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wollten. Die Ultramontanen und Fortschrittler dagegen forderten die Einführung zweijähriger Dienstzeit. Nur die Konservativen und ein Teil der Nationalliberalen traten für den Gesetzvorschlag der Regierung ein. Bei diesem Zwiespalt der Ansichten in der maßgebenden Partei gelangten die Beratungen der Kommission über das Militärgesetz nicht zum Abschluß. Der Kaiser und seine höchsten militärischen Ratgeber, besonders Moltke, betonten entschieden die Notwendigkeit einer dauernden Festsetzung der Heeresstärke.
Der Reichskanzler, der überdies krank war, erklärte, für den Fall der Ablehnung des Gesetzes seine Entlassung nehmen zu wollen. Dazu kam, daß man im Volk die Bedenken der Abgeordneten nicht teilte und die Sicherheit des Reichs über konstitutionelle Prinzipien stellte. In Adressen und Resolutionen sprachen zahlreiche Volksversammlungen ihr Vertrauen zum Kaiser und zum Reichskanzler und ihren Wunsch aus, daß der Reichstag durch Nachgiebigkeit einen Konflikt vermeide und der Reichskanzler nicht zum Rücktritt genötigt werde.
Aus der Mitte der nationalliberalen Partei ging darauf der Antrag auf ein Kompromiß hervor, wonach die geforderte Friedenspräsenzstärke auf sieben Jahre festgesetzt werden sollte. Nachdem sich der Reichstag und die Militärverwaltung mit diesem Antrag einverstanden erklärt hatten, wurde derselbe 20. April mit 214 gegen 123 Stimmen vom Reichstag angenommen. Selbst einige Mitglieder der Fortschrittspartei (Berger, Löwe u. a.) stimmten für denselben, wurden freilich deshalb zum Austritt aus der Fraktion gezwungen. Nur das Zentrum bewahrte seine unversöhnlich oppositionelle Haltung.
Der Streit zwischen Deutschland-Preußen und der Kurie übte nicht bloß auf die innern Verhältnisse seinen Einfluß, sondern machte sich auch in der äußern Politik bemerkbar. In Frankreich, Belgien [* 2] und Spanien [* 3] traten die Klerikalen besonders feindselig gegen Deutschland [* 4] auf; die Bischöfe erließen aufhetzende Hirtenbriefe, und der von der Kurie begünstigte klerikale Thronprätendent Don Karlos ließ einen deutschen Hauptmann und Kriegskorrespondenten, Schmidt, als Spion erschießen.
Bismarck erwirkte von der französischen und belgischen Regierung ein Einschreiten gegen die Bischöfe und gegen die klerikale Presse [* 5] und erkannte nicht nur selbst die liberale Herrschaft Serranos in Spanien an, sondern bewog auch die meisten andern Mächte zu dem gleichen Schritt. Als der Botschafter in Paris, [* 6] Graf Arnim, sich mit der legitimistischen Partei einließ und Bismarcks Ansicht, daß die republikanische Staatsform Frankreichs für am vorteilhaftesten sei, bekämpfte, wurde er abberufen und später sogar in einen Prozeß verwickelt. Der ultramontane Abgeordnete Jörg unternahm daher im Reichstag einen Angriff auf Bismarcks auswärtige Politik und entfesselte durch die Erwähnung des Kullmannschen Attentats auf Bismarck (13. Juli Kissingen) [* 7] einen heftigen Sturm, der mit einer Niederlage der Klerikalen endete.
In der Wintersession des Reichstags bis wurde der Etat, zum erstenmal auch der Militäretat, beraten und eine Reihe wichtiger Gesetze vereinbart, so: das Landsturmgesetz, das Gesetz über die Naturalleistungen für das Heer, das Reichsbankgesetz und das Zivilehegesetz. Die Justizreformgesetze, welche die Gerichtsorganisation, die Zivil- und die Strafprozeßordnung betrafen, wurden eingebracht und einer Kommission überwiesen, welche über die Session hinaus ihre Thätigkeit fortzusetzen ermächtigt wurde.
