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Mitglieder herabsanken, die Fortschrittspartei aber auch 3 Sitze verlor. Die vereinigten liberalen Parteien hatten nun nur noch 175 Stimmen, also nicht mehr die Majorität im Reichstag. Die Beratungen desselben begannen und beschränkten sich auf das Budget für 1877/78, auf das Gesetz über die Errichtung des Reichsgerichts in Leipzig [* 2] und eines Patentamtes zur Handhabung des ebenfalls beantragten Patentgesetzes. Die Vorschläge der Regierung wurden genehmigt.
Der Reichskanzler, der Ende März seiner erschütterten Gesundheit wegen ein Entlassungsgesuch eingereicht und nach dessen Ablehnung durch den Kaiser einen unbestimmten Urlaub erhalten hatte, blieb das ganze Jahr 1877 von Berlin [* 3] entfernt in Friedrichsruh oder Varzin. Doch beschäftigte er sich eifrig mit der Steuerreform und faßte den Plan, zu diesem Behuf mit den Nationalliberalen ein Bündnis zu schließen, das ihm eine feste Majorität im Reichstag sichern sollte. Er hatte zu diesem Zweck Weihnachten 1877 in Varzin mit Bennigsen längere Besprechungen, die aber nicht zu dem gewünschten Ergebnis führten.
Denn Bennigsen wollte nur zusammen mit zwei andern Führern der Partei, Forckenbeck und Stauffenberg, in das Ministerium treten, und ferner bestand die Mehrheit der Nationalliberalen auf konstitutionellen Garantien dafür, daß die Mehrerträge aus der Reform der indirekten Steuern zur Herabminderung der Steuern in den Einzelstaaten verwendet würden. Beides konnte Bismarck nicht bewilligen. Als nun der Reichstag wieder eröffnet wurde, legte die Reichsregierung statt einer umfassenden Steuerreform nur zwei Gesetzentwürfe über die Übertragung des Spielkartenstempels und andrer Stempelabgaben auf das Reich sowie über eine Erhöhung der Tabaksteuer vor.
Die letztere wurde 22. Febr. von Stauffenberg in scharfer Weise angegriffen und der preußische Finanzminister Camphausen mit so bittern Vorwürfen überschüttet, daß er seine Entlassung nahm. Bismarck war damit nicht unzufrieden, da er Camphausens Finanzsystem für unfruchtbar, ja schädlich hielt. Dagegen reizte ihn empfindlich die unnötig heftige Opposition der Liberalen gegen das Tabaksmonopol, welches er als sein Ziel bezeichnet hatte. Anstatt der gewünschten Tabaksteuererhöhung beschloß der Reichstag eine Tabaksteuerenquete und knüpfte die Bewilligung der hierfür geforderten Mittel an die Bedingung, daß ein Tabaksmonopol nicht beabsichtigt und ein umfassender Steuerreformplan ausgearbeitet werde. Da seine Krankheit noch nicht beseitigt war, so zog sich Bismarck im März auf das Land zurück, nachdem seine Stellvertretung durch ein besonderes Gesetz geordnet und dieselbe im allgemeinen dem Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums, Grafen Stolberg-Wernigerode, übertragen worden war.
Da unternahm der Leipziger Klempnergeselle Max Hödel einen glücklicherweise erfolglosen Mordversuch auf den Kaiser, als derselbe die Berliner [* 4] Linden entlang fuhr. Derselbe warf ein erschreckendes Licht [* 5] auf die sittliche Verwilderung eines Teils der Nation und auf die Gefahren der sozialdemokratischen Wühlerei, deren furchtbares Anschwellen schon die Reichstagswahlen von 1877 gezeigt hatten. Die Regierung hielt es für ihre Pflicht, weitern Ausschreitungen durch ein Gesetz (Sozialistengesetz) vorzubeugen, welches auf drei Jahre die Verfolgung sozialdemokratischer Ziele gewissen Ausnahmemaßregeln unterwarf.
