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durch die Société d'anthropologie überholt und verdunkelt worden, deren Seele Paul Broca (gest. 1880) war, und an deren Spitze Männer wie Geoffroy Saint-Hilaire, Boudin, de Quatrefages, Gratiolet, Pruner Bei, Bertrand, Lartet, Lagneau, Bertillon, Faidherbe, de Mortillet etc. standen, und die in ihren »Bulletins« eine Fülle neuen Materials nebst höchst anregenden Diskussionen veröffentlicht. Zumeist von Mitgliedern dieser Gesellschaft ist auch die »Revue d'Anthropologie«, seit 1871 unter Brocas, seit 1880 unter Topinards Redaktion, geschrieben, welcher sich seit 1882 Ethnographie [* 2] Hamys vortreffliche »Revue d'Ethnographie« zugesellte. In Amerika [* 3] wurde 1842 eine Ethnological Society durch Gallatin und Schoolcraft ins Leben gerufen, welche seit 1845 »Transactions« veröffentlichte, aber später einging, als durch die amtlichen Publikationen und die Schriften der Smithsonian Institution auf unserm Gebiet der Privatthätigkeit eine überwältigende Konkurrenz entstand. In England arbeiteten längere Zeit zwei Gesellschaften nebeneinander, deren Publikationen den größten Schatz ethnographischen Quellenmaterials bergen, wie dies bei den riesigen überseeischen Beziehungen dieses Landes vorauszusetzen war.
Seit 1848 war unter Prichards Vorsitz die Ethnological Society in London [* 4] begründet worden, die in Latham, Crawfurd, Owen, Beke, Bollaert, Ridley, Hooker, Hyde Clark, Howorth, Lubbock, Huxley, Tylor, Lane Fox u. a. eifrige Förderer hatte. Diese Gesellschaft veröffentlichte (1848-70) ein »Journal« und daneben höchst wertvolle »Transactions« (1861-69, 7 Bde.). Zum Teil im Gegensatz zur vorstehenden Gesellschaft und namentlich bedingt durch eine freiere Auffassung, so auf religiösem Gebiet, entstand 1863 die Anthropological Society unter James Hunts Leitung, welche als ihr Organ die »Anthropological Review« (1863-70, 8 Bde.) u. außerdem »Memoirs« (3 Bde.) publizierte, die dem Wert nach den Publikationen der ältern Gesellschaft mindestens gleichstehen. Die wünschenswerte Vereinigung beider Gesellschaften fand 1871 unter dem Namen Anthropological Institute of Great Britain and Ireland statt, und dasselbe hat seitdem 14 Bände eines ganz vorzüglichen »Journal« publiziert.
In Deutschland [* 5] fand, zunächst auf anthropologischer Grundlage, die neue Wissenschaft ihre gesellschaftliche Vertretung auf der Anthropologenversammlung zu Göttingen [* 6] im September 1861, die von K.
Ethnographie v. Baer und Rudolf Wagner einberufen wurde. Im weitern Verlauf entwickelte sich daraus unter der Mitwirkung von Desor, A. Ecker, W. His, L. Lindenschmit, G. Lucae, K. Vogt, H. Welcker, H. Schaaffhausen u. a. das »Archiv für Anthropologie« (Braunschw. 1866-85, 16 Bde.), in welchem auch die Ethnographie eine reiche Vertretung findet. Zur Gründung einer Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte kam es jedoch erst im April 1870 unter dem Vorsitz von R. Virchow.
Als Organ derselben erscheint ein »Korrespondenzblatt«. Gegenwärtig zählt dieselbe 25 Lokalvereine, die über ganz Deutschland verbreitet sind und eine rührige Thätigkeit entwickeln, vor allen der Berliner [* 7] Verein, der in der »Zeitschrift für Ethnologie« (seit 1869: 17 Bde.) ein ausgezeichnetes Organ besitzt. Gleichzeitig fast entstand in Wien [* 8] unter Rokitanskys Vorsitz eine Anthropologische Gesellschaft, und auch Rußland, Italien, [* 9] Spanien, [* 10] Schweden [* 11] und Belgien [* 12] blieben mit der Stiftung ähnlicher Gesellschaften nicht zurück. Seit dem 1867 in Paris [* 13] abgehaltenen Congrès international d'anthropologie umfaßt alle diese Vereine ein gemeinsames Band, [* 14] wie die nachfolgenden in Kopenhagen, [* 15] Bologna, Brüssel, [* 16] Stockholm, [* 17] Budapest [* 18] und Lissabon [* 19] (1880) gehaltenen Kongresse beweisen.
