und Geschenke aller Art mußten die öffentliche Meinung vorbereiten. In Bordeaux trat Napoleon ausdrücklich als Bewerber um das Kaisertum auf, indem er zugleich das Programm aufstellte: »Das Kaisertum ist der Friede«. Bei seiner Rückkunft nach Paris (16. Okt.) empfingen den Präsidenten glänzende, nicht allein offizielle, sondern auch volkstümliche Festlichkeiten
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und der dringende Wunsch nach Wiederherstellung des Kaisertums. Das Senatskonsult vom legte diese Frage dem französischen Volk vor, welches 21. u. 22. Nov. mit 7,801,321 Stimmen gegen 251,781 das Kaisertum annahm. An dem verhängnisvollen 2. Dezember wurde der Prinz-Präsident in St.-Cloud unter dem Namen Napoleon III. als Kaiser proklamiert. Eine lange Reihe von Großwürdenträgern, meist aus der Zahl der Getreuen des Bonapartismus, wurde ernannt; sämtliche Angehörige des Hauses Bonaparte erhielten den Rang französischer Prinzen.
Das zweite Kaiserreich 1852-1870.
Nur zögernd erkannten die fremden Mächte das zweite Kaiserreich an, da sie dessen volkstümlichen Ursprung mißbilligten und seine kriegerischen Überlieferungen fürchteten; am wenigsten konnte sich der Zar Nikolaus mit der Erneuerung des Kaisertums befreunden. Napoleon wurde daher auch mit seinen Heiratsanträgen von mehreren fürstlichen Familien zurückgewiesen und vermählte sich deshalb mit der spanischen Gräfin Eugenie von Montijo und Teba.
Ein glänzender Hofstaat wurde eingerichtet, und der Luxus und die Pracht der Tuilerien bildeten das eifrig nachgeahmte Muster der vornehmen Welt. Der Wohlstand hob sich, Handel und Verkehr blühten, die Regierung widmete den wirtschaftlichen Dingen eine eifrige Fürsorge, und das Volk schien mit dem neuen System wohl zufrieden. Die Verhandlungen des Senats und des Gesetzgebenden Körpers verliefen friedlich; bei den Adreßdebatten wurde das Kaiserreich verherrlicht, und eine Opposition machte sich gar nicht bemerkbar.
Namentlich verstand es Napoleon, seine Popularität durch eine geschickte auswärtige Politik zu steigern. Im Krimkrieg (1854 bis 1856) trat er im Bund mit dem liberalen England als Schützer der Türkei gegen Rußland auf, welches als der Hort des Despotismus galt, dessen Kaiser der ingrimmigste Feind der Revolution war und Napoleon bisher nicht als ebenbürtigen Monarchen hatte anerkennen wollen. Die französischen Truppen errangen sich wieder in größern Kämpfen, als die in Algerien waren, blutige Lorbeeren, u. wenn Frankreich auch für seine bedeutenden Opfer an Geld und Menschen keinen direkten Vorteil zog und keine Vergrößerung seines Gebiets erwarb, so führte es doch auf dem Pariser Friedenskongreß das entscheidende Wort; die europäischen Souveräne besuchten den kaiserlichen Hof in Paris, die Regierungen, selbst die russische, wetteiferten in den Bewerbungen um die Gunst Napoleons; die Heilige Allianz war durch den Krimkrieg völlig zersprengt worden, und Frankreich war wieder die erste Macht des Kontinents, sein Herrscher der angesehenste Fürst, dessen Worten man gespannt lauschte. Als der kaiserliche Prinz geboren wurde und die Dynastie von neuem gefestigt schien, stand der Kaiser auf der Höhe seiner Popularität im Innern und seines Ansehens im Ausland.
Da führte ein plötzlich eintretendes Ereignis neue Verwickelungen im Innern und nach außen herbei. Ein früherer italienischer Karbonaro, Felix Orsini, der Napoleon für seinen Abfall von den italienischen Einheitsideen bestrafen wollte, verschwor sich gegen ihn mit drei Genossen: Pieri, Rudio und Gomez. Am abends, als das Kaiserpaar aus der Großen Oper kam, warfen sie Handbomben, welche unter dem kaiserlichen Wagen explodierten und viele Umstehende verwundeten, ohne das kaiserliche Paar zu verletzen (Orsinisches Attentat).
Orsini und Pieri wurden hingerichtet, die beiden andern nach Cayenne deportiert. Aber die Regierung wollte in dem Verbrechen jener vier Ausländer das Werk der republikanischen Partei in Frankreich sehen und benutzte jenes, um gegen diese maßlos zu wüten. Dem sofort einberufenen Gesetzgebenden Körper wurde ein »Gesetz der allgemeinen Sicherheit« vorgelegt, welches alle diejenigen, die sich irgend eines Aktes der Opposition gegen die Regierung schuldig machten, dem Gefängnis, der Verbannung und der Deportation nach Belieben der Regierung preisgab; am wurde dieses Gesetz mit 217 gegen 24 Stimmen angenommen. Die Ausführung desselben übernahm als Minister des Innern der General Espinasse; er verhängte über 2000 politisch Verdächtige, die sich keines besondern Vergehens schuldig gemacht hatten, die Deportation. Dieser militärisch-polizeiliche Terrorismus wurde erst allmählich gemildert.
Das Orsinische Attentat hatte die weitere Folge, daß der Kaiser die Ausführung des Plans, Italien von der Herrschaft Österreichs zu befreien und politisch zu einigen, beschleunigte. Schon während des Krimkriegs und auf dem Pariser Friedenskongreß hatte er das aufstrebende Sardinien und seinen kühnen Staatsmann begünstigt. Nun lud er im Juli 1858 Cavour zu einer Zusammenkunft im Bad Plombières ein, wo eine geheime Konvention abgeschlossen wurde, der zufolge Sardinien in ein die Lombardei, Venetien, Toscana, Parma, Modena und den nördlichen Teil des Kirchenstaats umfassendes Königreich Norditalien verwandelt werden, dafür aber Nizza und Savoyen an Frankreich abtreten sollte.
Die äußere Ankündigung der neuen Kriegspolitik gab die Ansprache des Kaisers an den österreichischen Botschafter, Baron Hübner, bei dem Neujahrsempfang 1859, welche durch ihre Herbheit allgemeines Aufsehen erregte. Zur Befestigung der französisch-sardinischen Allianz wurde die Tochter des Königs Viktor Emanuel, Klothilde, mit dem Vetter des Kaisers, dem Prinzen Napoleon, vermählt England und Preußen bemühten sich, den drohenden Krieg durch ihre Vermittelung zu verhindern.
Österreich aber durchkreuzte diese Verhandlungen durch ein Ultimatum an Sardinien, nach dessen Zurückweisung es mit Überschreitung der sardinischen Grenze den Krieg begann. Sofort überschritt ein französisches Heer die Alpen, um sich unter des Kaisers Befehl mit den Sarden zu vereinigen. Die gänzliche Unfähigkeit der österreichischen Generale sowie die innern Schäden der habsburgischen Herrschaft in Ober- und Mittelitalien führten mehr als die Strategie der französischen und italienischen Befehlshaber die übrigens hart bestrittenen Niederlagen der Österreicher bei Magenta (4. Juni) und Solferino (24. Juni) herbei. Nach letzterer Schlacht schlossen und Österreich 11. Juli plötzlich den Frieden von Villafranca, ohne daß Napoleon sein Programm: Italien frei bis zur Adria! durchgeführt hätte. Die Besorgnis vor Preußens drohender Haltung wirkte dabei ebenso mit wie der Wunsch, Italien nicht allzu unabhängig werden zu lassen. Die Präliminarien von Villafranca sowie der definitive Friede von Zürich bestimmten deshalb bloß die Abtretung der Lombardei an Sardinien und die Vereinigung aller italienischen Staaten, auch Venetiens, zu einem Bund unter Vorsitz des Papstes. Aber dieser Bund bewies sich als eine Unmöglichkeit, der Papst weigerte sich, demselben anzugehören, und die mittelitalienischen Länder Toscana, Parma, Modena und Romagna proklamierten, anstatt ihre vertriebenen Herrscher wieder aufzunehmen, ihren Anschluß an Sardinien. Gegen die sofortige
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Abtretung von Savoyen und Nizza, welche erfolgte und von der französischen Regierung als eine Sühne des 1815 Frankreich widerfahrenen Unrechts dargestellt wurde, fügte sich Napoleon in die vollendeten Thatsachen.
Diese Gebietsvergrößerung, die Vernichtung der österreichischen Herrschaft in Italien, die Lorbeeren von Magenta und Solferino waren die Früchte des kostspieligen und blutigen Kriegs von 1859. Auf ihren günstigen Eindruck vertrauend, erließ der Kaiser eine allgemeine Amnestie und verlieh 1860 dem Gesetzgebenden Körper das Recht, eine Adresse als Antwort auf die Thronrede zu votieren. Indes fanden der italienische Feldzug und sein Ergebnis keineswegs allgemeine Anerkennung.