Sie legte den Entwurf 21. Mai dem Reichstag vor, aber schon 24. Mai lehnte die liberale und ultramontane Mehrheit denselben ab, indem sie die Regierung darauf hinwies, erst die ihr zu Gebote stehenden Mittel der Repression besser auszunutzen. Indes die Ereignisse gaben der Mehrheit unrecht: 2. Juni erfolgte das zweite Attentat Karl Nobilings auf den Kaiser, durch welches derselbe schwer verwundet wurde, so daß er 4. Juni dem Kronprinzen seine Stellvertretung übertragen mußte.
Unter dem Eindruck des schrecklichen Ereignisses setzte Bismarck 12. Juni im Bundesrat die Auflösung des Reichstags und die Anberaumung der Neuwahlen auf 30. Juli durch. Er war besonders zornig auf die liberalen Parteien, sowohl auf die Fortschrittspartei, welcher er den Namen einer Ordnungspartei geradezu absprach, und die er fast der Sozialdemokratie gleichstellte, als auf die Nationalliberalen, die er beschuldigte, ihn im Stiche gelassen zu haben, und ließ durch die Beamten wie durch die Regierungspresse beide Parteien aufs heftigste bekämpfen, während Ultramontane und Partikularisten unbehelligt blieben.
Das Ergebnis der Wahlen vom 30. Juli war daher zwar, daß die Liberalen fast 40 Sitze verloren und die Fortschrittspartei auf 24, die Nationalliberalen auf 101 Mitglieder sich verringerten, während die Konservativen und die Reichspartei auf je 57 Mitglieder stiegen. Dagegen wuchs das Zentrum auf 93 Mitglieder nebst 9 welfischen Hospitanten, und die Sozialdemokraten behaupteten 9 Wahlkreise. Eine konservative Mehrheit hatte also der Reichskanzler nicht erlangt, und da die Ultramontanen sich im Wahlkampf, um Stimmen zu erobern, unbedingt gegen alle Ausnahmegesetze verpflichtet hatten, so mußte er sich, um das von neuem vorgelegte Sozialistengesetz genehmigt zu erhalten, in der am 9. Sept. eröffneten außerordentlichen Reichstagssession mit den Nationalliberalen verständigen und manche Änderungen derselben an dem Gesetz zulassen. Dasselbe wurde 19. Okt. mit 221 gegen 149 Stimmen auf 2½ Jahre (bis genehmigt, sofort veröffentlicht und zur Unterdrückung sozialdemokratischer Vereine und Zeitungen energisch angewendet. Der inzwischen genesene Kaiser kehrte 5. Dez. nach Berlin zurück und übernahm wieder die Regierungsgeschäfte.
Ein erfreulicheres Bild als die innern Zustände Deutschlands [* 6] bot seine äußere Lage dar. Ja, während der Kaiser an seinen Wunden schwer daniederlag, während die Wahlkämpfe tobten, war die Reichshauptstadt Berlin zum erstenmal der Sitz eines Kongresses der bedeutendsten europäischen Staatsmänner. Dieser Berliner Kongreß war zur Regelung der orientalischen Frage berufen worden. Die Hetzereien panslawistischer Agitatoren hatten auf der Balkanhalbinsel [* 7] von neuem Aufstände und kriegerische Verwickelungen hervorgerufen, welche Rußland zum Anlaß genommen hatte, als Protektor der slawischen Christen der Türkei [* 8] 1877 den Krieg zu erklären.