Wie durch die Vereine und Zeitschriften, erhielt die Ethnographie durch Museen und Sammlungen, die eigens in ihren Dienst gestellt wurden, wiewohl meist noch verbunden mit Anthropologie und Prähistorie, einen neuen Antrieb. Jomard war es, der 1843 in Paris zuerst deren Wichtigkeit hervorhob und die ethnographischen Sammlungen aus den Kuriositätsrumpelkammern erlöste, in welche sie zumeist verbannt waren. Jetzt bestehen in den meisten Hauptstädten Europas solche Museen, die zum Teil in Prachtgebäuden (wie in Wien und Berlin) [* 20] untergebracht sind. Außer in Berlin zählt Deutschland noch größere Sammlungen in Leipzig [* 21] (Museum für Völkerkunde), Dresden, [* 22] München, [* 23] Darmstadt [* 24] etc. (Vgl. »Verzeichnis der ethnographischen Sammlungen Deutschlands« [* 25] von Voß im »Katalog der Berliner anthropologischen Ausstellung«, Berl. 1880.)
Gebiet der Ethnographie.
Indem die Ethnographie zu ihrer Unterstützung und zu ihrem Ausbau der meisten andern Wissenschaften bedarf, wird sie selbst zu einer der umfassendsten und schwierigsten Wissenschaften. Was heute alles in ihren Rahmen hineingehört, mag aus der folgenden Übersicht erkannt werden. Die Ethnographie hat zunächst die geographische und rassenweise Verteilung der Völker sowie deren Ursitze und Wanderungen in Betracht zu ziehen und den Rassencharakter zu bestimmen. Neben den zunächst ins Auge [* 26] fallenden Unterschieden der Hautfarbe, Kopfform, Art der Haare, [* 27] des Wuchses gibt es feinere Nüancen, welche sich nicht gleich bemerkbar machen, die aber, wie z. B. die Mongolenfalte des Augenlides (Epicanthus) oder das Inkabein (Os Incae) des Schädels, unter Umständen zu Rassenmerkmalen werden können.
Einteilungen in Rassen sind vielfach neben den oben erwähnten ältern in neuer Zeit aufgestellt worden, doch haben sich alle bisher versuchten Systeme so mangelhaft erwiesen, daß man (z. B. Gerland) zu einer geographischen Klassifizierung zurückkehrte. Unter Berücksichtigung der meisten vorhandenen Merkmale stellte Oskar Peschel sein System auf, indem er sieben Menschenrassen unterschied:
1) Australier, 2) Papua (Melanesier, Negrito, Minkopie etc.), 3) mongolenähnliche Völker, zu denen er außer den asiatischen hierher gehörigen Völkern auch Malaien und Polynesier sowie Eskimo und Amerikaner rechnet, 5) Drawida in Vorderindien, 5) Hottentoten und Buschmänner, 6) Neger, 7) die mittelländische Rasse (Blumenbachs Kaukasier), zu denen die Hamiten, Semiten und Indoeuropäer gestellt werden. Auf die Beschaffenheit eines einzigen Körpermerkmals basierte dagegen Ernst Häckel seine (von Fr. Müller angenommene) Einteilung der Menschen.
Nach den Haaren zerfallen sie in zwei große Abteilungen, nämlich Wollhaarige und Schlichthaarige. Während bei den erstern das Haar [* 28] bandartig abgeplattet und der Querschnitt desselben länglichrund erscheint, ist jedes Haar bei den letztern cylindrisch und zeigt sich der Querschnitt desselben kreisrund. Sämtliche wollhaarige Menschenrassen sind langköpfig und schiefzähnig, zeigen also die relativ größte Verwandtschaft mit dem Affentypus. Sie wohnen alle auf der südlichen Erdhälfte bis zum Äquator und einige Grade über denselben hinauf. Innerhalb dieser beiden großen Abteilungen ergeben sich nach der nähern Beschaffenheit und dem Wachstum des Haars beiderseits wieder Unterabteilungen, die zu folgendem System führen: ¶
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I. Wollhaarige (Ulotriches);
a) Büschelhaarige (Lophocomi): Hottentoten, Papua;
b) Vlieshaarige (Eriocomi): Neger, Kaffern.
