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Angesichts der verworrenen Verhältnisse zwischen dem Reichskanzler und dem Reichstag war es kein Wunder, wenn bei den Neuwahlen zum Reichstag 27. Okt. 1881 die regierungsfreundlichen Mittelparteien Verluste erlitten und die Opposition, welche auf das vom Reichskanzler angekündigte Tabaksmonopol als ein drohendes Gespenst hinweisen konnte, sich verstärkte. Die Nationalliberalen, von denen sich 1880 die Freihändler als liberale Vereinigung (Sezessionisten) getrennt hatten, sanken auf 47, die Reichspartei auf 25 Mitglieder herab. Sezessionisten, Fortschrittler und Demokraten zählten 110, Ultramontane, Welfen, Polen und Elsässer 138 Stimmen. Der Reichskanzler konnte nun auf gar keine sichere Majorität mehr rechnen. Um dennoch für seine Pläne die Zustimmung des Reichstags zu gewinnen, eröffnete er den neuen Reichstag 17. Nov. mit der Verlesung einer kaiserlichen Botschaft, welche demselben die Unterstützung der sozialen Reform durch Unfallversicherung, Krankenkassen, Alters- und Invalidenversorgung dringend ans Herz legte und zur Beschaffung der nötigen Mittel die Einführung des Tabaksmonopols anempfahl. In seiner ersten ordentlichen Session erledigte der Reichstag indes nur das Budget und genehmigte den Vertrag über den Zollanschluß Hamburgs. Die Frage des Tabaksmonopols wurde erst in der außerordentlichen Session im Frühjahr 1882 verhandelt. Die Abneigung gegen dasselbe war aber so allgemein und so stark, daß, obwohl die Reichsregierung den Ertrag desselben auf 165 Mill. (118 Mill. mehr, als die Tabaksteuer einbrachte) angab, selbst im Bundesrat 22 Stimmen gegen dasselbe waren, mehrere Landtage sich dagegen erklärten und sogar der von der preußischen Regierung berufene Volkswirtschaftsrat es ablehnte. Im Reichstag trat keine Partei geschlossen für dasselbe ein, und es wurde 14. Juni mit der erdrückenden Majorität von 276 gegen 43 Stimmen verworfen. Das Unfallversicherungs- und Krankenkassengesetz blieben in den Kommissionen unerledigt, und deren Arbeiten rückten auch in der Session von 1883 nicht vorwärts. Eine kaiserliche Botschaft vom 14. April 1883 mahnte den Reichstag zur baldigsten Beschlußfassung über die beiden dringend notwendigen Gesetze, und um dieselbe wenigstens für die nächste Session sicher zu ermöglichen, wurde der Reichstag aufgefordert, schon jetzt den Etat für 1884/85 durchzuberaten. Diesen Wunsch erfüllte der Reichstag und brachte auch das Krankenkassengesetz zum Abschluß. Über die Grundsätze der Unfallversicherung konnten die Parteien sich aber 1883 noch nicht einigen. Erst in der Frühjahrssession 1884 wurde das Unfallversicherungsgesetz zu stande gebracht, ebenso ein neues Aktiengesetz. Beides gelang, weil das Zentrum mit den Konservativen und Nationalliberalen dafür stimmte. Dagegen schien die Verlängerung des Sozialistengesetzes keine Aussicht auf Genehmigung zu haben, weil außer dem Zentrum und seinen Trabanten, den Polen, Elsässern und Welfen, auch die neue deutschfreisinnige Partei (104 Mitglieder) sich gegen alle Ausnahmegesetze erklärt hatte. Diese Partei war aus der Fusion der Sezessionisten mit der Fortschrittspartei (5. März 1884) hervorgegangen und hatte sich die Bildung einer großen liberalen Partei zum Ziel gesetzt; doch hatte von Anfang an die einseitig oppositionelle Richtung Eugen Richters das Übergewicht, und frühere Nationalliberale, wie Bamberger und Rickert, bekämpften die Regierung mit besonderer Schärfe. Die Verlängerung des Sozialistengesetzes wurde zwar doch bewilligt, weil ein Teil des Zentrums und der Deutschfreisinnigen aus Furcht vor einer Auflösung des Reichstags dafür stimmte. Beide Parteien hielten sich aber dann schadlos, indem sie die Annahme der Dampfervorlage in dieser Session vereitelten.