Der Reichskanzler hatte sich vergeblich bemüht, den Ausbruch desselben zu verhindern. Nachdem er ausgebrochen, strebte er vor allem danach, ihn auf die Balkanhalbinsel zu beschränken und ihn nicht zu einem europäischen Krieg werden zu lassen. Er setzte allen seinen Einfluß daran, Österreich [* 9] von einer Einmischung abzuhalten, und beobachtete selbst die strengste Neutralität. Als nun aber Rußland entgegen seinen Versprechungen durch den Frieden von San Stefano die englischen und die österreichischen Interessen im Orient auf das empfindlichste verletzte und besonders England dagegen den entschiedensten Einspruch erhob, fühlte sich Bismarck veranlaßt, die Vermittelung der ¶
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streitenden Interessen zu übernehmen und zum den Berliner Kongreß zu berufen, welchem die auswärtigen Minister der Großmächte, namentlich Gortschakow, Beaconsfield und Andrássy, selbst beiwohnten, und welchem Bismarck präsidierte. Es gelang, auf demselben eine gütliche Vereinbarung (im Berliner Frieden vom 13. Juli) herbeizuführen, indem Rußland wesentliche Änderungen am Vertrag von San Stefano zugab und Österreich die Besitzergreifung von Bosnien [* 11] und der Herzegowina zugestanden wurde. Letzteres leistete Deutschland [* 12] sofort einen Gegendienst, indem es 11. Okt. auf den Art. 5 des Prager Friedens (s. oben, S. 899) Verzicht leistete. In Rußland freilich war die Entrüstung der Armee und der Panslawisten über die Zugeständnisse des Berliner Friedens um so größer, und Gortschakow unterließ es nicht, dieselbe eifrigst zu schüren. Die Spannung zwischen Deutschland und dem östlichen Nachbar ward 1879 immer bedenklicher; auch eine persönliche Zusammenkunft des Kaisers Wilhelm mit dem russischen Kaiser in Alexandrowo vermochte ihre Ursachen nicht zu beseitigen, so daß Bismarck um für alle Fälle gerüstet zu sein, ein Schutz- und Trutzbündnis mit Österreich-Ungarn [* 13] abschloß. Es wurde hiermit gewissermaßen der zweite Teil des Gagernschen Programms (s. oben, S. 890) erfüllt, und die Befestigung dieses Bundes in der Folgezeit zeigte, wie naturgemäß er war.
Nach der Erledigung des Sozialistengesetzes schritt Bismarck zur Verwirklichung der Steuer- und Wirtschaftsreform, für welche die Bildung der schutzzöllnerisch gesinnten »volkswirtschaftlichen Vereinigung« von 204 Mitgliedern des neuen Reichstags günstige Aussichten bot. Auf Antrag Bismarcks ernannte der Bundesrat eine Tarifkommission, welche den Zolltarif nach dem Grundsatz allgemeiner Zollpflichtigkeit aller über die Grenze eingehenden Gegenstände revidieren und durch besondere Erhöhung einiger indirekter Abgaben sowohl die Reichseinnahmen vermehren, als Landwirtschaft und Industrie schützen sollte.
In der Thronrede, mit welcher der Kaiser den Reichstag eröffnete, wurde diese Wirtschafts- und Finanzreform als Hauptgegenstand der Beratungen angekündigt. Die Liberalen waren ihr, mit einigen Ausnahmen, feindlich gesinnt, und Bismarck forderte ihre Opposition durch den Entwurf eines Disziplinargesetzes für den Reichstag heraus, das er bei Beginn der Sitzungen vorlegte. Dasselbe sollte den Reichstag in den Stand setzen, Mitglieder, die aufrührerische Reden hielten, auszuschließen und für nicht wählbar zu erklären, ja sogar dem Strafgericht zu überliefern; es wurde schon 7. März als nicht nötig und der Würde des Reichstags nicht entsprechend abgelehnt.
Um so heftiger waren die Angriffe auf das neue Steuersystem seitens der freihändlerischen Fortschrittspartei bei der Verhandlung über den Handelsvertrag mit Österreich (20.-22. Febr.), bei der Beratung des Budgets und der der Zollvorlagen selbst, welche 2. Mai begann. Entschieden traten die Konservativen für sie ein. Das Zentrum erklärte sich zu Schutzzöllen geneigt. Die Nationalliberalen begingen den Fehler, sich nicht für eine bestimmte Stellung zu entscheiden und dieselbe zur Parteisache zu erheben.
Sie waren teils entschiedene Freihändler, teils Anhänger von Finanzzöllen, teils Schutzzöllner. Die erstern, wie Delbrück, Bamberger und Lasker, griffen das neue System Bismarcks mit besonderer Schärfe an. So kam es, daß dieser sich von den Nationalliberalen gänzlich abwandte und die Bildung einer Koalition der Konservativen mit dem Zentrum begünstigte. Die maßgebende Stellung der Nationalliberalen im Reichstag war hiermit beseitigt, und ihre beiden Vertreter im Präsidium, Forckenbeck und Stauffenberg, legten 20. Mai ihre Ämter nieder; sie wurden durch den Konservativen Seydewitz und den Ultramontanen Franckenstein ersetzt.
