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zusammengestellten Tafeln der Hafenzeiten und Flutwechsel ergeben außerordentliche Verschiedenheiten der Gezeitenverhältnisse der einzelnen Küstenpunkte. Die Konfiguration der Küsten und die Tiefenverhältnisse üben einen so komplizierten Einfluß auf diese Verhältnisse aus, daß eine Zusammenstellung nicht viel zur Erkenntnis der Erscheinung beizutragen vermag. Die Weltkarten mit Linien gleicher Hochwasserzeit (Isorachien, cotidal lines) geben kein richtiges Bild und lassen keinen Schluß zu über ein Fortschreiten der Flutwelle im offenen Ozean.
Für den Verlauf der auf flachem Wasser angelangten Welle im Bereich einzelner Küstenabschnitte gewinnt man dagegen aus den Hafenzeiten und Fluthöhen interessante Aufschlüsse. So läßt sich an den europäischen Küsten verfolgen, wie die Flutwelle in den Englischen Kanal [* 2] eindringt und durch die Straße von Dover [* 3] bis zur holländischen Küste fortschreitet, während im Norden [* 4] eine Welle in die Nordsee eintritt, welche regelmäßig an der Ostküste von Schottland und England nach Süden fortschreitet und bis vor die Themse gelangt. Wahrscheinlich gibt diese nördliche Welle allein den Impuls für die Gezeitenerscheinungen der deutschen Küsten. Für die vorliegenden Inseln ergeben sich hier folgende Hafenzeiten und mittlere Fluthöhen:
Hafenzeit | Flutwechsel | |
---|---|---|
Borkum | 10 Uhr 26 Min. | 2.5 Meter |
Juist | 10 Uhr 36 Min. | 2.3 Meter |
Norderney | 10 Uhr 53 Min. | 2.4 Meter |
Baltrum | 11 Uhr 12 Min. | 2.4 Meter |
Langeroog | 11 Uhr 17 Min. | 2.4 Meter |
Spikeroog ^[richtig: Spiekeroog] | 11 Uhr 14 Min. | 2.6 Meter |
Wangeroog | 11 Uhr 19 Min. | 2.5 Meter |
Helgoland | 11 Uhr 30 Min. | 2.1 Meter |
Die folgenden Daten für einige deutsche Häfen lassen erkennen, wie das Eintreten des Hochwassers in flachem Wasser verzögert wird, während der Flutwechsel bei Kontraktion der Ufer in der Regel zuerst zunimmt, weiterhin aber in den Flüssen schnell kleiner wird:
Hafenzeit | Flutwechsel | |
---|---|---|
Emden | 0 Uhr 17 Min. | 2.8 Meter |
Leer | 1 Uhr 35 Min. | 2.0 Meter |
Wilhelmshaven | 0 Uhr 50 Min. | 3.5 Meter |
Bremerhaven | 1 Uhr 4 Min. | 3.3 Meter |
Brake | 2 Uhr 50 Min. | 3.0 Meter |
Tönningen | 1 Uhr 27 Min. | 2.6 Meter |
Elbe: | ||
Kuxhaven | 0 Uhr 49 Min. | 2.8 Meter |
Brunsbüttel | 1 Uhr 53 Min. | 2.7 Meter |
Glückstadt | 2 Uhr 52 Min. | 2.9 Meter |
Brunshausen | 3 Uhr 51 Min. | 2.8 Meter |
Hamburg | 5 Uhr 10 Min. | 1.9 Meter |
Die höchsten Fluten an der europäischen Küste beobachtet man im Bristolschen Kanal. In Bristol selbst (Cumberland Dock) [* 5] beträgt der Flutwechsel 9,6 m, bei Portishead sogar 12,2 m. Nicht minder bemerkenswert ist der Flutwechsel im Golf von St.-Malo (Flutwechsel bei Springzeit St.-Malo 10,7, Cancale 11,3 m). Die höchsten Fluten sind in der Fundybai (Neuschottland) beobachtet zu 15,4 m (in der Noëlbai), und an der Ostküste von Patagonien kaum minder hohe (Puerto Gallegos 14,0, Santa Cruz-Fluß 12,2, Eingang der Magelhaensstraße bis 13,4 m). Auch außerhalb des Atlantischen Ozeans werden beträchtliche Fluthöhen angetroffen, so im Golf von Cambay (Vorderindien) bis 9,1 m, an der Nordwestküste von Australien [* 6] in der Hannoverbai bis 11,6 m, auch für die Küste von Korea im Saleefluß wird der Flutwechsel zu 11,3 m angegeben. Dem gegenüber finden sich an den frei liegenden Inseln inmitten des Ozeans überall nur geringe Fluthöhen, welche nur sehr vereinzelt 2 m erreichen oder um ein Geringes übersteigen.
