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Ist in Byron ein dämonischer Ehrgeiz, also eine Äußerung der entschiedensten Selbstsucht, eins der hervorstechendsten Charaktermerkmale, so ist das Auszeichnende in Shelleys Poesie und Person (nach Leigh Hunts treffenden Worten) eine außerordentliche Sympathie mit der gesamten materiellen und intellektuellen Welt, ein glühendes Verlangen, seinem Geschlecht Gutes zu thun, ungeduldiger Zorn über die Tyrannei und den Aberglauben, die es in Fesseln halten, und Bedauern darüber, daß die Kraft [* 2] eines liebevollen und enthusiastischen Individuums mit seinem Willen nicht im Verhältnis steht. Der Hauptmangel an Shelleys Dichtungen, als deren vorzüglichste wir »Queen Mab«, »Alastor, or the spirit of solitude«, die Dramen »Prometheus unbound«, »Hellas«, »The Cenci« und das in Spenserstanzen abgefaßte Gedicht »The revolt of Islam« (12 Gesänge) anführen, ist eine gewisse lyrische Zerflossenheit und eine Vorliebe für mystisch-spekulative, überhaupt philosophische Abschweifungen.
Innerhalb der Entwickelung der englischen Litteratur nach Byrons Tod ist es nicht leicht, bestimmte, scharf begrenzte Richtungen und Strömungen herauszuheben. Wie überall, ist auch auf diesem Gebiet die Massenproduktion Zeichen des 19. Jahrhunderts. Erst Spätern wird es vollständig gelingen, Spreu und Weizen zu sondern und dem Verdienst die rechte Stelle zuzuweisen. Was das Epos betrifft, so scheint seine Zeit dahin zu sein; die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts erstickt diese Pflanze, die Ruhe und Geduld, beschauliche Behaglichkeit erfordert und im Zeitalter des Dampfes verschmachtet. An seine Stelle ist der Roman getreten. Keine Litteraturgattung hat seit dem Schluß des 18. Jahrh. in England so eifrige und erfolggekrönte Pflege gefunden wie er. Mancherlei Fäden führen auf diesem Gebiet aus dem vorigen Jahrhundert in das unsrige. Vor allen steht Walter Scott als Vertreter des historischen Romans. Er fand zahlreiche Nachahmer. Sein Schwiegersohn John Gibson Lockhart (gest. 1854) behandelte in »Valerius« einen römischen Stoff aus der Zeit des Trajan, Mrs. Johnstone (gest. 1857) in »Clan Albyn« Hochlandsszenen; Susan Ferrier (gest. 1854) und Thomas Dick Lauder (gest. 1848) wählten ihre Stoffe aus derselben Region.
Alle überragt Edward Lytton Bulwer (Lord Lytton, 1803-73) mit »The last days of Pompeii« und »Rienzi«. Aber neben dem historischen Roman stand noch der Sittenroman, wie ihn ein Smollet, Fielding, Goldsmith gepflegt, in alter Herrlichkeit, und auch ihm wurde eifrige Pflege zu teil. Derselbe Bulwer greift in »Pelham«, »The disowned«, »Eugene Aram«, »Devereux« mit glücklicher Hand [* 3] in das englische Volksleben und weiß mit genauer Menschenkenntnis und scharfem Blick selbst für entlegene Zustände fesselnde Bilder zu zeichnen.
