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Bewußtsein ohne Schranken wäre ein »für uns ganz unbegreifliches Wissen«; »jeder Begriff von der Gottheit würde ein Abgott«. Das einzige wahrhaft Absolute, das erste und einzige Ansich, das dem Menschen gegeben ist, ist »das Postulat einer übersinnlichen Weltordnung«. Dieser berufene »Atheismus« Fichtes, der nach dem vorigen nicht nur die Herabsetzung der sogen. wirklichen zu einer bloßen Erscheinungswelt, sondern zugleich die Abstreifung jeglicher, auch der Bewußtseinsschranken, auf welchen das Dasein der Erscheinungswelt beruht, vom Göttlichen (also wie die Gotteslehre Spinozas vielmehr Akosmismus) ist, bildet nun die Vermittelung zwischen Fichtes sogen. erster und zweiter Philosophie, zwischen welcher Nachfolger und Zeitgenossen (wie Hegel und Schelling) eine weite Kluft (der letztere, anfänglich Fichtes begeisterter Bewunderer, sogar eine Aneignung ihm eigner Ideen) zu finden glaubten.
Wahr ist, daß in jener, welcher die Schriften bis zum Jahr 1800 angehören, das Postulat der übersinnlichen Weltordnung den End-, in den Schriften der zweiten Periode (1800-1814), namentlich in der Schrift von der Bestimmung des Menschen, den Ausgangspunkt bildet. Wird jene, »das einzige wahre Absolute«, »Gott«, von den unbegreiflichen Schranken, in welchen das menschliche Ich als handelnde Intelligenz sich »gefangen« findet, aufsteigend nur erreicht, wenn die Schranke von diesem schlechthin weggedacht, die endliche Intelligenz zur unendlichen (ebendarum »für uns unbegreiflichen«) erweitert wird, so kann umgekehrt, vom Absoluten ausgehend, zum Menschlichen nur herabgestiegen werden, wenn das an sich Schrankenlose in die Schranken des menschlichen Bewußtseins gefaßt, das unendliche Ich zum endlichen (ebendarum »begriffenen«) verengert wird.
Damit ist zugleich ausgesprochen, daß das unendliche Ich nicht in einem, sondern nur in einer unendlichen Menge endlicher Ichs (wie Spinozas unendliche Substanz nur in einer unendlichen Menge von Modifikationen) seine Verwirklichung finden kann, deren jedes für sich ebensosehr ein (in sich beschlossenes) Ich wie im Verhältnis zu den übrigen ein (für diese abgeschlossenes) Nicht-Ich darstellt und durch Erfüllung seiner besondern den auf dasselbe entfallenden Teil der allgemeinen Bestimmung, der Selbstverwirklichung des Absoluten (der moralischen Ordnung, Gottes), realisiert und dadurch (auf seinem Standpunkt) die »übersinnliche Welt«, das »einzige Absolute«, mit verwirklicht.
Wie auf dem Standpunkt der Sittenlehre zwischen dem Ich als Selbstzweck und dessen Verwirklichung die sinnliche Scheinwelt als Mittel und Bedingung zu dieser, so liegt zwischen dem Absoluten (der zu realisierenden moralischen Ordnung) und dessen Verwirklichung die Welt der endlichen Ichs, d. h. die in einer Vielheit leiblich getrennter Vernunftwesen vollzogene Versinnlichung des Übersinnlichen als Mittel und Bedingung seiner Selbstrealisierung. Die Phasen, welche die letztere nacheinander durchläuft, gaben Fichte [* 2] den Anhaltspunkt zu einer ebenso großartigen wie tief ethischen Philosophie der Geschichte, deren Grundlage die Einheit des Menschengeschlechts in Gott, deren Endziel die Wiedervereinigung desselben in diesem ist.
In der »Anweisung zum seligen Leben« (vom Jahr 1806) werden von ihm drei Perioden unterschieden: in der ersten steht der Mensch (das endliche Ich) auf dem egoistischen Standpunkt sinnlicher Glückseligkeit, ist sein Wille nicht eins mit dem göttlichen, sondern im Gegensatz zu diesem;
in der zweiten steht derselbe auf dem Punkte der Wahl zwischen dem eignen und dem göttlichen Willen (Standpunkt des Gesetzes);
in der dritten eignet er sich das Gesetz freiwillig an, womit aller Gegensatz zwischen dem Menschen und Gott aufhört, die reine und freie Moralität, der Zustand der Seligkeit beginnt, »der Mensch in Gott versinkt« und »Gott alles in allem ist«.