Die militärischen Leistungen, namentlich des Kaisers selbst, wurden vielfach angefochten, die Einigung Italiens als ein entschiedener politischer Fehler bezeichnet, zumal es der Kaiser geschehen lassen mußte, daß Italien auch Neapel und Sizilien annektierte und dem Papste den größten Teil des Kirchenstaats entriß. Die Preisgebung des Papstes verziehen die Klerikalen Napoleon nicht, während die Radikalen den Schutz Roms durch französische Truppen als eine schwächliche Halbheit tadelten.
Durch die Annexion Savoyens und Nizzas trotz der vielgepriesenen französischen Uneigennützigkeit erhöhte sich in ganz Europa das Mißtrauen gegen Napoleon; namentlich in Deutschland fürchtete man seine geheimen Ränke und Pläne, um die Rheingrenze wiederzugewinnen. Selbst weise Maßregeln, wie der freihändlerische Handelsvertrag mit England dem Verträge ähnlicher Richtung mit andern Staaten folgten, wurden dem Kaiser in und im Ausland übel gedeutet.
Die Finanzen drohten in Unordnung zu geraten, da sich die Staatsschuld seit 1852 um 2½ Milliarden vermehrt hatte. Um die Kontrolle der Finanzen durch den Gesetzgebenden Körper zu verstärken, wurde auf Antrag des Finanzministers Fould dem Gesetzgebenden Körper das Recht verliehen, das Budget nach speziellen Kapiteln statt, wie bisher, nach Ministerien zu votieren. Die kleine Opposition in der Kammer, welche bis 1863 nur 5 Mitglieder betrug, aber 1863 auf 35 stieg, erlangte auf die öffentliche Meinung immer mehr Einfluß, da ihre scharfe Kritik die Schwächen des Kaiserreichs schonungslos aufdeckte.
Um die Nation zu beschäftigen und durch einen neuen Erfolg zu blenden, mischte sich die Regierung in auswärtige Verhandlungen und suchte überall die Ehre und den Ruhm der französischen Fahne glänzen zu lassen. Die Politik des Kaiserreichs erhielt dadurch einen unruhigen, abenteuerlichen Charakter, der allerdings der Vergangenheit und den Eigenschaften der Genossen und Berater des Kaisers, eines Morny, Persigny, Walewski u. a., entsprach. Die Kräfte des Staats wurden dadurch zersplittert, die Eitelkeit und Begehrlichkeit der Nation gereizt und dennoch nie befriedigt. 1860 nahm an einem Krieg Englands gegen China teil und intervenierte in Syrien zu gunsten der Christen.
Geradezu verhängnisvoll wurde dem Kaiserreich die mexikanische Unternehmung, welche 1861 begonnen wurde, um auf Grund haltloser Privatansprüche die große Republik Mexiko und damit Zentralamerika unter französischen Einfluß zu bringen und, während die Vereinigten Staaten Nordamerikas sich im Bürgerkrieg zerfleischten, die lateinische Rasse, als deren Haupt die französische Nation bezeichnet wurde, zur herrschenden in Amerika zu erheben. Die Kosten und Verluste im mexikanischen Krieg waren sehr bedeutend, die militärischen Erfolge keineswegs glänzend, wenn die Franzosen auch schließlich Mexiko eroberten. Um die wirkliche Höhe der Summen, welche das Unternehmen verschlang, nicht bekannt werden zu lassen, da die Opposition im Gesetzgebenden Körper schon heftig genug war, wurden alles in den Depots vorhandene Kriegsmaterial und alle disponibeln Geldmittel heimlich verbraucht. Hierdurch ward Frankreichs Kriegsbereitschaft derart erschüttert, daß es die Polen in dem seit 1861 wütenden Aufstand nicht wirksam zu unterstützen vermochte, nachdem Rußland die diplomatische Intervention der Mächte zurückgewiesen hatte, daß es mit Italien die Septemberkonvention schloß und Rom räumte und endlich auch nicht in die schleswig-holsteinische Verwickelung (1863-64) zu seinem Vorteil einzugreifen wagen durfte. Der Versuch, in Mexiko ein Frankreich ergebenes Kaiserreich zu gründen und sich so aus der schwierigen Lage zu befreien, scheiterte kläglich. Nachdem die französischen Truppen vergeblich sich bemüht hatten, den Thron Maximilians zu befestigen, mußten sie auf die drohende Mahnung der Union 1867 Mexiko räumen und Maximilian preisgeben, dessen tragischer Tod die Ehre und das Ansehen des französischen Kaiserreichs empfindlich schädigte.
Das unglückselige mexikanische Abenteuer lähmte auch noch 1866 während des preußisch-deutschen Kriegs Frankreichs Aktionskraft. Napoleon begünstigte die Politik Bismarcks in der schleswig-holsteinischen Streitfrage und beförderte das Bündnis mit Italien, einmal aus Vorliebe für das Nationalitätsprinzip, dann, weil er sicher darauf rechnete, daß die beiden deutschen Mächte ihre Kräfte in einem langwierigen Krieg aufreiben und ihm dann die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, die Annexion Belgiens und des linken Rheinufers, leicht sein würde.
Gegenüber der Opposition in der Kammer und den Reden Thiers', welcher vor den Gefahren der Nationalitätspolitik warnte und die Rückkehr zu der alten Tradition Frankreichs forderte, das sich gegen die großen Staaten auf die kleinen stützen müsse, that er bei Gelegenheit eines Festes in Auxerre den Ausspruch: »Ich verabscheue die Verträge von 1815, auf welche man uns jetzt verweisen will«. Aber der unerwartet schnelle und vollständige Sieg Preußens in Böhmen warf alle Vorausberechnungen und Pläne des Kaisers über den Haufen. Es war nur eine geringe Genugthuung für Sadowa, welches die Franzosen fast wie eine von ihnen selbst erlittene Niederlage und Schmach empfanden, daß Österreich die französische Vermittelung anrief und dem Kaiser Venetien abtrat.
Bei den Friedensverhandlungen vermochte Frankreich nur wenige Wünsche durchzusetzen, und da es nicht zu einem Kriege gerüstet war, wagte es die gehofften Kompensationen von Preußen nicht energisch zu fordern. In einer Note des neuen auswärtigen Ministers, Lavalette, machte Napoleon gute Miene zum bösen Spiel, indem er die Auflösung des alten Bundes und die Einigung Deutschlands unter Preußen wie die Italiens als einen Sieg der französischen Ideen pries. Aber im französischen Volk fanden die Behauptungen der oppositionellen Redner und Zeitungen viel mehr Glauben, daß durch die Schuld Napoleons das legitime Übergewicht Frankreichs verloren, ja durch die Bildung zweier großer Staaten an seiner Grenze seine Sicherheit ernstlich gefährdet sei, und der allgemeine Unwille wurde so laut, daß die Regierung von neuem zu Repressivmaßregeln gegen Presse und Vereine schritt und die Adreßdebatte der Kammer durch das Interpellationsrecht ersetzte.
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Seitdem wurde die Politik des Kaiserreichs immer unsicherer und schwankender. Um das ungestüme Verlangen nach irgend einer Genugthuung für 1866 zu befriedigen, wollte Napoleon 1867 Luxemburg kaufen, mußte aber auf den Einspruch Preußens davon abstehen und sich mit der Neutralisation des Landes und der Räumung der Festung durch die preußischen Truppen begnügen. Die Besuche der Souveräne während der glänzenden Weltausstellung 1867 verliehen dem Kaiserreich wiederum einigen Nimbus.
Die durch Garibaldis Angriff auf Rom nötig gewordene Intervention im Kirchenstaat und das Gefecht bei Mentana welches die weltliche Herrschaft des Papstes noch einmal rettete, wurden dagegen dem Kaiser von den Liberalen und von Italien sehr verdacht und von der Kirche nicht gedankt, wie denn der Rat Frankreichs, der größten katholischen Macht, bei dem vatikanischen Konzil in keiner Weise beachtet wurde. Auf zwei Punkte konzentrierte sich besonders die Thätigkeit der Regierung, auf die Reorganisation der Armee und die politische Reform.
Die erstere führte der Kriegsminister Marschall Niel nach dem Muster des bewährten preußischen Systems durch; die Kammern bewilligten reichliche Mittel, und es konnte auch eine Neubewaffnung der Infanterie mit dem Chassepotgewehr beschafft werden. In der innern Politik entschloß sich der Kaiser endlich zu der seit lange verheißenen, aber immer wieder hinausgeschobenen »Krönung des Gebäudes« durch freiheitliche Institutionen, da sich das bisherige Schaukelsystem zwischen Zugeständnissen und Repressivmaßregeln trotz der Gewandtheit und der rhetorischen Kunststücke des »Vizekaisers« Rouher nicht bewährt und ein stetes Anwachsen der Opposition zur Folge hatte.