Auch in dieser Session kam es übrigens zu einem Zerwürfnis zwischen dem Reichskanzler und dem von Lasker geführten Teil der Nationalliberalen, der einen klerikalen Antrag unterstützte. Bennigsen versöhnte den Kanzler durch ein 18. Dez. von ihm veranlaßtes Vertrauensvotum. Noch deutlicher wurde der Zwiespalt zwischen dem Reichskanzler und den Nationalliberalen in der Reichstagssession im Winter 1875 auf 1876. Um die Matrikularbeiträge nicht um die 18 Mill., welche der Etat mehr erforderte, erhöhen zu müssen, schlug die Reichsregierung die Erhöhung der Brausteuer um 10 Mill. und die Einführung einer Börsensteuer vor und entwickelte ihren Plan, die Reichseinnahmen durch Steigerung der indirekten Steuern auf gewisse nicht unbedingt notwendige Verbrauchsgegenstände (Bier, Kaffee, Tabak, [* 8] Branntwein, Zucker, [* 9] Petroleum) erheblich zu vermehren.
Aber sowohl diese neuen Steuern als die von der Regierung gewünschte schärfere Fassung mehrerer Paragraphen des allzu milden Strafgesetzbuchs (sogen. Kautschukparagraphen) wurden von der Mehrheit des Reichstags abgelehnt. Andre Pläne Bismarcks, durch ein Eisenbahngesetz das zersplitterte Eisenbahnwesen in Deutschland einheitlich zu regeln oder die bedeutendsten deutschen Bahnen für das Reich zu erwerben, scheiterten an dem Widerstand der Mittelstaaten im Bundesrat.
Der Reichskanzler gab seine Absichten keineswegs auf, beschloß vielmehr, sie teils in andrer Form zu verwirklichen, indem er die preußischen Eisenbahnen für den Staat erwarb, teils, wie die Steuerreform, gründlicher und umfassender vorzubereiten. Denn er erkannte, daß man, getäuscht durch den enormen Aufschwung im Handel und Gewerbe nach dem Krieg, welcher sich seit 1874 als ungesund, zum Teil als schwindelhaft herausstellte und mit einem bedenklichen Zusammenbruch vieler Geschäfte endete, in der Begünstigung des Freihandels zu weit gegangen war, die deutsche Industrie und Landwirtschaft in vielen Beziehungen dem Ausland gegenüber wehrlos gemacht und dadurch die Finanzen des Reichs und der Einzelstaaten empfindlich geschädigt hatte. Für sein neues Wirtschaftssystem brauchte der Reichskanzler neue Organe, und so erhielt Delbrück seine Entlassung u. wurde durch Hofmann ersetzt.
Der am wieder zusammengetretene Reichstag wurde daher noch nicht mit der Steuerreform befaßt; seine Aufgabe bestand vielmehr hauptsächlich in der Erledigung der inzwischen von der Kommission durchberatenen Justizreform. Gegen deren Beschlüsse erhob der Bundesrat 86 Bedenken, von denen die wichtigsten sich gegen die Verweisung der Preßvergehen an die Schwurgerichte und gegen die Abschaffung des Zeugniszwanges für Verleger und Redakteure von Zeitschriften richteten.
Die Nationalliberalen wollten anfangs nicht auf die Wünsche des Bundesrats eingehen und lehnten jene zwei Forderungen ab. Als aber der Bundesrat erklärte, zwar 68 Bedenken fallen lassen zu wollen, aber an 18, darunter jene 2, festhalten und ohne ihre Genehmigung die Justizgesetze ablehnen zu müssen, gaben sie nach, worauf die Gesetze 21. Dez. genehmigt und ihre Einführung auf festgesetzt wurde. Hierauf wurde der Reichstag 22. Dez. geschlossen. Die Fortschrittspartei, unterstützt vom Zentrum und den Sozialdemokraten, griff die Nationalliberalen ihrer Nachgiebigkeit wegen aufs heftigste an, beschuldigte sie der Servilität und Schwäche und bekämpfte sie bei den Neuwahlen zum Reichstag mit Aufbietung aller Kräfte. Die Folge war, daß die Nationalliberalen wirklich 20 Sitze verloren und auf 128 ¶
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Mitglieder herabsanken, die Fortschrittspartei aber auch 3 Sitze verlor. Die vereinigten liberalen Parteien hatten nun nur noch 175 Stimmen, also nicht mehr die Majorität im Reichstag. Die Beratungen desselben begannen und beschränkten sich auf das Budget für 1877/78, auf das Gesetz über die Errichtung des Reichsgerichts in Leipzig [* 11] und eines Patentamtes zur Handhabung des ebenfalls beantragten Patentgesetzes. Die Vorschläge der Regierung wurden genehmigt.