II. Schlichthaarige (Lissotriches);
a) Straffhaarige (Euthycomi): Australier, Hyperboreer, Amerikaner, Malaien, Mongolen;
b) Lockenhaarige (Eupeocami): Drawida, Nuba, Mittelländer.
Die Merkmale, nach welchen das menschliche Geschlecht in Rassen einzuteilen ist, können unterschieden werden in anatomische, physische, physiologische und physiognomische. Hier, wo es sich um die Form des Schädels, den Gesichtswinkel, die Insertionsweise der Zähne, [* 30] die Verhältnisse des Körpers, um Hautfarbe, Stellung, Form und Farbe der Augen und Haare, Bartbildung, um Blutumlauf, Atmung, Verdauung, um Gesichtsausdruck, Gesten, Mienenspiel etc. handelt, hat die Anthropologie einzutreten und der Ethnographie vorzuarbeiten. Es schließt sich hieran die Beachtung der sprachlichen Merkmale, die in der Ethnographie oft von großer Wichtigkeit bezüglich der Verwandtschaft der Völker werden können, im allgemeinen aber in unsrer Wissenschaft sekundäre Bedeutung haben.
Die Sprache [* 31] gehört nicht zu den natürlichen, einer Rasse, einem Volk oder Individuum inhärierenden Charakteren. Sie wird nicht ererbt, sondern erlernt, und ihr Wechsel bei ganzen Völkern wie bei Individuen ist eine bekannte Thatsache. Ähnlich verhält es sich mit der Religion, welche für die Klassifikation der Völker ohne Wert ist, so bedeutsam sie auch für die Ethnographie im allgemeinen erscheint. Von speziellem Wert für die Ethnographie ist die Beobachtung des Typus, welcher einer Bevölkerung [* 32] eigen ist, wiewohl zur Würdigung dieser feinen, fast unmeßbaren Nüancen eine sehr gute Beobachtung nötig ist; neben dem Nationaltypus finden der Klassen- und Ständetypus ihre Würdigung.
Auch die geistige und moralische Begabung gehören wie Fehler, Mängel und Gebrechen hierher. Dieselben sind teils allgemeiner, teils lokaler Natur, und erstere, wenn sie bei der großen Mehrheit der Bewohner eines Landes sich finden, bilden in ihrer Gesamtheit den Nationalcharakter, wie man z. B. vom Handelsgeist und dem kolonisatorischen Geschick der Engländer, vom Schachergeist der Juden redet. Die Rassen als solche sind geistig mehr oder minder begabt, und eine Abschätzung nach ihrem Wert in dieser Beziehung gehört ebensowohl in den Rahmen der Ethnographie wie die Beachtung der pathologischen Eigentümlichkeiten, die Neigung zu Mißbildungen, Affektionen und Krankheiten, die mit den klimatischen Verhältnissen oder der Rasse zusammenhängen (Kropf, Albinismus, Ophthalmie, Aussatz, Elefantiasis, Fieber, Schwindsucht).
Unter den sprachlichen Erwägungen, welche für die Ethnographie von Wert sind, haben wir zunächst die Frage nach der Verwandtschaft der Sprache zweier Völker ins Auge zu fassen, wobei eine bloße (oft zufällige) Übereinstimmung einzelner Wörter keineswegs genügend erscheint; ebensowenig kann ein Kriterium der Verwandtschaft in der Bildungsweise zweier Sprachen liegen, welche nur ein bestimmtes Entwickelungsstadium bezeichnet. Die genetische Übereinstimmung zweier Sprachen wird nur dargethan, wenn Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in ihrem grammatischen Bau und in ihren Grundbestandteilen, den Wurzeln, vorhanden sind.