Nur hatte das allzu lange Zaudern die Wirkung, daß die liberale Verfassungsreform als ein Zeichen der Schwäche und der Verlegenheit der kaiserlichen Regierung angesehen wurde und daher nicht zur Beschwichtigung, sondern zur Vermehrung der Agitation beitrug. Denn bei den Neuwahlen für den Gesetzgebenden Körper erhielt die Regierung trotz aller Anstrengungen nur 4,467,720 Stimmen, die Opposition 3,258,777, wenn auch bloß 54 oppositionelle Deputierte gewählt wurden, und in der kurzen Kammersession im Juli 1869 verlangten bereits 116 Deputierte der Linken und einer neugebildeten Mittelpartei in einer Interpellation Verantwortlichkeit der Minister und Unabhängigkeit sowie freie parlamentarische Bewegung mit Initiative für den Gesetzgebenden Körper.
Indem der Kaiser jetzt nachgab und 17. Juli Rouher entließ, erweckte er den Anschein, als ob er nicht freiem Antrieb, sondern nur dem Zwang der Situation gehorche. Daher stieg die Aufregung in der Pariser Bevölkerung, und die oppositionelle Presse wie die Agitatoren wurden täglich kecker. Dennoch übten die Worte der Thronrede, mit welcher der Kaiser 29. Nov. die Kammer eröffnete: »Frankreich will die Freiheit, aber mit der Ordnung; für die Ordnung stehe ich ein, helfen Sie mir die Freiheit zu schützen!« eine gute Wirkung aus, und die erweckten Hoffnungen schienen sich zu erfüllen, als das bisherige Mitglied der Opposition, Emile Ollivier, mit der Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt wurde, das aus gemäßigt liberalen Anhängern des Kaiserreichs sich zusammensetzte.
Aber dem alternden, kränklichen Kaiser fehlte es an Thatkraft, um entschieden in das neue System einzulenken und die Nation mit Vertrauen zu seinem aufrichtigen, ernsten Willen zu erfüllen, während die Pariser Demokratie sich nicht in ihrer unversöhnlichen Feindschaft gegen das Kaiserreich beirren ließ und bei dem Begräbnis des vom Prinzen Peter Bonaparte erschossenen Journalisten V. Noir sowie nach der Verurteilung Rocheforts große Demonstrationen, ja sogar schon Aufstandsversuche ins Werk setzte.
Unter dem Eindruck dieser Vorfälle ließ sich der Kaiser von der Kaiserin, die von den Jesuiten geleitet wurde, und von Rouher bestimmen, die Rückkehr zum persönlichen Regiment vorzubereiten. Während Ollivier mit seinen Vorschlägen über eine liberale Preßgesetzgebung und die weitere Ausdehnung der Befugnisse der Kammern noch beschäftigt war, wurde er bewogen, im Auftrag des Kaisers dem Senat 28. März einen Entwurf vorzulegen, welcher die angeblich beabsichtigten freisinnigen Verfassungsänderungen nur in sehr allgemeiner Form enthielt, hauptsächlich und aufs klarste aber die alleinige Verantwortlichkeit des Kaisers vor der Nation und sein Recht betonte, jederzeit Berufung an dieselbe einzulegen.
Nach Annahme dieses Konsults durch den Senat (20. April) wurde es dem Volk zur Abstimmung vorgelegt in Form eines Plebiszits, welches sehr geschickt so gefaßt war: »Das französische Volk billigt die in der Verfassung seit 1860 bewirkten liberalen Reformen und genehmigt den Senatsbeschluß vom 20. April". Die Abstimmung vom 8. Mai ergab zwar 7,350,142 Ja und nur 1,538,825 Nein; allein die großen Städte hatten durchgängig mit starker Mehrheit ein Nein abgegeben, und, was sehr peinlich für den Kaiser war, auch aus der Armee und Marine waren gegen 50,000 Nein gekommen. Um diese letztern wieder für sich zu gewinnen und zugleich die durch das Plebiszit für das persönliche Regime geschaffene Grundlage weiter zu befestigen, entschloß sich die Kamarilla zu einem großen populären auswärtigen Krieg.
Zu diesem Zweck wurde anstatt Darus Gramont zum auswärtigen Minister ernannt. Derselbe nahm die spanische Thronkandidatur des Erbprinzen von Hohenzollern zum Kriegsvorwand, indem er hoffte, diese Frage werde in Deutschland als eine preußisch-dynastische aufgefaßt und Preußen dadurch isoliert werden. In der Sitzung des Gesetzgebenden Körpers 6. Juli erklärte der Herzog von Gramont unter stürmischem Beifall der Majorität, Frankreich werde nicht dulden, daß eine fremde Macht einen ihrer Prinzen auf den Thron Karls V. setze.
Zwar schien durch die Verzichtleistung des Prinzen und die gemäßigte Haltung des Königs von Preußen jeder Grund zum Krieg wegzufallen, und Ollivier äußerte auch 12. Juli, daß damit der Zwischenfall erledigt sei. Aber die Kriegspartei wollte den Krieg um jeden Preis, zumal der Kriegsminister Leboeuf erklärte, die Armee sei bis zum letzten Knopf bereit, und die weitern Forderungen, die an den König Wilhelm durch Benedetti in Ems gestellt wurden, waren darauf berechnet, den Krieg unvermeidlich zu machen. Am 14. Juli wurden die französischen Reserven einberufen, am 15. eine Kreditforderung gestellt und am 19. die Kriegserklärung in Berlin übergeben.
Der deutsch-französische Krieg.
Das französische Volk ließ sich zumeist von der Kriegsbegeisterung anstecken; bei der Abstimmung über die Kreditforderung 15. Juli fanden sich nur zehn Opponenten, die auch nur aus Opportunitätsgründen vor Überstürzung warnten. Indessen die französischen Erwartungen wurden in politischer Beziehung sofort getäuscht. Die süddeutschen Staaten stellten ihre Heere unter preußischen Oberbefehl;
Österreich wartete erst einen Sieg Frankreichs ab, um offen auf dessen Seite zu treten;
in Italien verhinderte die
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Volksstimme den König, den Unterdrückern Roms sich anzuschließen; selbst Dänemark blieb endlich neutral, während England in gewohnter Unthätigkeit verharrte. Bei der Mobilmachung zeigte sich sofort, daß die Armee keineswegs kriegsbereit war. So kam es, daß die Franzosen, statt Deutschland sofort mit ihren Scharen zu überschwemmen, in ihrem eignen Land angegriffen wurden. Schon nach den Schlachten bei Wörth und Spichern zeigte sich der ganze Staatsorganismus bedroht. Am 9. Aug. traten die schleunigst berufenen Kammern zusammen; das Ministerium Ollivier wurde sofort gestürzt und der Graf Palikao mit Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt, in welchem er selbst das Präsidium und den Krieg übernahm, und welches übrigens durchaus bonapartistisch war.
Das Ministerium Palikao suchte durch Beschönigung der wirklichen Sachlage die öffentliche Stimmung zu beruhigen und die Dynastie zu retten sowie die Streitkräfte des Landes zu organisieren. Aber die Ereignisse machten durch ihre Schnelligkeit alle diese Bemühungen vergeblich. Die gewaltige Niederlage bei Sedan am 1. und die Kapitulation vom 2. Sept. warfen das Kaisertum über den Haufen. Die erbitterte Volksmenge zwang in Paris die Kaiserin zur Flucht nach England, drang in den Sitzungssaal des Gesetzgebenden Körpers und nötigte denselben 4. Sept. zur Absetzung Napoleons. Auf dem Stadthaus wurde darauf die Republik ausgerufen und eine provisorische Regierung aus den Pariser Deputierten unter dem Präsidium des Generalgouverneurs von Paris, Trochu, gebildet. Dieselbe nannte sich Regierung der nationalen Verteidigung (Gouvernement de la défense nationale).
Ohne jede Schwierigkeit ward die Republik und ihre Regierung im ganzen Land anerkannt, das längst gewohnt war, sein Losungswort von Paris zu empfangen. Der Minister des Auswärtigen, J. ^[Jules] Favre, erklärte sich zwar zum Abschluß eines Friedens bereit, zugleich aber keinen Zoll des französischen Gebiets und keinen Stein seiner Festungen abtreten zu wollen; lieber werde Frankreich den Kampf bis zum Äußersten fortsetzen. Unter diesen Umständen blieb eine Verhandlung Favres mit Bismarck in Ferrières 19. und 20. Sept. resultatlos.