Der Reichskanzler, der Ende März seiner erschütterten Gesundheit wegen ein Entlassungsgesuch eingereicht und nach dessen Ablehnung durch den Kaiser einen unbestimmten Urlaub erhalten hatte, blieb das ganze Jahr 1877 von Berlin [* 12] entfernt in Friedrichsruh oder Varzin. Doch beschäftigte er sich eifrig mit der Steuerreform und faßte den Plan, zu diesem Behuf mit den Nationalliberalen ein Bündnis zu schließen, das ihm eine feste Majorität im Reichstag sichern sollte. Er hatte zu diesem Zweck Weihnachten 1877 in Varzin mit Bennigsen längere Besprechungen, die aber nicht zu dem gewünschten Ergebnis führten.
Denn Bennigsen wollte nur zusammen mit zwei andern Führern der Partei, Forckenbeck und Stauffenberg, in das Ministerium treten, und ferner bestand die Mehrheit der Nationalliberalen auf konstitutionellen Garantien dafür, daß die Mehrerträge aus der Reform der indirekten Steuern zur Herabminderung der Steuern in den Einzelstaaten verwendet würden. Beides konnte Bismarck nicht bewilligen. Als nun der Reichstag wieder eröffnet wurde, legte die Reichsregierung statt einer umfassenden Steuerreform nur zwei Gesetzentwürfe über die Übertragung des Spielkartenstempels und andrer Stempelabgaben auf das Reich sowie über eine Erhöhung der Tabaksteuer vor.
Die letztere wurde 22. Febr. von Stauffenberg in scharfer Weise angegriffen und der preußische Finanzminister
Camphausen mit so bittern Vorwürfen überschüttet, daß er seine Entlassung nahm. Bismarck war damit
nicht unzufrieden, da
er Camphausens Finanzsystem für unfruchtbar, ja schädlich hielt. Dagegen reizte ihn empfindlich die unnötig heftige Opposition
der Liberalen gegen das Tabaksmonopol, welches er als sein Ziel bezeichnet hatte. Anstatt der gewünschten
Tabaksteuererhöhung beschloß der Reichstag eine Tabaksteuerenquete und knüpfte die Bewilligung der hierfür geforderten
Mittel an die Bedingung, daß ein Tabaksmonopol nicht beabsichtigt und ein umfassender Steuerreformplan ausgearbeitet werde.
Da seine Krankheit noch nicht beseitigt war, so zog sich Bismarck im März auf das Land zurück, nachdem
seine Stellvertretung durch ein besonderes Gesetz geordnet und dieselbe im allgemeinen dem Vizepräsidenten des preußischen
Staatsministeriums, Grafen Stolberg-Wernigerode, übertragen worden war.
Da unternahm der Leipziger Klempnergeselle Max Hödel einen glücklicherweise erfolglosen Mordversuch auf den Kaiser, als derselbe die Berliner [* 13] Linden entlang fuhr. Derselbe warf ein erschreckendes Licht [* 14] auf die sittliche Verwilderung eines Teils der Nation und auf die Gefahren der sozialdemokratischen Wühlerei, deren furchtbares Anschwellen schon die Reichstagswahlen von 1877 gezeigt hatten. Die Regierung hielt es für ihre Pflicht, weitern Ausschreitungen durch ein Gesetz (Sozialistengesetz) vorzubeugen, welches auf drei Jahre die Verfolgung sozialdemokratischer Ziele gewissen Ausnahmemaßregeln unterwarf.