Die Gezeiten ganz oder teilweise abgeschlossener Wasserbecken bietenden Beleg dafür, daß der Ursprung der u. F. nicht aus dem Südozean hergeleitet werden muß, wie man früher für erforderlich hielt, sondern daß sich dieselben auch ganz lokal selbständig entwickeln können. Die u. F. im Michigansee sind in dieser Beziehung beachtenswert. Bei Chicago beträgt der Flutwechsel bei Springflut 73 mm, bei Nippflut 37 mm, bei Milwaukee 27 und 10 mm. Das Verhältnis der Sonnenflut zur Mondflut findet sich gleich 1:2,19 für Milwaukee. Die Hafenzeit beträgt ½-1 Uhr. [* 7]
In der Ostsee sind die Gezeiten bisher nur aus sehr lückenhaftem Material nachgewiesen. Erst in neuester Zeit ist der Anfang gemacht, mit Hilfe selbstregistrierender Pegel genauere Daten zu gewinnen. Von Kiel [* 8] bis Memel [* 9] ist aber das Vorhandensein wirklicher u. F. hinlänglich nachgewiesen. Hagen [* 10] fand die Springflutgröße von Rügen bis Memel von 7-1 cm abnehmend und die Hafenzeiten von Westen nach Osten sich verspätend. Die halbmonatliche Ungleichheit fand Hagen größer als im Atlantischen Ozean. Die zuverlässigsten Werte sind nach neuern Angaben:
Hafenzeit | Flutwechsel | |
---|---|---|
Marienleuchte auf Fehmarn | 5 Uhr 45 Min. | 60 Millim. |
Arkona auf Rügen | 8 Uhr 35 Min. | 20 Millim. |
Swinemünde | 11 Uhr 30 Min. | 18 Millim. |
Wie weit in der Ostsee eine selbständige u. F. vorhanden ist, läßt sich noch nicht mit Sicherheit angeben; im westlichen Teil ist die durch die Belte zu verfolgende Flutwelle jedenfalls von überwiegendem Einfluß.
Auch im Mittelländischen Meer sind u. F. vorhanden und betrugen an einzelnen Orten über 1 m. Im Adriatischen Meer steigt die Flutgröße von 6 cm bei Korfu [* 11] bis 6 Dezimeter bei Triest [* 12] an und verspätet sich auf dieser Strecke über 5 Stunden.
Eine besonders merkwürdige Gezeitenerscheinung ist die der brandenden Flutwelle, welche am bekanntesten ist unter der englischen
Bezeichnung bore oder der französischen mascaret, Bezeichnungen, welche speziell von den Anwohnern des
Hugli, bez. der
Gironde für die in diesen
Flüssen auftretenden
Erscheinungen dieser Art herrühren. Im Bristolschen
Kanal, in der
Seinemündung, in der Mündung des
Amazonenstroms und in vielen andern Flußmündungen beobachtet man Ähnliches, sobald die
Flutwelle ein starkes
Gefälle zu überwinden hat und sehr schnell auf flaches
Wasser gelangt, wo die Tiefe
ihrer
Geschwindigkeit nicht mehr entspricht. So beschreibt
Lentz
(»Flut und Ebbe und die
Wirkungen des
Windes auf den Meeresspiegel«,
Hamb. 1879) die Flutwelle im Bristolschen
Kanal: »Die Springflutgröße bei
Lundy
Island
[* 13] beträgt 27 engl.