Allein die Hoffnung auf eine fremde Dazwischenkunft, welche Thiers durch eine Rundreise bei den Großmächten herbeizuführen suchte, schlug fehl, und seit Mitte September war Paris durch die deutschen Heere eingeschlossen. Die französische Regierung blieb trotzdem in Paris, jedoch schlug ein Teil derselben als »Delegation« seinen Sitz in Tours auf. Die Seele der republikanischen Regierung wurde bald Léon Gambetta, der, nachdem er sich 6. Okt. in einem Luftballon aus Paris nach Tours begeben hatte, sich zum Diktator Frankreichs aufwarf.
Sein glühender Ehrgeiz, seine fieberhafte Thätigkeit, sein aufrichtiger Enthusiasmus schufen mit Hilfe der großartigen Vaterlandsliebe, Opferfähigkeit und Kriegsbegeisterung, welche das französische Volk auch diesmal bewährte, schon seit Mitte November immer neue zahlreiche Armeen aus dem scheinbar erschöpften Frankreich, das den Widerstand in Paris und den Provinzen noch fünf Monate fortsetzte und schließlich nach den blutigen Kämpfen der Nordarmee bei Amiens, Bapaume und St.-Quentin, der Loirearmee bei Orléans und Le Mans, der Ostarmee bei Belfort, endlich der Pariser Armee bei Villiers und am Mont Valérien Ende Januar 1871 mit der Kapitulation von Paris ehrenvoll unterlag.
Die Friedensunterhandlungen brachten eine Spaltung in der Regierung hervor. Während nach Abschluß des Waffenstillstandes die Pariser Regierung die Wahlen zur Nationalversammlung ausschrieb, die über Krieg und Frieden entscheiden sollte, erließ auf Gambettas Betreiben die von Tours nach Bordeaux übergesiedelte Delegation 31. Jan. ein Dekret, welches alle notorischen Bonapartisten, ehemaligen kaiserlichen Beamten etc. vom Wahlrecht ausschloß.
Aber die Pariser Regierung hob dieses Dekret auf und erklärte die Vollmachten der Delegation für erloschen, worauf dieselbe zurückzutreten sich genötigt sah. Die Wahlen zur Nationalversammlung gingen 8. Febr. ohne jede Beschränkung vor sich und ergaben eine große Mehrheit von Konservativen, da diese dem Land einen schleunigen Abschluß des Friedens versprachen, nach dem es sich vor allem sehnte. Am 13. Febr. trat die Nationalversammlung (750 Mitglieder) in Bordeaux zusammen, wählte den gemäßigten Republikaner Grévy zu ihrem Präsidenten und, nachdem die Regierung der nationalen Verteidigung ihr Amt niedergelegt, 17. Febr. fast einstimmig den in 20 Departements erwählten Thiers zum Chef der ausführenden Gewalt; er behielt Favre, Picard (für Inneres), Simon und Leflô als Minister und übertrug Dufaure die Justiz, Lambrecht den Handel, Pothuau die Marine, de Larcy die öffentlichen Arbeiten.
Diesem aus verschiedenen Parteien zusammengesetzten Ministerium entsprach sein 19. Febr. entwickeltes Programm, welches baldigsten Abschluß des Friedens und Waffenstillstand zwischen allen Parteien bis zur völligen Befreiung und Wiederherstellung des Landes bedeutete. Am 26. Febr. wurden die Friedenspräliminarien zu Versailles abgeschlossen, die freilich mit der Abtretung von drei Departements (Elsaß-Lothringen) und der Zahlung von 5 Milliarden Kriegskosten harte Opfer auferlegten, aber von der Nationalversammlung unter ungeheurer Aufregung 1. März mit 546 Stimmen gegen 107 angenommen wurden; zugleich wurde fast einstimmig die Dynastie der Bonaparte für des Throns auf immer verlustig erklärt. Der definitive Friede, der an den Präliminarien wenig änderte, wurde in Frankfurt a. M. unterzeichnet. (Ausführlicheres über den deutsch-franz. Krieg s. im Spezialartikel.)
Die Begründung der dritten Republik.
Die Zahl der monarchisch gesinnten Mitglieder in der Nationalversammlung war so groß, daß die Herstellung der Monarchie in Frankreich damals wohl möglich gewesen wäre. Aber weder der Graf von Chambord noch die Orléans besaßen den Mut, das Staatsruder mit fester Hand zu ergreifen und die Verantwortung für den von der Nation ersehnten, aber für ihren Stolz so demütigenden Frieden mit Deutschland und für die Unterdrückung der republikanischen Partei zu übernehmen.
Die Prätendenten zogen es vor, diese schwierigen Aufgaben erst durch die interimistische Regierung lösen zu lassen, ehe sie selbst den Thron einnahmen, und waren nur darauf bedacht, sich den Weg zu demselben frei zu halten. Die Monarchisten schlossen daher mit den Republikanern in der Nationalversammlung den Pakt von Bordeaux, wonach die Frage der definitiven Regierungsform vorläufig eine offene bleiben solle. Dagegen setzten sie es durch, daß der Sitz der Versammlung nicht nach Paris, sondern nach Versailles verlegt wurde. Hierdurch erweckten sie aber in der aufgeregten Bevölkerung von Paris den Argwohn, daß die Herstellung einer reaktionären Monarchie beabsichtigt sei, und so versuchten die Kommunisten, welche schon während der Belagerung zweimal, und sich empört hatten, 18. März einen neuen Aufstand, welcher glückte.
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Die Truppen mußten Paris räumen, wo die Kommune proklamiert wurde. Unter den schwierigsten Verhältnissen unternahm die Regierung von Versailles aus die Wiedererwerbung von Paris, das erst in der letzten Woche des Mai 1871 unter schrecklichen Greueln und den Flammen der von den Kommunisten angezündeten Staatsgebäude von der Armee wieder genommen werden konnte. Hierdurch wuchs das Vertrauen zu Thiers' Geschicklichkeit und Thatkraft. Ende Juni konnte er bereits eine Anleihe von 2½ Milliarden machen, durch deren Bezahlung an Deutschland er einen großen Teil des Territoriums von der fremden Okkupation befreite. Am 31. Aug. wurde der Vorschlag Rivets angenommen, welcher Thiers das Präsidium der Republik auf drei Jahre anvertraute, wenn auch das Recht der Versammlung, dem Land eine neue (monarchische) Verfassung zu geben, ausdrücklich vorbehalten wurde.
Die Erstarkung der republikanischen Partei zeigte sich bei den Nachwahlen, die fast durchweg zu ihren gunsten ausfielen. Die Monarchisten wurden dadurch nicht wenig beunruhigt. Aber sie konnten das Ansehen Thiers' im Ausland und in Frankreich selbst nicht entbehren, solange nicht durch Zahlung der Kriegskosten die Räumung des Landes durch den Feind erreicht und mit der Herstellung der Armee die äußere Sicherheit und die innere Ruhe verbürgt war. Sie mußten sich daher begnügen, in Nebenfragen dem Präsidenten Opposition zu machen und Schwierigkeiten zu bereiten, damit er seiner Abhängigkeit von der Mehrheit der Versammlung stets eingedenk bleibe. Indes setzte in allen wichtigern Fällen, wie der römischen Interpellation, der Frage der Entschädigung für die im Krieg verwüsteten Provinzen, dem Generalratsgesetz, der Auflösung der Nationalgarde, Thiers stets seinen Willen durch die Drohung mit seinem Rücktritt durch und erlangte jedesmal ein Vertrauensvotum.
Die Mittel für die Zahlung der Kriegskontribution wurden schon im Juli 1872 durch eine neue Anleihe von 3 Milliarden beschafft, welche zum Stolz der Franzosen 14mal überzeichnet wurde. Hierdurch ward es möglich, das Ende der Okkupation, welche sich seit dem Frühjahr 1872 nur auf sechs östliche Departements erstreckt hatte, schon im September 1873 herbeizuführen. Allerdings war die Staatsschuld auf 23 Milliarden gestiegen und das Budget mit einem Mehrausgabenbetrag von 600 Mill. belastet.
Die hierfür erforderlichen Einnahmen wurden durch Erhöhung der Zölle auf fast alle Verbrauchs- und Genußmittel, eine Anzahl neuer Steuern und eine hohe Steuer auf Rohstoffe beschafft. Die Reorganisation der Armee wurde in großartigstem Maßstab durchgeführt; allerdings wurde das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht nicht streng angewendet und auch die Errichtung provinzieller Armeekorps abgelehnt, da Thiers gegen beides sich aussprach und auf einer Dienstzeit von wenigstens fünf Jahren für die Mehrzahl der Eingezogenen bestand.
Die aktive Armee (die Beurlaubten eingerechnet) wurde aber durch das Organisationsgesetz vom auf 705,000 Mann, die Reserve auf 510,000, die Territorialarmee (Landwehr) auf 532,000, deren Reserve (Landsturm) auf 626,000 Mann festgesetzt; die bewaffnete Macht Frankreichs in einem Krieg belief sich also auf die ungeheure Zahl von 2,423,000 Mann! Die Bewaffnung und Ausrüstung wurde durchweg in bestem Material erneuert. Ferner wurde die Ost- und Nordgrenze durch zahlreiche größere und kleinere Festungen gesichert und Paris mit einem neuen weitern Ring von Forts umgeben.