Sie legte den Entwurf 21. Mai dem Reichstag vor, aber schon 24. Mai lehnte die liberale und ultramontane Mehrheit denselben ab, indem sie die Regierung darauf hinwies, erst die ihr zu Gebote stehenden Mittel der Repression besser auszunutzen. Indes die Ereignisse gaben der Mehrheit unrecht: 2. Juni erfolgte das zweite Attentat Karl Nobilings auf den Kaiser, durch welches derselbe schwer verwundet wurde, so daß er 4. Juni dem Kronprinzen seine Stellvertretung übertragen mußte.
Unter dem Eindruck des schrecklichen Ereignisses setzte Bismarck 12. Juni im Bundesrat die Auflösung des Reichstags und die Anberaumung der Neuwahlen auf 30. Juli durch. Er war besonders zornig auf die liberalen Parteien, sowohl auf die Fortschrittspartei, welcher er den Namen einer Ordnungspartei geradezu absprach, und die er fast der Sozialdemokratie gleichstellte, als auf die Nationalliberalen, die er beschuldigte, ihn im Stiche gelassen zu haben, und ließ durch die Beamten wie durch die Regierungspresse beide Parteien aufs heftigste bekämpfen, während Ultramontane und Partikularisten unbehelligt blieben.
Das Ergebnis der Wahlen vom 30. Juli war daher zwar, daß die Liberalen fast 40 Sitze verloren und die Fortschrittspartei auf 24, die Nationalliberalen auf 101 Mitglieder sich verringerten, während die Konservativen und die Reichspartei auf je 57 Mitglieder stiegen. Dagegen wuchs das Zentrum auf 93 Mitglieder nebst 9 welfischen Hospitanten, und die Sozialdemokraten behaupteten 9 Wahlkreise. Eine konservative Mehrheit hatte also der Reichskanzler nicht erlangt, und da die Ultramontanen sich im Wahlkampf, um Stimmen zu erobern, unbedingt gegen alle Ausnahmegesetze verpflichtet hatten, so mußte er sich, um das von neuem vorgelegte Sozialistengesetz genehmigt zu erhalten, in der am 9. Sept. eröffneten außerordentlichen Reichstagssession mit den Nationalliberalen verständigen und manche Änderungen derselben an dem Gesetz zulassen. Dasselbe wurde 19. Okt. mit 221 gegen 149 Stimmen auf 2½ Jahre (bis genehmigt, sofort veröffentlicht und zur Unterdrückung sozialdemokratischer Vereine und Zeitungen energisch angewendet. Der inzwischen genesene Kaiser kehrte 5. Dez. nach Berlin zurück und übernahm wieder die Regierungsgeschäfte.
Ein erfreulicheres Bild als die innern Zustände Deutschlands [* 15] bot seine äußere Lage dar. Ja, während der Kaiser an seinen Wunden schwer daniederlag, während die Wahlkämpfe tobten, war die Reichshauptstadt Berlin zum erstenmal der Sitz eines Kongresses der bedeutendsten europäischen Staatsmänner. Dieser Berliner Kongreß war zur Regelung der orientalischen Frage berufen worden. Die Hetzereien panslawistischer Agitatoren hatten auf der Balkanhalbinsel [* 16] von neuem Aufstände und kriegerische Verwickelungen hervorgerufen, welche Rußland zum Anlaß genommen hatte, als Protektor der slawischen Christen der Türkei [* 17] 1877 den Krieg zu erklären.
Der Reichskanzler hatte sich vergeblich bemüht, den Ausbruch desselben zu verhindern. Nachdem er ausgebrochen, strebte er vor allem danach, ihn auf die Balkanhalbinsel zu beschränken und ihn nicht zu einem europäischen Krieg werden zu lassen. Er setzte allen seinen Einfluß daran, Österreich [* 18] von einer Einmischung abzuhalten, und beobachtete selbst die strengste Neutralität. Als nun aber Rußland entgegen seinen Versprechungen durch den Frieden von San Stefano die englischen und die österreichischen Interessen im Orient auf das empfindlichste verletzte und besonders England dagegen den entschiedensten Einspruch erhob, fühlte sich Bismarck veranlaßt, die Vermittelung der ¶