Mit derber Komik begabt, dabei äußerst drastisch, oft aber nicht minder zart und rührend ist Charles Dickens (1812-1870). Seine Weihnachtsmärchen, besonders »Christmas carol« und »The cricket on the hearth«, sind von äußerster Anmut; unter seinen umfangreichern Romanen bezeichnet »David Copperfield« unstreitig den Höhepunkt. Der dritte Vertreter des Sittenromans ist William Makepeace Thackeray (gest. 1863),
dessen »Vanity fair« und »History of Arthur Pendennis« reich an Satire, zuweilen auch voll bittern Hohnes sind. Ihnen folgen viele Autoren, besonders Damen: Charlotte Bronté (Currer Bell, gest. 1855) mit »Jane Eyre«, Elizabeth Gaskell (gest. 1865) mit »Mary Barton«, endlich die überaus fleißige Margaret Oliphant (geb. 1818) und Mrs. Craik (Dinah Maria Mullok, geb. 1826). Sie alle übertrifft jedoch an Feinheit der Charakteristik, durch treue Darstellung des englischen Landlebens George Eliot (Mary Anne Evans, 1829-80) mit »Adam Bede«, »The min on the floss«, »Middlemarch« u. a. Neben ihr verdient Harriet Martineau (gest. 1876) Auszeichnung, die sich durch treffliche Erzählungen (»Illustrations of political economy«, »Poor laws and paupers« etc.) um die Verbreitung volkswirtschaftlicher Prinzipien verdient machte. Unter den Schriftstellern seien nur Anthony Trollope (gest. 1882),
George Macdonald (geb. 1824) und W. Black (geb. 1841),
der Verfasser von »A daughter of Heth«, endlich W. H. Ainsworth (gest. 1882) erwähnt, welch letzterer die Romantik nach der Seite des Schauerlichen verzerrte und in seinen Romanen (»Jack Sheppard«, »Guy Fawkes«) erfolgreich auf die Gänsehaut des Lesers spekuliert. Er hatte seiner Zeit ein großes Publikum und infolgedessen viele Nachtreter, die den Sensationsroman mit vielem Behagen kultivierten. Unter den letztern sind besonders Wilkie Collins (geb. 1824) und Mary Elizabeth Braddon (geb. 1837), daneben Louise de la Ramé (Pseudonym Ouida, geb. 1840) auszuzeichnen. Benjamin Disraeli (Lord Beaconsfield, gest. 1882) behandelte im Roman Zeitfragen, machte ihn also sozialen und politischen Zwecken dienstbar; in ähnlichen Bahnen wandelte Samuel Warren (gest. 1877), der seinen starren Toryismus in breitester Weise zum Vortrag bringt. Doch noch ein dritter Faden [* 4] bindet den Roman der Gegenwart an das vorige Jahrhundert. Es ist der geographische Roman, der, von neuen Reisen und Entdeckungen begünstigt, an Defoes und seiner Nachfolger Werke anknüpft. Die verschiedensten Gegenden, die entlegensten, darum aber mit um so größerm Zauber der Phantastik umwobenen Länder bilden den Schauplatz dieser Romane. James Morier (gest. 1849) verlegt seine Erzählungen (»Journey through Persia«, »The adventures of Haji Baba of Ispahan«) nach Persien [* 5] und entwickelt eine überraschende Kenntnis orientalischer Zustände; Thomas Hope (gest. 1831) verlegt seinen »Athanasius« nach Griechenland; [* 6] James B. Fraser (gest. 1856, »The Kuzzilbash«) macht sich wieder den Orient nutzbar, Edward John Trelawney (gest. 1881) Ostindien [* 7] und andre Länder, während andre, wie Crofton Croker (gest. 1854), die Zustände der grünen Nachbarinsel, John Galt (gest. 1839) und John Wilson (gest. 1854) Schottland für ihre Novellistik verwerteten. Nahe verwandt mit diesen Erzeugnissen ist der Seeroman, dessen hervorragender Vertreter der biedere Kapitän Marryat (gest. 1848) ist; auch der eben genannte Wilson (»Tom Cringle's log«) leistet in dieser Richtung Vortreffliches. Aufmunternd und fördernd für die Novellistik waren von jeher die periodischen Zeitschriften, deren es eine große Anzahl gibt; nicht minder einflußreich waren sie für den Essay. So erschienen die kritischen, historischen und biographischen Abhandlungen des großen Geschichtschreibers Macaulay (gest. 1859) in der »Edinburgh Review«, einer der ältesten unter den jetzt existierenden Zeitschriften. Neben ihr stehen die »Quarterly Review«, »Westminster Review« u. a. Mit Macaulay treten wir den historischen Schriftstellern nahe, unter denen Thomas Carlyle (gest. 1881) mit seinem »Life of Schiller« noch der schönen Litteratur angehört.