Die beiden großen Triebfedern eines starken Staatswesens, Finanzen und Heer, waren so von der Regierung wiederhergestellt. Handel und Wandel machten die erfreulichsten Fortschritte. Die Elastizität der französischen Nationalproduktion ertrug die ungeheure Belastung mit indirekten Abgaben (50 Fr. auf den Kopf), ohne erdrückt zu werden; die Einnahmen stiegen von Jahr zu Jahr. Die öffentliche Ruhe wurde nirgends gestört. Unter diesen Umständen verbreitete sich die Überzeugung immer mehr, daß die Republik nicht bloß möglich, sondern sogar die einzig mögliche Regierungsform in Frankreich sei.
Dies war auch die Ansicht Thiers', der einmal mit Recht bemerkte, die Monarchie könne schon deshalb nicht hergestellt werden, weil es wohl drei Prätendenten, aber nur einen Thron gäbe. Indes die Mehrheit der Nationalversammlung opponierte heftig, so oft Thiers die definitive Proklamierung der Republik beantragte, wie namentlich in seiner Botschaft vom Unterstützt von den Ultramontanen, setzten die Monarchisten eine allgemeine Agitation im Land ins Werk und brachten in der Dreißigerkommission, welche für die Beratung der neuen Verfassung gebildet wurde, mehrere Beschlüsse durch, welche die Befugnisse des Präsidenten, namentlich die, in der Versammlung zu sprechen, wesentlich beschränkten und in Bezug auf die Verfassung nur bestimmten, daß die Versammlung sich nicht trennen werde, ohne die Art der Übertragung ihrer Gewalten auf ihre Nachfolger geordnet zu haben.
Diese Beschlüsse wurden im Plenum angenommen. Als die Monarchisten aber weiter verlangten, daß Thiers ein konservatives Ministerium ihrer Partei berufe und sich damit ihnen unterwerfe, führte er selbst durch die Vorlage eines Gesetzes, welches die Konstituierung der Republik betraf den Bruch herbei. Da die Rechte den persönlichen Kredit des berühmten Staatsmanns entbehren zu können glaubte, nachdem die Abzahlung der Kriegsentschädigung und die Räumung des Gebiets geregelt sowie das Gleichgewicht im Budget hergestellt waren, so nahm sie den Fehdehandschuh auf und beantwortete jenen Gesetzentwurf 23. Mai mit einem Mißtrauensvotum, worauf nicht bloß das Ministerium, sondern auch Thiers ihre Entlassung einreichten. Noch am Abend wurde Thiers' Entlassung mit 368 gegen 339 Stimmen angenommen und Mac Mahon zum Präsidenten gewählt, der den Führer der Rechten, den Herzog von Broglie, an die Spitze eines reaktionären Ministeriums stellte.
Das Ziel der neuen Regierung war die Herstellung der Monarchie Heinrichs V., des Grafen von Chambord. Die Vorbedingung, die Fusion der Orléans mit dem legitimen Königshaus, wurde verwirklicht durch den Besuch des Grafen von Paris in Frohsdorf (5. Aug.). Schon hatten 22. Okt. die Monarchisten, denen sich auch die Bonapartisten anschlossen, einen Gesetzentwurf vereinbart, der die konstitutionelle Erbmonarchie in der Person Heinrichs V. mit dem Nachfolgerecht der Orléans einführte, als plötzlich Chambord selbst durch seine Weigerung, die Trikolore anzunehmen und sich zu Bedingungen und Bürgschaften zu verpflichten, alle Restaurationsprojekte vorläufig zum Scheitern brachte (27. Okt.). Bei dieser Lage der Dinge vereinigte sich die Rechte mit dem linken Zentrum, den gemäßigten Republikanern, damit wenigstens die konservativen Interessen gerettet würden, dahin, Mac Mahon die Präsidentschaft auf sieben Jahre zu übertragen, aber die Republik durch Festsetzung einer Verfassung zu begründen. Das Septennat wurde beschlossen und
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darauf die Beratung der Verfassungsgesetze in dem Dreißigerausschuß, in dem 25 Monarchisten saßen, begonnen. Da der Streit der Parteien hierbei von neuem entbrannte, so zogen sich die Verhandlungen im Ausschuß und im Plenum ohne Resultat bis zum Herbst 1874 hin, bis der Ausfall der Gemeinderats- und Generalratswahlen zu gunsten der Radikalen und Bonapartisten die Gemäßigten belehrte, daß die Republik schleunigst begründet werden müsse, wenn sie noch einen konservativen Charakter behalten solle.
Endlich Anfang 1875 kamen die Verfassungsgesetze in einer von Ventavon entworfenen Form zur definitiven Verhandlung in der Nationalversammlung und wurden mit einigen Modifikationen, welche die Mittelgruppe unter Wallon beantragte, 25. Febr. mit 425 gegen 252 Stimmen genehmigt. Dieselben bestimmten, daß an der Spitze der Republik ein von beiden Kammern auf sieben Jahre gewählter Präsident stehen, bis 1880 aber Mac Mahon dies Amt bekleiden, und die gesetzgebende Gewalt von zwei Kammern geübt werden sollte, einer aus direkt gewählten Vertretern des Volkes bestehenden Deputiertenkammer von 533 und einem Senat von 300 Mitgliedern, von denen 225 von den Gemeinde-, Arrondissements- und Generalräten auf neun Jahre gewählt, 75 von der Nationalversammlung auf Lebenszeit ernannt, dann durch Wahl des Senats selbst ergänzt werden sollten; die Verfassung sollte in Kraft treten und nach Ablauf des Septennats revidiert werden dürfen.
Nach Abschluß der Verfassungsberatungen bildete nach dem Rücktritt Cisseys, der im Mai 1874 an Broglies Stelle getreten war, Buffet ein Ministerium aus Vertretern der Mittelparteien, welche die Verteidigung der Prinzipien der Ordnung und der sozialen Erhaltung, die ihr Programm bildete, besonders durch Begünstigung der Ultramontanen zu verwirklichen meinten. Das Unterrichtsgesetz vom überlieferte die Schule fast ganz dem katholischen Klerus. Auch die bonapartistische Partei gewann immer mehr an Macht und Einfluß. Die Liberalen bemühten sich vor allem, die Auflösung der Nationalversammlung zu beschleunigen, und machten daher beim Wahlgesetz für die Deputiertenkammer und beim Gesetz über die Beziehungen der öffentlichen Gewalten zu einander erhebliche Zugeständnisse. Nachdem die 75 Senatoren gewählt waren, wurden die Sitzungen der Nationalversammlung geschlossen, die fünf Jahre hindurch die Geschicke Frankreichs geleitet hatte.
Die Herrschaft der dritten Republik.
Das schwankende und ohnmächtige Verhalten der monarchistischen Mehrheit der Nationalversammlung, besonders ihre stark hervortretenden klerikalen Tendenzen hatten ihr die Masse des Volkes entfremdet. Dies zeigten die Wahlen für die neue Deputiertenkammer, welche stattfanden und 360 Republikaner neben bloß 170 Konservativen ergaben, während aus den Wahlen der 225 Senatoren 30. Jan. noch 120 Konservative hervorgegangen waren. Die Republikaner, an deren Spitze sich jetzt Gambetta stellte, traten überdies sehr gemäßigt auf, während unter den Konservativen die Bonapartisten und Ultramontanen die leitende Stimme hatten.
Diese brachten sofort das Ministerium Dufaure zu Falle und als darauf Jules Simon, der für einen entschiedenen Republikaner galt, ein neues Kabinett bildete, stieg die Flut der klerikalen Agitation im Land immer höher. Dieselbe fand scheinbar bei der Arbeiterbevölkerung Beifall, und dies ermutigte die Führer der Partei, Broglie und Buffet, zu einem energischen Reaktionsversuch. Nachdem Simon das Verlangen der Ultramontanen, für die Freiheit des Papstes gegen Italien aufzutreten, unter dem Beifall der Kammern abgelehnt hatte, geriet er wenige Tage darauf wegen einiger Änderungen des Gemeinde- und des Preßgesetzes mit der Mehrheit der Kammern in Konflikt.
Dies nahm der Präsident Mac Mahon zum Anlaß, 16. Mai Simon zu entlassen und ein reaktionäres Ministerium unter Broglie zu berufen, das die Aufgabe hatte, die Befestigung der Republik zu verhindern und die Errichtung einer konservativ-klerikalen Monarchie in der Zukunft möglich zu erhalten, inzwischen aber die Macht der Kirche zu verstärken. Die Kammer wurde 18. Mai vertagt und, nachdem der Senat seine Zustimmung zu ihrer Auflösung erteilt hatte, 25. Juni aufgelöst; die Neuwahlen wurden auf den 14. Okt. festgesetzt.