Fuß und nimmt bis
Kingsroad an der Mündung des
Avon unausgesetzt zu, indem der
Scheitel der Flutwelle sich hebt, ihr
Fußpunkt
sich senkt. Zugleich mit der
Größe wächst die
Geschwindigkeit der
Welle und steigert sich von 36 bis auf 49
Seemeilen in der
Stunde. Bei
Severn Lodge stößt die
Welle auf die
English
Stones und findet auch weiter aufwärts nur einen
seichten
Fluß mit starkem
Gefälle. Der Wellenscheitel fährt fort, sich zu heben, der
Fußpunkt kann sich nicht mehr senken,
sondern liegt bei Sharpneß schon etwa 14, bei Newnham etwa 28
Fuß höher als bei Kingsroad. Die Flutgröße hat bis Sharpneß
auf 29, bis Newnham auf 16
Fuß, die
Geschwindigkeit der
Welle erst auf 21 und bei Newnham auf 9
Seemeilen
abgenommen.
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Diesen gewaltigen Änderungen vermag sich die Flutwelle nicht zu unterziehen, ohne gleichsam Beschädigungen davonzutragen. Auf dem steinichten Flußbett findet sie nicht das zur Bildung ihres Fußes erforderliche Wasser, der nachdrängende Teil der Welle überholt den verkümmerten Fuß, und statt mit einer sanft geneigten Ebene beginnt die Welle mit einer schäumenden Wassermasse von 2-4 Fuß Höhe, welche auf der Strecke von Sharpneß bis Newnham und weiter tosend flußaufwärts eilt. Schon aus weiter Ferne hört man das Brausen des ankommenden Bore, es steigert sich von Sekunde zu Sekunde bis zum Geräusch eines mächtigen Wasserfalles; endlich sieht man eine weiße, quer über den ganzen Fluß reichende Masse sich nähern, und nach wenigen Augenblicken ist der bis dahin regungslose Wasserspiegel in eine wild bewegte See verwandelt. Von nun an steigt das Wasser mit großer Schnelligkeit, nach wenigen Minuten verhallt das Lärmen des aufwärts rückenden Bore in großer Ferne, und die weitere Entwickelung der Flut nimmt ihren regelmäßigen Verlauf.« Einen regen Aufschwung hat die Untersuchung der u. F. in neuester Zeit genommen durch die Bearbeitung der mittels selbstregistrierender Pegel (Mareographen) erhaltenen Wasserstandskurven nach einer von Sir William Thomson angegebenen Methode, der sogen. harmonischen Analyse.
Die so aufgezeichneten Wasserstandsschwankungen lassen sich nämlich ansehen als entstanden durch Superposition von Oszillationen verschiedener Amplitude und Dauer, die alle das Gesetz der Pendelschwingungen befolgen. Jede Oszillation entspricht einem Element der Mond- oder Sonnenbahn; die zugehörige Dauer ist also Voraussetzung der Theorie, während die Amplitude aus den Beobachtungen ermittelt werden muß. Wenn man nun aus einer längern Beobachtungsreihe für die wichtigsten Bahnelemente von Sonne [* 15] und Mond [* 16] die Konstanten empirisch festgestellt hat, so kann man aus diesen Konstanten für eine andre Zeit die zu erwartenden Wasserstandskurven im voraus konstruieren. Für eine große Anzahl von Orten ist diese Operation ausgeführt zum Teil mit Hilfe eines sinnreichen Mechanismus, des Tidepredicter, welcher in der Nautical Almanach Office zu London [* 17] aufgestellt ist.
Diese Berechnungen sind für die Physiker von besonderm Interesse geworden wegen der Schlüsse, welche man aus den Gezeitenerscheinungen auf die Konstitution des Erdinnern zu ziehen versucht hat. Sir W. Thomson hat gezeigt, daß eine elastische Kugel von der Größe der Erde, selbst wenn sie so hart wie Stahl oder Glas [* 18] wäre, immer noch durch die Gezeiten erregenden Kräfte periodische Deformationen erleiden muß. Besteht nun die Erde im Innern aus einer homogen-elastischen Masse, so beobachten wir bei der u. F. des Ozeans nur die Differenz zwischen der Deformation des Erdkörpers und der flüssigen Hülle.