Auf dem Gebiet der Lyrik waren Burns und Thomas Moore tonangebend geblieben. Ihnen nach strebt eine Schar rüstiger Talente, von denen nicht wenige Hervorragendes wenigstens nach Einer Richtung hin geleistet haben. So zeichnete sich Thomas Hood (gest. ¶
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1845) durch komische Dichtungen aus; aber schon bei ihm wirft sich die Muse zur Beschützerin der gesellschaftlichen Parias auf: sein »Song of the shirt« tritt für die bedrängte Lage der armen Handarbeiterin ein, während Ebenezer Elliott (gest. 1849) die Not der arbeitenden Klasse überhaupt zum Mittelpunkt seiner Poesie macht und in seinen gegen die Korngesetze gerichteten Dichtungen, die ihm den Namen des »Cornlaw-rhymer« eintrugen, sich erfolgreich auf das politische Gebiet wagt.
Aus der großen Schar der übrigen lyrischen und lyrisch-epischen Dichter der neuesten Zeit heben sich als bedeutendere Gestalten heraus: der gegenwärtige Kronpoet (poet laureate) Alfred Tennyson (geb. 1809, »Lockley's Hall«, [* 9] »The princess«, »Idylls of the king« etc.),
Robert Browning (geb. 1812, »Bells and pomegranates« u. a.) und seine Gattin Elizabeth (gest. 1861),
James Bailey (geb. 1816, »Festus«),
William Englische [* 10] Aytoun (gest. 1865),
»Lays of the Scottish cavaliers«),
Edward Robert Lord Lytton (geb. 1831), Rob. Buchanan (geb. 1841); ferner die Häupter der jüngsten englischen Dichterschule: Algernon Ch. Swinburne (geb. 1837) und William Morris (geb. 1834).
Was das Drama betrifft, so tritt uns zunächst Joanna Baillie (gest. 1851) mit einer Reihe von Dramen entgegen, in denen sie sich die Entwickelung einzelner Leidenschaften zur Aufgabe macht; doch blieben ihre Stücke, als deren bedeutendstes »De Montfort« gilt, auf der Bühne wirkungslos. Auch das aufsehenerregende Drama »The bride's tragedy« von Th. Lovell Beddoes (gest. 1849) war mehr ein Lesedrama. Die oben genannte Elizabeth Browning knüpft den schon von Byron aufgenommenen Faden des mittelalterlichen Mysteriums wieder an: ihr »Drama of exile« legt in die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies den Gedanken an das schwindende Jugendideal. Dem griechischen Altertum sind Thomas Noon Talfourds (gest. 1854) »Ion« und »The Athenian captive« angelehnt, doch blieben sie ohne Einfluß auf die Entwickelung des Dramas. Wichtiger sind die historischen Trauerspiele eines Henry Taylor (geb. 1800, »Isaac Comnenus«, »Philip van Artevelde«, »Edwin the Fair«),
denen sich der »Virginius« von J. ^[James] Sheridan Knowles (gest. 1862) und der »Rienzi« der Mary Mitford (gest. 1855) anschließen. Neben dieser historischen Richtung besteht eine philosophische, als deren Hauptrepräsentant Robert Browning (»Paracelsus«, »Sordello«) zu nennen ist. Von Lytton Bulwers Dramen gefiel die Komödie »The lady of Lyons« am meisten. John O'Keefe (gest. 1833) verstand die Kunst, leichte, humoristische Stücke zu schreiben, die das Volk belustigten und die kleinern Theater [* 11] füllten. In demselben Genre zeichneten sich George Colman der jüngere (gest. 1836, »The poor gentleman«, »John Bull«),
Thom. Holcroft (gest. 1809, »The road to ruin«),
Fr. Reynolds (gest. 1841) u. a. aus. In neuester Zeit errangen Tom Taylor (gest. 1880) mit seinen Lustspielen und historischen Dramen und T. Robertson (gest. 1871) mit seinen Komödien (»Society«, »Caste«, »School«, »Ours« etc.) Erfolge. Unter der großen Zahl der sogen. Denker (thinkers),
wie diejenigen in England genannt werden, welche für die Komposition kleiner Bühnenstücke an den Theatern angestellt sind, verdienen Erwähnung: John Tobin (gest. 1804, »The honeymoon«),
Th. Morton (gest. 1838), Douglas Jerrold (gest. 1857) u. a. Auch W. Scott, Dickens u. a. wurden mit Erfolg dramatisiert. Aber keinem der genannten Dichter ist es gelungen, eine neue, lebenskräftige dramatische Form zu finden, und eine nationale Bühne gibt es in England seit Shakspeares ^[richtig: Shakespeares] Zeiten nicht mehr. Das einzige Genre, in welchem die moderne englische Dramatik noch gewissermaßen schöpferisch auftritt, sind die sogen. burlesque extravaganzas (Pantomimen und Burlesken); hierin war der Schauspieler Henry James Byron (gest. 1884) besonders beliebt und fruchtbar.