Obwohl der Minister des Innern, Fourtou, alle Mittel des Kaiserreichs, Absetzung der republikanischen Beamten, Unterdrückung der Presse und des Versammlungsrechts, die offiziellen Kandidaturen etc., rücksichtslos anwendete, Mac Mahon selbst seine persönliche Autorität in Manifesten und Reden einsetzte, fielen doch die Wahlen nicht reaktionär aus. Die von Gambetta mit großem Geschick geleiteten Republikaner behaupteten 320 Sitze und siegten auch bei den Generalratswahlen (4. Nov.). Das Ministerium Broglie dankte daher sofort ab, und nachdem der Versuch der Klerikalen, durch das reine Geschäftsministerium Rochebouet die Entscheidung zu verschleppen, von den Kammern mit Hohn zurückgewiesen worden, fügte sich Mac Mahon, da ein Staatsstreich mit Hilfe der Armee keinen Erfolg verbürgte, und berief im Dezember Dufaure wieder an die Spitze der Regierung. Hiermit war der Sieg der Republikaner definitiv entschieden, und ihr Übergewicht befestigte sich immer mehr. Sie machten anfangs von demselben einen bescheidenen Gebrauch, um so mehr, da man den Erfolg der Pariser Weltausstellung 1878 nicht durch Parteistreitigkeiten gefährden wollte. Aber nachdem die Ergänzungswahlen für den Senat, welche stattfanden, auch in dieser Körperschaft eine republikanische Majorität von 177 gegen 121 Mitglieder geschaffen hatten, traten die Republikaner anspruchsvoller auf. Sie verlangten die Beseitigung der klerikalen und monarchistischen Elemente nicht bloß aus der Verwaltung, sondern auch aus den höhern Justiz- und Armeestellen. Dies bewog Mac Mahon, der nur den Klerikalen zuliebe seit seiner Niederlage 1877 im Amt geblieben, seine Entlassung zu fordern. Die Kammern traten sofort zum Kongreß zusammen und wählten mit großer Mehrheit den Präsidenten der Deputiertenkammer, das Haupt der gemäßigten Republikaner, Jules Grévy, zum Präsidenten der Republik auf sieben Jahre. Nachfolger desselben als Kammerpräsident wurde Gambetta. Der gut republikanische, aber streng kirchliche Dufaure fühlte sich nun auch nicht am Platz und überließ Waddington die Führung des Ministeriums.
In der Deputiertenkammer, in welcher sich die Republikaner durch die Nachwahlen nicht unerheblich verstärkt hatten, besaßen fortan die Fraktionen der republikanischen Linken und der Union républicaine, welche man wegen ihrer Anbequemung an die Verhältnisse Opportunisten oder als Anhänger Gambettas Gambettisten nannte, die Oberhand, wurden aber von der äußersten Linken, den Radikalen, mit immer neuen Anträgen auf Bekämpfung der Reaktion und Befestigung der Republik bedrängt, gegen die sie sich
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teils aus Überzeugung, teils um in der Volksgunst von den Radikalen nicht überholt zu werden, meist nachgiebig zeigten. So gaben sie ihre Zustimmung zur Amnestie von 3300 Kommunarden und zur Verlegung des Sitzes der Kammern von Versailles nach Paris, welche im November 1879 erfolgte. Bei der Beratung der vom Unterrichtsminister Ferry vorgelegten Unterrichtsgesetze wurde der Klerus vom Unterrichtsrat ausgeschlossen und allen nicht anerkannten Kongregationen, auch den Jesuiten, die Leitung von Unterrichtsanstalten verboten.
Nun verlangten die Radikalen unbedingte Amnestie für alle Kommunarden und fernere Säuberung des Richterstandes von allen nicht republikanisch gesinnten Personen. Sie beschuldigten die Minister der Unentschlossenheit und des Zauderns, wodurch die Republik gefährdet werde, und wenn Waddington auch wiederholt ein Vertrauensvotum von der Mehrheit erlangte, sobald er die Kabinettsfrage stellte, so war die Haltung der Mehrheit doch eine so unzuverlässige, daß Waddington im Dezember 1879 seine Entlassung nahm und Freycinet an seine Stelle trat.
Auch dieser hatte Mühe, dem ungestümen Drängen der Radikalen Widerstand zu leisten, und erlangte für einige Zeit Ruhe nur dadurch, daß der unerwartete Widerstand des Senats gegen die Ausschließung der nicht erlaubten Orden vom Unterricht die Aufmerksamkeit der Radikalen ablenkte. Auf Antrag der Kammer beschloß die Regierung, den vom Senat angefochtenen 7. Artikel aus den Unterrichtsgesetzen zu entfernen, worauf der Senat sie genehmigte, und auf Grund früherer Gesetze gegen jene Orden, namentlich gegen die Jesuiten, vorzugehen.
Durch Dekret vom wurden alle Unterrichtsanstalten der Jesuiten aufgehoben, den übrigen Orden die Einreichung ihrer Statuten befohlen. Kaum aber war dies erreicht, als das Verlangen nach allgemeiner Amnestie erneuert wurde. Grévy und Freycinet sträubten sich dagegen, da sie auch die gemeinen Verbrecher unter den Kommunarden betraf, fügten sich aber, als Gambetta für die radikale Forderung eintrat. Noch vor der ersten Feier des neu eingerichteten Nationalfestes zur Erinnerung an den Bastillesturm (14. Juli) wurde 10. Juli die Amnestie beschlossen und verkündet, die Rochefort, Eudes, Grousset u. a. die Rückkehr nach Frankreich gestattete. Dennnoch ^[richtig: Dennoch] wurde Freycinet im September zum Rücktritt genötigt, weil er mit der Kurie eine Übereinkunft über die Duldung der nicht ermächtigten Kongregationen (außer den Jesuiten) abgeschlossen hatte, die Gambetta nicht billigte. Ferry, der neue Ministerpräsident, übernahm es, durch Auflösung aller nicht erlaubten Mönchsorden die Märzdekrete auszuführen, was er auch mit Energie und unter heftigem Widerstand der auszutreibenden Kongregationen that.
Die Nachgiebigkeit des Präsidenten Grévy gegen die Wünsche der Kammermehrheit, der glänzende Aufschwung des Wohlstandes in Frankreich, welcher eine solche Steigerung der Staatseinnahmen zur Folge hatte, daß man für die Flotte, das Landheer, die neue Befestigung an der Ostgrenze, für den Unterricht, für öffentliche Bauten und Eisenbahnen (1500 Mill.), für Schuldentilgung (1000 Mill.) ungeheure Summen ausgeben und doch die Steuern und Abgaben seit 1876 um mehr als 200 Mill. herabsetzen konnte, endlich die Ohnmacht der monarchistischen Parteien, von denen die der Republik gefährlichste, die bonapartistische, durch den plötzlichen Tod des kaiserlichen Prinzen gelähmt war, verleiteten die Mehrheit der Kammer, die Autorität der Regierung durch Angriffe oder ungebührliche Forderungen immer wieder zu erschüttern. So wurde gleich nach Eröffnung der neuen Session im November 1880 das erste Verlangen des neuen Ministeriums Ferry, daß die weitern Unterrichtsgesetze (Unentgeltlichkeit des Volksunterrichts und Schulzwang) vor der Reform des Richterstandes beraten würden, von der Majorität abgelehnt. Nur mit Mühe konnte Ferry vom Rücktritt abgehalten werden. Die Reform des Richterstandes, bei welcher es darauf abgesehen war, durch Aufhebung der Unabsetzbarkeit der Richter auf ein Jahr mit einemmal eine größere Anzahl mißliebiger Richter zu beseitigen, konnte übrigens zunächst nicht vereinbart werden. Von den Unterrichtsreformen scheiterte die Einführung des Schulzwanges am Widerspruch des Senats.
Eine eigentümliche Stellung nahm bei allen diesen Verhandlungen Gambetta ein. Er war der Führer der Majorität, hatte sich aber bisher geweigert, an die Spitze des Ministeriums zu treten. Gleichwohl wollte er den Ministern seinen Willen aufzwingen und mischte sich sogar eigenmächtigerweise in die auswärtige Politik. Sein letztes Ziel war die Präsidentschaft der Republik. Er glaubte diese Machtstellung am sichersten zu erreichen, wenn er sich bei den 1881 bevorstehenden Neuwahlen eine große, unbedingt sichere Mehrheit verschaffte.
Das beste Mittel hierzu schien ihm die Einführung der Listenabstimmung statt der Arrondissementswahlen bei den Deputiertenwahlen zu sein; denn wenn jedes Departement die Deputierten zusammen wählte, konnten die Wahlen besser beherrscht werden und er selbst, in zahlreichen Departements gewählt, als der Erwählte der Nation auftreten. Er beantragte also die Einführung der Listenwahlen in der Kammer und setzte sie auch im Mai 1881, freilich nur mit einer Mehrheit von 8 Stimmen, durch.