Auf einem vollkommen starren Erdkern dagegen müssen die Wassergezeiten in ihrem Verlauf in viel vollkommenerm Maß die Bewegung des Mondes und der Sonne widerspiegeln. Wegen der unregelmäßigen Gestalt der Meeresbecken sind nun die Oszillationen kurzer Periode von Reflexionserscheinungen zu stark beeinflußt, um für diese Untersuchungen Verwendung zu finden. Man hat daher mit Hilfe der harmonischen Analyse nach den Oszillationen langer Periode geforscht (z. B. nach den von der wechselnden Entfernung der Gestirne abhängigen, also halbmonatlichen und halbjährlichen). Es scheint aber bisher nicht gelungen zu sein, solche irgendwo sicher nachzuweisen. Daraus ist der Schluß gezogen worden, daß die Erdoberfläche sich selbst mit dem darauf befindlichen Meer auf und ab bewegt und zwar in solchem Maß, daß man das Erdinnere nicht als starr anzunehmen berechtigt ist. Jedoch mag es sein, daß die bisher zu Grunde gelegten Beobachtungsorte nicht genügend reine Gezeitenerscheinungen zur Anschauung gebracht haben.
Der Reaktion der u. F. schreibt man auch die Verzögerung der Umdrehungsgeschwindigkeit, also das langsame Wachsen der Tageslänge zu, welche aus Vergleichung astronomischer Beobachtungen neuester Zeit mit ältern konstatiert ist. Die Flutwelle bleibt mit ihrem Scheitel hinter dem Meridian des fluterregenden Gestirns zurück wegen der Reibung. [* 19] Auf dieser Seite des Meridians ist also mehr Masse vorhanden, und indem der störende Körper dort infolgedessen kräftiger wirkt, übt er einen verzögernden Einfluß auf die Erdrotation aus.
Ist die Deformation des Erdkörpers sehr bedeutend, so wird auch die Veränderung verhältnismäßig rasch verlaufen, und in größerm Maß, als der Mond auf die Erde, wird die Erde auf den Mond wirken. Unter Annahme sehr günstiger Voraussetzungen über die Konstitution des Erdinnern ist berechnet worden, daß vor 56 Mill. Jahren der Tag nur 6 Stunden 50 Minuten lang gewesen sein, die Umlaufszeit des Mondes nur 1 Tag 14 Stunden betragen haben könne. Die Aufmerksamkeit der alten Völker ward durch das Phänomen der u. F., da es im Mittelmeer, auf welches sich ihre Schiffahrt lange Zeit beschränkte, nicht in auffallender Mächtigkeit aufzutreten pflegt, weit weniger angezogen als die der neuern.
Herodot und Diodor von Sizilien [* 20] erwähnen indes schon die im Roten Meer stattfindende »große und heftige Flut«. Strabon erklärt sich das regelmäßige Steigen und Sinken der Charybdis durch die Erscheinung der u. F., und nach Plutarch leitete Pytheas von Massilia die Flut vom Mond ab, wie auch Aristoteles ihre Abhängigkeit von der Stellung des Mondes vermutete. Als die Römer [* 21] ihre Eroberungen bis an den Atlantischen Ozean und den Kanal ausdehnten, wo u. F. in imposanter Weise auftreten, wurden sie sowohl auf die Erscheinung selbst als auf ihre Ursache aufmerksamer.
Cäsar spricht in seinen Kommentarien vom Gallischen Krieg davon und bemerkt schon, daß zur Zeit des Vollmondes die Flut besonders stark sei, und Plinius gibt nicht bloß die Beschreibung des Phänomens, sondern leitet dasselbe mit Bestimmtheit von der Anziehung der Sonne und des Mondes ab. Die Neuern versuchten zuerst durch künstliche Hypothesen die Natur des Vorganges aufzuklären. Galilei leitet die Erscheinung aus der doppelten Bewegung der Erde her; Descartes wandte sein Wirbelsystem auch auf dieses Phänomen an, und John Wallis glaubte den Grund von u. F. in der Bewegung des gemeinschaftlichen Schwerpunktes von Erde und Mond zu finden.
Kepler hebt wieder die Anziehung des Mondes als Ursache der periodischen Meeresfluktuation hervor, doch ohne dieser Erklärung viel Gewicht beizulegen. Newton brachte die Lehre [* 22] von u. F. in innigste Verbindung mit den Gravitationsgesetzen und legte dadurch die wissenschaftliche Basis für die Erklärung dieses Phänomens, auf welcher alle Neuern fortgebaut haben. Zunächst gab Halley eine durch mehrere Beobachtungen bereicherte neue Entwickelung jener Theorie; später beschäftigten sich Daniel Bernoulli, Leonh. Euler und Mac Laurin mit diesem Problem. Besonders aber hat sich Laplace um die Ausbildung der Theorie der u. F. verdient gemacht. In unserm Jahrhundert haben ¶