Der Reichskanzler glaubte nämlich 1884 den Zeitpunkt gekommen, um eine neue Bahn deutscher Machtentwickelung zu betreten. Das deutsch-österreichische Bündnis vom 15. Okt. 1879, 1883 erneuert, hatte sich als ein Hort der Interessen beider Mächte wie des europäischen Friedens bewährt. Italien und Rumänien hatten sich ihm angeschlossen, und auch Rußland hatte sich den beiden Kaisermächten wieder genähert. Im September 1884 fand eine zweite Dreikaiserzusammenkunft in Skierniewice statt, welche die Wiederherstellung der alten Allianz der Welt offen kundthat. Ja, trotz mancher Ausschreitungen der französischen Revanchepartei hatte sich auch Frankreich Deutschland genähert, da ihm wegen seiner kolonialen Unternehmungen die Aufrechthaltung des Friedens in Europa erwünscht war und es für seine Interessen in Ägypten in Deutschland eine Stütze fand. England dagegen hatte sich unter Gladstones Ministerium durch seine Politik in Ägypten die Mächte entfremdet und sich so isoliert, daß Bismarck von da keinen wirksamen Widerspruch gegen seine Kolonialpläne befürchten zu müssen glaubte. Wie er durch den neuen Zolltarif die Landwirtschaft und die Industrie in Deutschland geschützt und gefördert hatte, so wollte er auch die überseeischen Unternehmungen deutscher Kaufleute unter den Schutz des Reichs stellen und ihnen hierdurch eine selbständige Entwickelung ermöglichen. Eine erobernde Kolonialpolitik des Reichs selbst lag ihm durchaus fern, wie er 26. Juni im Reichstag erklärte. Den ersten Anlaß, eine überseeische Ansiedelung unter den Schutz der deutschen Reichsflagge zu stellen, bot die Handelsniederlassung des Bremer Hauses Lüderitz in Angra Pequena (s. d.). Außerdem aber beabsichtigte der Reichskanzler, durch Subvention von Schnelldampferlinien den deutschen Handel in Asien und Australien zu begünstigen. Die Vorlage hierüber wurde aber von den deutschfreisinnigen Freihändlern heftig bekämpft und in eine Kommission verwiesen, welche sie vor Schluß der Session nicht mehr erledigen konnte.
Im Oktober 1884 fanden die Neuwahlen für den Reichstag statt, bei welchen die Deutschfreisinnigen eine schwere Niederlage erlitten, weil ihr Verhalten gegen den Reichskanzler und seine neuen Pläne in weiten Kreisen gemißbilligt wurde. Sie retteten beim ersten Wahlgang nur ein Drittel ihrer bisherigen Abgeordnetenzahl und stiegen erst bei den Stichwahlen durch die Hilfe der Ultramontanen und Sozialdemokraten, denen sie gegen die Nationalliberalen anderswo Gegendienste leisteten, auf 63 Stimmen. Die Sozialdemokraten wuchsen von 10 auf 24, Zentrum, Polen und Elsässer behielten ihre Mitgliederzahl, so daß die Oppositionsparteien, die Demokraten eingeschlossen, 234 Stimmen zählten. Wenn ihre Zahl auch um etwa 30 verringert war, so hatten die der Regierung freundlichen Parteien (Deutschkonservative, Reichspartei und Nationalliberale) doch nur 160 Stimmen, also bei weitem nicht die Majorität. Namentlich war es den Nationalliberalen trotz ihrer Reorganisation auf dem Heidelberger Parteitag (23. März 1884) nicht gelungen, mehr als 53 Mandate zu erringen, da sie überall auf die Koalition der Ultramontanen, Deutschfreisinnigen und Sozialdemokraten stießen. Die oppositionelle Mehrheit ließ den Reichskanzler in der ersten Session des neuen Reichstags, welche 20. Nov. eröffnet wurde, ihre Macht
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sofort empfinden, indem sie 15. Dez. 20,000 Mk. für einen neuen Direktor im Auswärtigen Amte trotz Bismarcks persönlicher Befürwortung ablehnte. Indes über diesen Beschluß erhob sich ein solcher Sturm der Entrüstung, daß die Deutschfreisinnigen u. Ultramontanen, um einer Reichstagsauflösung vorzubeugen, ihre schroff negative Haltung nicht fortzusetzen wagten.