In das Gebiet der Ethnographie gehörten ferner die geographische Ausdehnung [* 33] und Begrenzung der Sprachen (Sprachgebiete) sowie die Frage nach der Koexistenz verschiedener Sprachen, denn in Gebieten mit scharf getrennten Kasten und Klassen können auf demselben Gebiet zwei oder mehr Sprachen vorkommen: das Idiom der Eroberer und dasjenige der Besiegten, oder die Sprache der höhern Kasten und diejenigen der untern Volksklassen. So gibt es Rangsprachen in China; [* 34]
bei den Kariben war eine Weibersprache neben der Männersprache bekannt. Im Anschluß hieran hat die Ethnographie sich mit der Zeichen- und Gestensprache nach Art der Taubstummen, wie sie z. B. bei den amerikanischen Indianern gebraucht wird, sodann mit den Anfängen und Substituten der Schrift sowie mit dieser selbst zu befassen, und oft kann es von Wichtigkeit sein und ethnographische Aufschlüsse herbeiführen, wenn die Zahlensysteme verschiedener Völker miteinander verglichen werden. Es gibt Völker, die nur 1, 2, 3 zählen und alles darüber Befindliche mit »viel« bezeichnen, während andre nach dem Dezimal-, wieder andre nach dem Vigesimalsystem rechnen.
Kerbhölzer, die Wampumgürtel der Indianer und Knotenschnüre (Quipus) der alten Peruaner sind hierher gehörige primitive Mittel, um Mitteilungen und Zählungen oder Rechnungen zu machen, wo Schrift und Ziffern fehlen.
Von der allergrößten Wichtigkeit ist das Studium der Sitten und Gebräuche eines Volkes, insofern aus denselben auf Ursprung und Vergangenheit geschlossen werden kann. Eingelebte Gebräuche bleiben lange erhalten, und alle haben oder hatten einmal, so sonderbar sie auch jetzt erscheinen mögen, Sinn und Berechtigung. Selbst nachdem der Ideenkreis, die Weltanschauung eines Volkes sich ganz geändert haben, bleiben sie. Zu unterscheiden ist zwischen natürlichen Gewohnheiten und Nachahmungen.
Die erstern sind die Folgen gegebener Verhältnisse, finden sich daher bei allen Völkern auf gleicher Kulturstufe oder unter den nämlichen Lebensbedingungen. Diese Sitten haben den Wert eines deskriptiven Elements, eines charakteristischen Bestandteils der Volksbeschreibung, während den Nachahmungen bloß historische Bedeutung zukommt. Es wäre aber ein großer Fehlschluß, aus Übereinstimmung und Ähnlichkeit [* 35] in den Anschauungen und Gebräuchen räumlich weit voneinander getrennter und ethnisch verschiedener Völker sofort auf Verwandtschaft derselben oder Entlehnung solcher Sitten und Vorstellungen schließen zu wollen. Je weiter und eingehender man eine solche Sitte oder Anschauung über die Erde verfolgt, desto häufiger zeigt sich das unabhängige Entstehen derselben, und wir gelangen zu dem Schluß, daß zur Erläuterung derartiger Übereinstimmungen, bei denen Entlehnung ausgeschlossen ist, auf die psychologischen Anlagen des Menschen zurückgegangen werden muß.
Wie die Menschen gleich sehen, hören, schlafen, essen, so sind auch ihre geistigen Funktionen in ihren wesentlichen Zügen dieselben, allerdings nach Rasse und Lebensraum variierend. Die menschliche Natur zeigt sich überall als dieselbe, und Menschen wie Völker besitzen, wenn sie auf derselben gleichartigen Entwickelungsstufe angelangt sind, unabhängig voneinander dieselben Ideen und technischen Fertigkeiten. Überall ist der zugehauene Feuerstein die ursprüngliche Waffe oder das erste Gerät;
die Anfänge der Töpferei sind überall gleich;
der Tumulus hat in Europa [* 36] die gleiche Form wie in Nordamerika; [* 37]
der Glaube an gute und böse Tage (Tagewählerei) ist über die ganze Erde verbreitet, wie die Vorstellung, daß Menschen sich zeitweilig in Tiere verwandeln können (Werwolf);
überall kommt der Vampiraberglaube vor;
Speiseverbote finden sich bei den meisten Völkern.
In das Gebiet der Ethnographie fallen hier eine große Zahl von Einzelerscheinungen, welche an und für sich vielleicht unwesentlich ¶