Wissenschaftliche Litteratur.
Philosophie.
Die insulare Lage hat in England wie überhaupt eine eigentümliche Geistesrichtung, so auch von früh an eine eigenartige Philosophie erzeugt, welche auf dem Kontinent mehr Anregungen hervorgebracht, als, mit wenigen Ausnahmen, von dorther empfangen hat. Dieselbe hat auf der britischen Insel schon zur angelsächsischen Zeit Pfleger gefunden: sowohl Beda Venerabilis (gest. 735) als Alkuin (gest. 804), der Freund Karls d. Gr., waren jener irischer, dieser englischer Abkunft.
Auch der Vater der Scholastik, Joh. Scotus Erigena (gest. 877), war auf britischer Erde geboren; der Piemontese Anselm (gest. 1109), der Erfinder des ontologischen Beweises, starb als Erzbischof von Canterbury. An dem Kampf des Nominalismus und Realismus nahmen die Engländer Johann von Salisbury (gest. 1180), Abälards Schüler, der zwischen beiden eine Vermittlerrolle spielt, und Alexander von Hales (gest. 1245), welcher zuerst die Kenntnis arabischer Philosophen im Abendland verbreitete, teil. Den Thomismus bekämpften der das Studium der Natur und der Mathematik dem des Aristoteles vorziehende Mönch Roger Bacon (1214-94) und der feurige Dialektiker (Doctor subtilis) Johannes Duns Scotus (gest. 1308), während Wilhelm von Occam (gest. 1347) und Robert Holkot (gest. 1349) den Nominalismus, letzterer namentlich gegen den Erzbischof von Canterbury, Thomas Bradwardine, zur Herrschaft brachten. Hauptsitz der Scholastik blieb Oxford; [* 12] in Cambridge faßte der Neuplatonismus der Renaissancezeit Fuß, aus welchem später durch Henry More (gest. 1687) und Ralph Cudworth (gest. 1688) das Studium der Kabbala und der Mystizismus hervorgingen, während der Arzt Robert Fludd (um 1617) die Naturphilosophie des Paracelsus und der Schwärmer John Pordage (gest. 1698) die Theosophie Jakob Böhmes nach England verpflanzten, welche in Bromley und John Leade begeisterte Anhänger fand.
Francis Bacon von Verulam (1561-1626) suchte durch sein »Novum organon« und seine »Instauratio magna scientiarum« eine Reform des Wissens und der Wissenschaft auf Grundlage der Erfahrung als einziger Erkenntnisquelle herbeizuführen und ist dadurch der Begründer einer englischen »Nationalphilosophie«, wie sein Gegner Lord Herbert von Cherbury (1581-1648),
welcher die allgemeine Übereinstimmung auf Grund der allen gemeinsamen Vernunft als oberstes Kriterium der Wahrheit ansah, der Begründer einer »rationalen« Philosophie in England geworden. Des erstern Erfahrungsphilosophie wurde von Thomas Hobbes (1588-1679); welcher nur den äußern Sinn als Erkenntnisquelle gelten ließ und demgemäß alles Wirkliche in natürliche (Naturkörper) und künstliche Körper (Staat) einteilte, zum Sensualismus und Materialismus, von John Locke (1632-1704), der neben dem äußern Sinn (sensation) auch einen innern (reflection) zuließ, zum Empirismus fortgebildet. Des letztern Rationalismus hat als rationale Metaphysik ¶