Der Senat verwarf sie jedoch. Gleichwohl beherrschte Gambettas 11. Aug. veröffentlichtes Programm die Neuwahlen für die Deputiertenkammer und verschaffte den Republikanern einen glänzenden Sieg. Die Zahl derselben stieg auf 459 Mitglieder, die des Gambettistischen Republikanischen Vereins allein auf 206; die Zahl der Monarchisten sank von 147 auf 88. Jetzt konnte sich Gambetta der Übernahme des Ministeriums nicht länger entziehen. Nachdem Ferry freiwillig zurückgetreten, bildete Gambetta sein Kabinett, »le grand ministère«, wie es seine Anhänger nannten, in dem aber außer dem Präsidenten selbst keine bedeutenden Politiker saßen.
Außer dem glänzenden Sieg seiner Partei bewog auch die auswärtige Politik Gambetta, gerade jetzt an die Spitze der Regierung zu treten. Frankreich hatte in den ersten Jahren nach der Katastrophe von 1870/71 eine leicht begreifliche Zurückhaltung in der europäischen Politik bewiesen und sich ganz der Wiederherstellung seiner Wehrkraft und der Ordnung seiner Finanzen gewidmet. Nicht bloß Thiers, sondern selbst Mac Mahon u. seine reaktionären Minister hatten der Versuchung widerstanden, dem klerikalen Verlangen entsprechend für die Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des Papstes einzutreten. Alle Wünsche und Hoffnungen richteten sich auf die Revanche, auf die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens, während man sich den Anschein gab, als müsse man einen neuen Eroberungskrieg des unersättlichen Preußen fürchten und für diesen Fall sich rüsten. Da man indes auf den glücklichen Ausgang eines nur mit eigner Kraft geführten Kriegs gegen Deutschland nicht rechnen zu dürfen glaubte, so setzte man sein Vertrauen auf
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eine Koalition gegen das neue, wie man hoffte, auch bei den andern Völkern verhaßte Deutsche Reich, besonders auf die Hilfe Rußlands. Decazes, welcher 1873-77 die auswärtige Politik Frankreichs leitete, war unablässig bemüht, eine solche günstige Konstellation vorzubereiten. Die Friedensliebe des deutschen Kaisers und Volkes, die Wachsamkeit und Umsicht Bismarcks vereitelten freilich alle französischen Pläne und Hoffnungen, und nach Decazes' Rücktritt trat eine Wendung in der auswärtigen Politik ein.
Indem man sich den Revanchekrieg für die Zukunft vorbehielt, beschloß man die Wahrung der französischen Interessen auf andern Gebieten, namentlich im Orient und im Mittelmeer, nicht zu versäumen. Der auswärtige Minister Waddington vertrat selbst Frankreich 1878 auf dem Berliner Kongreß und sicherte sich hier die Zustimmung Englands und Bismarcks zu dem Plan, Tunis in den französischen Machtbereich zu ziehen. Auch in Ägypten wahrte die Regierung Frankreich neben England einen maßgebenden Einfluß bei der Kontrolle der Finanzen.
Einer aktiven Politik standen nun freilich manche Bedenken entgegen. Viele Franzosen wollten sich nicht in auswärtige Unternehmungen einlassen, welche Bismarck benutzen könne, um über das wehrlose Frankreich herzufallen oder andre Mächte gegen dasselbe zu hetzen. Erst als die Italiener in Tunis sich mehr und mehr festsetzten, beschloß Ferry 1881, zu handeln. Räubereien, welche der Tunis unterthänige Stamm der Krumir an der Grenze von Algerien verübt haben sollte, gaben den erwünschten Vorwand, den Einmarsch französischer Truppen in Tunis zu befehlen.
Diese nötigten dem Bei einen Vertrag auf, der Tunis unter die französische Schutzherrschaft stellte. Allerdings erforderte der Widerstand der Bevölkerung eine Verstärkung der Truppenmacht und einen Feldzug in das Innere, indes vor Ende des Jahrs war das Land unterworfen, und die Organisation desselben wurde sofort begonnen, worüber ein neuer Vertrag mit dem Bei abgeschlossen ward (s. Tunis). Gambetta glaubte jetzt (Januar 1882) den Augenblick gekommen, durch eine kräftige Aktion in Gemeinschaft mit England in Ägypten, wo der Aufstand Arabi Paschas ausgebrochen war (s. Ägypten), eine enge und feste Allianz mit diesem Reich anzuknüpfen und hierdurch sowie durch Verbindung mit den russischen Panslawisten Frankreich einen Rückhalt zu verschaffen, der ihm den ersehnten Revanchekrieg ermögliche.
Indes die Weigerung des englischen Kabinetts, schon jetzt zu einer bewaffneten Intervention in Ägypten zu schreiten, vereitelte seine Pläne, und da gleichzeitig die Kammer sich den von ihm beantragten Verfassungsänderungen, namentlich der von neuem vorgelegten Listenabstimmung, widersetzte, ja bei deren Ablehnung mit 305 gegen 119 Stimmen ihre Abneigung gegen eine persönliche Diktatur, wie Gambetta sie erstrebte, offen kundgab, so nahm Gambetta, der gefeierte Volkstribun, schon seine Entlassung.
Das neue Ministerium Freycinet beschloß die Verfassungsrevision zu vertagen, dagegen eine Dezentralisation der Verwaltung vorzunehmen und die Ordnung der Finanzen herzustellen, welche durch das allzu große Vertrauen der Republikaner auf die unerschöpflichen Hilfsquellen des Staats, infolgedessen man die Ausgaben übermäßig gesteigert und neue Anleihen aufgenommen hatte, gefährdet worden war. Indes von alledem vermochte das Ministerium nichts zu stande zu bringen (nur die Annahme des Schulzwangsgesetzes im Senat erreichte es), denn es wurde schon im Juli wieder gestürzt.
Während die Monarchisten und Radikalen dasselbe prinzipiell und offen bekämpften, spannen die Gambettisten aus Neid und Eifersucht allerlei Ränke gegen Freycinet. Nachdem sie in innern Fragen eine Mehrheit gegen ihn zu bilden vergeblich versucht hatten, bewirkten sie 29. Juli, daß der von Freycinet verlangte Kredit zur Beschützung des Suezkanals verweigert wurde, obwohl Gambetta kurz vorher Freycinet seine Zurückhaltung in der ägyptischen Politik vorgeworfen und eine energische Aktion gefordert hatte. Die Folge war, daß das Ministerium Freycinet zurücktrat, ohne daß sofort ein neues gebildet werden konnte, und daß inzwischen England sich allein der Gewalt in Ägypten bemächtigte und Frankreich aus der Finanzkontrolle verdrängte. Duclerc, der am 7. Aug. das Präsidium des neuen Kabinetts übernahm, vermochte das nicht zu hindern. Seine Regierung dauerte übrigens nicht lange. Der Tod Gambettas rief einige Demonstrationen der monarchistischen Prätendenten hervor.
Die Linke verlangte sogleich die Ausweisung aller Mitglieder der Familien, die früher in Frankreich geherrscht hatten. Da das Ministerium Duclerc nicht darauf eingehen wollte, nahm es seine Entlassung, und in der darauf eintretenden Verwirrung kam nur ein provisorisches Kabinett unter Fallières zu stande. Auch dieses vermochte nicht, Senat und Kammer zu übereinstimmenden Beschlüssen über ein Prätendentengesetz zu bewegen, und machte 21. Febr. einem Ministerium Ferry Platz.
Ferry beschwichtigte die Aufregung über die Prätendenten dadurch, daß er alle Prinzen des Hauses Orléans durch Dekret des Präsidenten ihrer militärischen Stellen entsetzte, und wurde von der Kammer wenig angefochten, weil die republikanische Mittelpartei doch einsah, daß der fortwährende Ministerwechsel nicht bloß die Autorität der Regierung, sondern den Bestand der Republik selbst gefährden könne. So wurde denn die Konversion der 5proz. Rente in eine 4½proz. zu stande gebracht und die Gerichtsreform dadurch erledigt, daß dem Justizminister Vollmacht erteilt wurde, die Zahl der Richter um 614 Stellen zu vermindern und dem entsprechend 614 der Regierung mißliebige Richter durch Pensionierung zu beseitigen. Da Ferry sich bis 1885 behauptete, so konnte er auch noch die Annahme des Ehescheidungsgesetzes bewirken.