Die neue Mehrheit vereinigte sich in der Tarifkommission darüber, sowohl Schutz- als Finanzzölle, nämlich Getreide-, Holz-, Eisen- und dergleichen Zölle, und höhere Abgaben auf Wein, Tabak, [* 14] Thee, Petroleum, Kaffee etc. zu bewilligen, fügte aber auf Antrag Franckensteins hinzu, daß derjenige Betrag der neuen Zölle, der die Summe von 130 Mill. jährlich übersteige, den einzelnen Bundesstaaten nach dem Maßstab [* 15] ihrer Matrikularbeiträge zu überweisen sei. Der nationalliberale Antrag auf Quotisierung des Zolles auf Kaffee und Salz [* 16] wurde abgelehnt. Der Reichskanzler erklärte sich mit diesen Beschlüssen, auch der Franckensteinschen Klausel, einverstanden, und nach heftigen, fast leidenschaftlichen Debatten wurde das Zolltarifgesetz 12. Juli mit 217 gegen 117 Stimmen angenommen. Außerdem genehmigte der Reichstag die neue Verfassung für Elsaß-Lothringen. [* 17]
Die Schwenkung Bismarcks von den Nationalliberalen zum Zentrum hatte zur Folge, daß Hobrecht, Friedenthal und Falk aus dem preußischen Ministerium ausschieden und durch Konservative ersetzt wurden. Auch bei den Reichsbehörden traten Änderungen ein. Das Reichskanzleramt wurde in ein Reichsamt des Innern verwandelt und ein Reichsschatzamt neu errichtet. Der neue preußische Kultusminister, v. Puttkamer, trat in Unterhandlungen mit der päpstlichen Kurie über die Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche und bereitete einige Milderungen der Maigesetze vor.
Gleichwohl gab das Zentrum seine oppositionelle Haltung keineswegs auf. Die Militärnovelle, welche dem Reichstag vorgelegt wurde, und durch welche die Friedenspräsenzstärke für weitere sieben Jahre (1881-88) auf 427,000 Mann erhöht wurde, was eine jährliche Mehrausgabe von 17 Mill., eine einmalige von 27 Mill. beanspruchte, ward von den Ultramontanen bekämpft und nur mit Hilfe der Nationalliberalen 16. April mit 186 gegen 128 Stimmen durchgesetzt. Auch die Verlängerung [* 18] des Sozialistengesetzes bis lehnte das Zentrum mit Ausnahme von zwölf Mitgliedern ab; dieselbe wurde nur durch die Vereinigung der Nationalliberalen mit den Konservativen genehmigt.
Ebenso verweigerten die Ultramontanen der Samoavorlage ihre Zustimmung, und da der freihändlerische Teil der Nationalliberalen sich ihnen anschloß, fiel die Vorlage 27. April, infolgedessen Bismarck weitere Kolonialprojekte vorläufig aufgab. Der Bund des Zentrums mit den Konservativen bethätigte sich nur in der Annahme eines Wuchergesetzes und einer Novelle zum Gewerbegesetz, welche die Gewerbefreiheit in manchen Punkten beschränkte. Der Reichskanzler sagte daher in einer merkwürdigen Rede dem Zentrum die Freundschaft wieder auf. Die Reichstagssession von 1881, welche 15. Febr. begann, erledigte hauptsächlich nur das Budget. Weitere Gesetzentwürfe über die Einführung von zweijährigen Etatsperioden und vierjährigen Legislaturperioden über die Erhöhung der Brausteuer und eine Wehrsteuer wurden abgelehnt; nur eine Börsensteuer wurde genehmigt. Das Unfallversicherungsgesetz wurde 15. Juni einer Fassung angenommen, welche der Bundesrat ablehnte. ¶