Daß diese seine spätere Philosophie, die Hegel höhnisch eine »für Kotzebue« nannte, von seiner anfänglichen nicht dem Wesen, sondern höchstens dem Ausdruck nach verschieden sei, hat Fichte ausdrücklich (gegen Schelling) behauptet. Neuere Darsteller (insbesondere Fichtes Sohn, Löwe, Rob. Zimmermann u. a.) haben dargethan, daß die vermeintliche Kluft sich ebne, wenn man von rückwärts am Faden [* 3] des Spinozismus sich zu Fichtes Anfängen zurückfindet. Eine eigentliche Schule hat Fichte nicht gebildet, sondern es haben nur einzelne, namentlich Schad, Mehmel, Cramer, Schmidt, Michaelis u. a., seine Lehre [* 4] adoptiert.
Gleichwohl ist Fichtes Einfluß auf die folgende Entwickelung der deutschen Philosophie so bedeutend, daß in ihm allein der Schlüssel zu allem Verständnis der Neuern liegt, in dem nicht nur Schelling und Hegel auf der von ihm zuerst eingeschlagenen Bahn der Spekulation weiterschritten, sondern selbst deren Antipode Herbart durch das im Fichteschen »Ich« liegende Problem auf die Grundaufgabe seiner Metaphysik hingeleitet worden zu sein selbst bekennt, Schopenhauer aber in der ersten Hälfte seiner Weltanschauung, in der »Welt als Vorstellung«, ganz mit Fichte übereinstimmt.
Fichtes »Sämtliche Werke« wurden von seinem einzigen Sohn, I. H. ^[Immanuel Hermann] Fichte, herausgegeben (Berl. 1845-46, 8 Bde.),
der auch »J. G. ^[Johann Gottlieb] Fichtes Leben und litterarischen Briefwechsel« (2. Aufl., Leipz. 1862, 2 Bde.) veröffentlichte und in seiner »Charakteristik der neuern Philosophie« (2. Aufl., Sulzb. 1841) Fichtes System am klarsten darstellte.
Vgl. außerdem Busse, und seine Beziehungen zur Gegenwart des deutschen Volkes (Halle [* 5] 1848-49, 2 Bde.);
Löwe, Die Philosophie Fichtes nach dem Gesamtergebnis ihrer Entwickelung und in ihrem Verhältnis zu Kant und Spinoza (Stuttg. 1862);
Noack, J. G. ^[Johann Gottlieb] Fichte nach seinem Leben, Lehren [* 6] und Wirken (Leipz. 1862);
Zimmer, J. G. ^[Johann Gottlieb] Fichtes Religionsphilosophie (Berl. 1878).
2) Immanuel Hermann von, theistischer Philosoph, Sohn des vorigen, geb. zu Jena, [* 7] war seit 1822 Professor am Gymnasium, zuerst in Saarbrücken, [* 8] hierauf in Düsseldorf, [* 9] seit 1836, nachdem er sich durch seine »Beiträge zur Charakteristik der neuern Philosophie« (Sulzb. 1829, 2. Aufl. 1841) einen geachteten Namen erworben, außerordentlicher, seit 1840 ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität zu Bonn, [* 10] folgte 1842 einem Ruf in gleicher Eigenschaft nach Tübingen [* 11] und ließ sich, nach dem er 1867 geadelt und in den Ruhestand getreten war, in Stuttgart [* 12] nieder, wo er starb.
Seine hauptsächlichsten Schriften sind: »Sätze dern Vorschule zur Theologie« (Stuttg. 1826);
»Beiträge zur Charakteristik der neuern Philosophie« (Sulzb. 1829, 2. Aufl. 1841);
»Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie« (Heidelb. 1832-36, 3 Tle.);
»Religion und Philosophie in ihrem gegenwärtigen Verhältnis« (das. 1834);
»Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer« (Elberf. 1834; 2. Aufl., Leipz. 1855);
»Über die Bedingungen eines spekulativen Theismus« (Elberf. 1835);
»Die spekulative Theologie« (Heidelb. 1846-47, 3 Tle.);
»System der Ethik« das. 1850-53, 2 Bde.);
»Anthropologie« (das. 1856, 3. Aufl. 1876);
»Zur Seelenfrage, eine philosophische Konfession« (das. 1859);
»Psychologie« (das. 1864-73, 2 Bde.);
»Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen« (das. 1867);
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»Vermischte Schriften« (das. 1869, 2 Bde.);
»Die theistische Weltansicht und ihre Berechtigung« (das. 1873);
»Fragen und Bedenken über die nächste Fortbildung deutscher Spekulation« (Sendschreiben an E. Zeller, das. 1877);
»Der neuere Spiritualismus« (das. 1878);
außerdem zahlreiche Abhandlungen in der von ihm seit 1837 herausgegebenen »Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie« (Tübing. 1837-1848, 20 Bde.; fortgesetzt mit Ulrici und Wirth, Halle 1852 ff.).