Den Radikalen machte er das Zugeständnis, daß er eine Verfassungsrevision beantragte, welche die Senatswahlen anders regelte und das Verhältnis der Gewalten zu einander bestimmter festsetzte; dieselbe wurde nach langen leidenschaftlichen Verhandlungen vom Kongreß im August 1884 genehmigt. Die Finanzen bereiteten wegen des Daniederliegens der Geschäfte und des Rückganges der Staatseinnahmen Schwierigkeiten, und die Budgetverhandlungen zogen sich 1884 so lange hin, daß das Budget nicht rechtzeitig festgestellt wurde. Dennoch kam das herrschende System nicht in Gefahr, da die monarchistischen Parteien durch den Tod des Grafen Chambord, das kleinliche, feige Verhalten der Orléans und die Desorganisation der Bonapartisten zur Ohnmacht verurteilt waren und die Anarchisten, die Nachfolger der Kommunarden von 1871, nur in Paris und Lyon Bedeutung hatten. Daß Ferry schließlich doch zu Falle kam, hatte seinen Grund in der Kolonialpolitik.
Nachdem Tunis gewonnen war, richtete Frankreich seine Blicke auf seine übrigen Kolonien in den fremden Erdteilen. Nachdem 1880 Tahiti und 1881 die Mangarewainseln in der Südsee annektiert worden waren, schritt
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die Regierung dazu, durch den Bau einer Eisenbahn in Senegambien und durch die Brazzasche Expedition im Congogebiet dem französischen Handel neue Gebiete in Westafrika zu erschließen, ferner Madagaskar (s. d.) ganz der Herrschaft Frankreichs zu unterwerfen. Von besonderer Wichtigkeit war der Beschluß, die Besitzungen in Ostasien durch die Erwerbung Tongkings (s. d.) zu erweitern und die Bildung eines großen hinterindischen Reichs vorzubereiten. Indes verwickelte Challemel-Lacour, der zuerst unter Ferry die auswärtigen Angelegenheiten leitete, durch Ablehnung des Bouréeschen Vertrags, welcher eine friedliche Verständigung mit China über Hinterindien ermöglicht hätte, in einen förmlichen Krieg zunächst mit den chinesischen Söldnerbanden in Tongking, dann mit China selbst. 1884 brachte Ferry einen neuen Vertrag mit China in Tiéntsin zu stande, nach welchem letzteres Tongking zu räumen und Anam der Schutzherrschaft Frankreichs zu überlassen versprach.
Die Voreiligkeit eines Kommandeurs bei der Besetzung Langsons führte aber zu einem blutigen Zusammenstoß mit den chinesischen Truppen bei Baclé der die öffentliche Meinung in in die höchste Aufregung versetzte. Mit Zustimmung der Kammern schritt die französische Regierung nach der Ablehnung ihrer übermäßigen Entschädigungsforderung (250 Mill.) zu Repressalien gegen China und ließ das Arsenal und die Schiffe im Hafen von Futschou zerstören sowie das nördliche Formosa besetzen.
Die Eroberung Tongkings wurde, allerdings mit Aufbietung bedeutender Streitkräfte, fast vollendet. Um einen großen Teil des Heers in Asien verwenden zu können, mußte Frankreich sich in Europa einen Rückhalt verschaffen. Das Bündnis mit England war durch dessen rücksichtsloses Verhalten in der ägyptischen Frage für immer zerrissen. Ferry trug daher kein Bedenken, sich mit den mitteleuropäischen Mächten über die Streitfragen der europäischen Politik zu verständigen und sogar zum Deutschen Reich ein gutes Verhältnis herzustellen.
Die deutsche Regierung war so gemäßigt, ja großmütig, daß sie, der wiederholten Herausforderungen der französischen Revanchepartei, besonders der Insulten, mit welchen der Pariser Pöbel 1883 aus Haß gegen Deutschland Alfons XII. von Spanien beleidigte, nicht achtend, in der ägyptischen Frage mit Frankreich Hand in Hand ging und eine Vereinigung der Kontinentalmächte gegen England bewirkte, welche Frankreich sehr zu statten kam. In chauvinistischen Kreisen wurde diese Annäherung an Deutschland ebenso beklagt wie die Schwächung der Revanchearmee durch die nach Tongking gesandten Truppen, und es bedurfte nur eines übrigens nicht bedeutenden Mißgeschicks der französischen Armee vor Langson (März 1885), um eine leidenschaftliche Aufwallung gegen das Ministerium Ferry, dem mit einemmal alle Verantwortung aufgebürdet wurde, in der Kammer hervorzurufen, durch die Ferry 30. März gestürzt wurde. Die Hast, mit der dies geschah, war um so weniger gerechtfertigt, als Ferry bereits den Frieden mit China angebahnt hatte. Die Präliminarien desselben wurden 4. April abgeschlossen und verpflichteten China zur Räumung Tongkings und zum Verzicht auf die Oberhoheit über Anam, wogegen Frankreich jeden Anspruch auf Kriegskostenentschädigung aufgab. Der definitive Friede ward 9. Juni Tiëntsin unterzeichnet.
Dem neuen Ministerium Brisson, das 6. April die Geschäfte übernommen hatte, wurde hierdurch die Fortsetzung der bisherigen Kolonialpolitik bedeutend erleichtert; denn es konnte dem Land eine erhebliche Verminderung der in Ostasien verwendeten Streitkräfte und demgemäß auch der Kosten in Aussicht stellen, und in Rücksicht hierauf bewilligten die Kammern auch einen Kredit von 150 Mill. zur Deckung der bisherigen Ausgaben. Vor allem aber widmete sich Brisson den innern Angelegenheiten.
Das bisherige Wahlsystem, nach welchem die Deputierten nach Arrondissements gewählt wurden, hatte nach seiner Meinung den Nachteil, daß die Abgeordneten im Interesse ihrer Wahlkreise sich zu viel in die Verwaltung einmischten, daß ferner die Zersplitterung der Republikaner in mehrere Fraktionen dadurch befördert wurde, während das Wohl des Landes eine ständige, zuverlässige Majorität gemäßigter Republikaner oder Opportunisten erforderte. Diese glaubte die Regierung am besten durch Einführung des Listenskrutiniums (s. oben), nach welchem die Deputierten departementsweise gewählt werden, erreichen zu können, und die Kammern schlossen sich dieser Ansicht an, indem sie den von dem Ministerium vorgelegten Gesetzentwurf, der für die Zukunft die Listenwahl vorschrieb, annahmen.
Hierauf ward die Session der Kammern 6. Aug. geschlossen und der Termin der Neuwahlen für die Deputiertenkammer auf den 4. Okt. festgesetzt. Man rechnete sicher auf eine erhebliche Verstärkung der ministeriellen Mehrheit. Da aber der Friede mit China die Schwierigkeiten in Hinterindien nicht beseitigte, vielmehr in Anam ein Aufstand ausbrach, zahllose Christen ermordet wurden und der französische General Courcy nur mit Mühe Hue behauptete; da ferner der bedenkliche Stand der Finanzen durch fortgesetzte Steigerung der Ausgaben bei Verminderung der Einnahmen und die trübe Geschäftslage dem Volk immer deutlicher zum Bewußtsein kamen; so ergaben die Wahlen vom 4. Okt. das für die Opportunisten niederschmetternde Resultat, daß 177 konservative und nur 127 republikanische Deputierte gewählt wurden, 270 Wahlen unentschieden blieben.
Durch die verzweifelten Anstrengungen der Republikaner bei den Stichwahlen (18. Okt.) wurde nun zwar bewirkt, daß nur noch 26 Konservative, dagegen 246 Republikaner gewählt wurden, obwohl die erstern bei beiden Wahlen zusammengerechnet 3½ Mill., die Republikaner nur 4½ Mill. Stimmen bekamen. Die Republikaner hatten zwar noch die Mehrheit, aber nicht mehr die Opportunisten, da 105 Radikale gewählt waren. Die Lage der Regierung hatte sich also verschlechtert. Dies zeigte sich in der neuen Session der Kammer, welche 10. Nov. begann, sofort bei der Entscheidung über die für Tongking und Madagaskar wieder nötig gewordenen Kredite. Obwohl die republikanische Mehrheit die Wahlen von 22 Konservativen wegen klerikaler Wahlumtriebe für nichtig erklärt hatte, obwohl ferner noch in letzter Stunde ein günstiger Friedensvertrag mit Madagaskar (s. d.) zu stande gebracht worden, wurden die Kredite 24. Dez. nach langen Verhandlungen nur mit einer Mehrheit von vier Stimmen bewilligt.
Brisson wartete daher nur ab, bis Grévy 28. Dez. für eine neue Periode von sieben Jahren zum Präsidenten der Republik gewählt worden war, um seine Entlassung einzureichen. Nun bildete Freycinet aus den verschiedenen Gruppen der Linken ein neues Ministerium, das anfangs wenigstens die Unterstützung aller Republikaner fand. Dasselbe setzte sich besonders die Organisation der Schutzherrschaften in den Kolonien und die Herstellung des Gleichgewichts im Budget zum Ziel. Denn die Einnahmen blieben beständig hinter dem Voranschlag zurück, und die außerordentlichen Ausgaben verminderten sich trotz aller Versprechungen