Dazu kam, daß der Reichskanzler, durch eine Kur neugekräftigt, wiederholt mit seiner wirksamsten Beredsamkeit eintrat und durch die Veröffentlichung der »Weißbücher« bewies, daß er auch die Kolonialpolitik mit derselben Meisterschaft leitete wie die europäische, wie denn der Zusammentritt der Congokonferenz (s. d.) in Berlin zeigte, daß Deutschlands Einfluß auch in den überseeischen Angelegenheiten von den Mächten anerkannt wurde. England hatte seinen Versuch, den deutschen Ansiedelungen an der Westküste Afrikas entgegenzutreten, aufgeben müssen. Außer dem Küstenstrich vom Kap Frio bis zum Oranje wurden hier noch Camerun und Togoland an der Guineaküste von Deutschland in Besitz genommen; in Camerun kam es im Dezember 1884 zu einem blutigen Zusammenstoß deutscher Kriegsschiffe mit den von Engländern aufgehetzten Negern (s. Camerun). Die Mittel für die Verwaltungseinrichtungen in den afrikanischen Kolonien wurden vom Reichstag 1885 bewilligt, ebenso mit Streichung der westafrikanischen Linie das Dampferunterstützungsgesetz, der neue Direktorposten und einige neue Konsulate. Ein neuer Zolltarif, welcher die industriellen und besonders die landwirtschaftlichen Zölle erheblich erhöhte, gelangte durch die Hilfe des Zentrums zur Annahme. Auch wurden ein Börsensteuergesetz und der Zollanschluß Bremens genehmigt, so daß trotz der ungünstigen Parteiverhältnisse die Reichsregierung mit den Ergebnissen der am 15. Mai 1885 geschlossenen Session zufrieden sein konnte. Sie fühlte sich hierdurch ermutigt, auf der Bahn der Kolonialpolitik fortzuschreiten. Nachdem sie sich mit England über die Teilung des östlichen Neuguinea dahin verständigt hatte, daß der Norden nebst den Inselgruppen Neubritannien und Neuirland (Bismarck-Archipel) an D. fallen sollte, nahm sie auch an der Ostseite Afrikas die Erwerbungen einer deutschen ostafrikanischen Gesellschaft in Usagara unter ihren Schutz und erlangte nicht nur die Zustimmung des Sultans von Sansibar zu diesen Erwerbungen, sondern schloß auch mit demselben einen neuen Handelsvertrag ab. Als im August 1885 zum Schutz der deutschen Niederlassungen auf den Karolinen (s. d.) daselbst die deutsche Flagge aufgeheißt wurde, reizte dies die Spanier, welche die Inselgruppe mit Unrecht als ihr Eigentum ansahen, zu einigen Exzessen gegen die deutsche Gesandtschaft in Madrid und zu einem Protest gegen die deutsche Okkupation. Bismarck rief die Vermittelung des Papstes Leo XIII. an, und dieser schlichtete den Streit dahin, daß das moralische Anrecht der Spanier anerkannt, aber völlige Handelsfreiheit und die Befugnis, Stationen anzulegen, zugesprochen wurden. Statt der Karolinen nahm Deutschland 1886 darauf die Marshallinseln in Besitz. Über die Abgrenzung der westafrikanischen Besitzungen wurden mit England und Frankreich Verträge abgeschlossen.