Auch gab er heraus die Werke seines Vaters und »J. G. Fichtes Leben und litterarischer Briefwechsel« (Sulzb. 1830-31, 2 Bde.; 2. Aufl., Leipz. 1862).
In der Philosophie nimmt Fichte eine Vermittlerstellung zwischen entgegengesetzten Richtungen ein, daher auch der Vorschlag regelmäßig wiederkehrender Philosophenversammlungen zum Zweck gegenseitiger Verständigung von ihm ausgegangen und die erste 1847 in Gotha [* 14] auch wirklich zu stande gebracht und mit einem Vortrag: »Über die Zukunft der Philosophie« (Stuttg. 1847), begrüßt worden ist. Er betrachtet als solche die Extreme der streng monistischen, welche nur ein Seiendes, und der streng individualistischen Metaphysik, welche nur viele Seiende kennt, und als deren Repräsentanten ihm unter den Neuern Hegel und Herbart, Pantheismus und Deismus, erscheinen, denen er ebendarum Leibniz' Theismus als Repräsentanten der Einheit in der Vielheit und der Vielheit in der Einheit (Urmonas und Monaden) entgegenstellt, sich mit Krauses das gleiche Ziel verfolgendem Panentheismus einverstanden erklärend.
Während er in seinen frühern hauptsächlich im Kampf gegen die pantheistische Richtung abgefaßten, vorzugsweise theologischen Schriften das Hauptproblem dieses seines vermittelnden Standpunktes, die Erhaltung des Endlichen dem Unendlichen und dieses jenem gegenüber, auf spekulativem Weg zu lösen suchte, versuchte er es in seinen spätern, im Kampf gegen die individualistische Schule verfaßten, vorzugsweise psychologischen Schriften auf empirischem Weg.
Die Existenz des Göttlichen, das für den Pantheismus nur immanent, im Menschengeist, für den Deismus nur transcendent, außerhalb desselben, vorhanden ist, soll als demselben immanent und transcendent (in ihm und über ihm seiend) erwiesen werden durch die »Thatsache« eines »Überempirischen im Empirischen«, einer »höhern«, geistigen Individualität im Menschen neben dessen niederer, irdischer, die von ihm als »Genius« bezeichnet und als das unmittelbare Bindeglied zwischen Gott und dem Menschen betrachtet wird.
Das metaphysische Problem, wie die Gesamtheit dieser »Genien« als Individuen höherer Art (Geister) sich zu Gott als der Urpersönlichkeit verhalte, wird damit in die höhere übersinnliche Welt, in das Geisterreich, verlegt, die Existenz des Genius im sinnlichen Menschen aber durch »Thatsachen« einer höhern als der gemeinen Erfahrung, durch die Erscheinungen des Hellsehens, der Erleuchtung, sowie durch die Thaten selbstverleugnender Aufopferung erwiesen, in welchen wie in den erstgenannten ein höheres als das gemeine Wissen, so ein höheres als das gemeine Wollen als göttlicher Kern der irdischen Hülle zum Durchbruch komme.
Diese Berufung auf Thatsachen, die keineswegs für jedermann als solche gelten, hat Fichtes Philosophie, besonders seit dem Erscheinen seiner Anthropologie und Psychologie, in den Ruf der Mystik und der (übrigens von ihm selbst zugestandenen) Theosophie, seine Vermittlerrolle, wie dies zu geschehen pflegt, bei den Anhängern beider Parteien in den der Halbheit und des Eklektizismus gebracht; die selbstverleugnende Wahrheitsliebe und die makellose Reinheit seines Charakters, wodurch er an seinen Vater erinnert, sind auch von seinen Gegnern anerkannt worden.