Die neue Session des Reichstags wurde 19. Nov. 1885 durch den Staatssekretär v. Bötticher mit der Verlesung einer kaiserlichen Thronrede eröffnet. Gleich zu Anfang der Beratungen kam es aus Anlaß der unberechtigten Beschwerden der Ultramontanen über die Nichtzulassung französischer Jesuiten in den deutschen Kolonien zu einem heftigen Zusammenstoß des Fürsten Bismarck mit den Führern des Zentrums. Die letztern rächten sich für die entschiedene Absage die ihnen von seiten des Reichskanzlers zu teil wurde, dadurch, daß sie sich mit den Deutschfreisinnigen, Sozialisten, Welfen, Elsässern und Polen zu einem Angriff auf die gegen die polnische Einwanderung in den östlichen Provinzen Preußens (s. d.) ergriffenen Maßregeln vereinigten. Die zuerst in der Polenfrage eingebrachte Interpellation wurde 1. Dez. durch eine kaiserliche Botschaft als ein Eingriff in innere Angelegenheiten Preußens zurückgewiesen. Darauf beschloß die oppositionelle Mehrheit im Januar 1886 nach dreitägigen Debatten ein Tadelsvotum über die Ausweisungen, dessen Wirkung indes durch die darauf folgenden Erklärungen und Beschlüsse im preußischen Landtag erheblich abgeschwächt wurde. Der Reichshaushaltsetat wurde mit einigen Abstrichen im Militär- und Marineetat genehmigt. Ebenso wurden die Mittel für die Anlegung eines Nord-Ostseekanals bewilligt. Andre Vorschläge der Reichsregierung über die Rechtspflege in den überseeischen Gebieten, über eine Reform der Zuckersteuer, über die Ausdehnung der Unfallversicherung etc. wurden an Ausschüsse verwiesen. Dasselbe geschah auch mit dem Gesetzentwurf über die Einführung eines Branntweinmonopols, den der Bundesrat auf Antrag Preußens genehmigt hatte, der aber im Reichstag schon bei der ersten Lesung 4. März fast von allen Parteien so entschieden bekämpft wurde, daß die Ablehnung desselben wahrscheinlich ist, wenn auch die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit einer höhern Branntweinbesteuerung von den meisten anerkannt wurde.
Litteratur zur Geschichte Deutschlands.
Die Quellen zur deutschen Geschichte im Mittelalter sind gesammelt in dem großen Werk »Monumenta Germaniae historica« (s. d.), welchem sich die kleinern Sammlungen von Böhmer (»Fontes rerum germanicarum«, Stuttg. 1843-68, 4 Bde.) und Jaffé (»Bibliotheca rerum germanicarum«, Berl. 1864-73, 6 Bde.) sowie die von der Historischen Kommission herausgegebenen »Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert« (Leipz. 1862 ff., Bd. 1-18) und die »Deutschen Reichstagsakten« (Münch. 1868 ff.) anschließen. Vgl. Dahlmann, Quellenkunde der deutschen Geschichte (5. Aufl. von Waitz, Götting. 1883); Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter (5. Aufl., Berl. 1885, 2 Bde.); Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit dem 13. Jahrhundert (3. Aufl., das. 1886, 2 Bde.).
[Gesamtdarstellungen.]
Ausführliche Bearbeitungen der ganzen deutschen Geschichte sind: Häberlin, Umständliche deutsche Reichsgeschichte (Halle 1767-86, 21 Bde.); M. I. ^[Michael Ignaz] Schmidt, Geschichte der Deutschen (fortgesetzt von Milbiller bis 1806 und von Dresch bis 1816; im ganzen 28 Bde., Ulm 1785-1830); Heinrich, Deutsche Reichsgeschichte (Leipz. 1787-1805, 9 Bde.); Luden, Geschichte des Teutschen Volkes (bis 1237, Gotha 1825-37, 12 Bde.); K. A. Menzel, Geschichte der Teutschen (bis Maximilian I., Bresl. 1815-1823, 8 Bde.); Derselbe, Neuere Geschichte der Teutschen, von der Reformation bis zur Bundesakte (das. 1826-35, 6 Bde.; neue Ausg., das. 1854-56); Pfister, Geschichte der Deutschen, nach den Quellen (Hamb. 1829-35, 5 Bde.; Bd. 6 von Bülau, 1842); Wirth, Geschichte der Deutschen (bis 1806; 4. Aufl., Stuttg. 1860-64, 4 Bde.); Leo, Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Volkes und Reichs (Halle 1854-67, 5 Bde.); Sugenheim, Geschichte des deutschen Volkes und seiner Kultur (Leipz. 1866, 3 Bde.);