mehr
fruchtbaren Wetteifer Gutes und Edles stiften. Nach mehr als 200jährigen Mühen und Kämpfen war Deutschland [* 2] wieder Herr seiner selbst und seiner Geschicke und auf einer Stufe geistiger und materieller Entwickelung, welche es in die Reihe der führenden Kulturstaaten stellte.
Neueste Zeit.
Nachdem das Deutsche Reich [* 3] begründet war, galt es, dasselbe weiter auszugestalten. Dieser Aufgabe unterzog sich der Reichskanzler mit gewohnter Thatkraft, und der Reichstag unterstützte ihn bereitwilligst. In seiner Herbstsession 1871 genehmigte er die Gründung eines Reichskriegsschatzes von 40 Mill. und bewilligte für den Militäretat auf drei Jahre ein Pauschquantum von je 90 Mill. Thlr. (225 Thlr. für einen Soldaten). Über die Verteilung der französischen Kriegsentschädigung, welche wider Erwarten rasch abgezahlt wurde, insgesamt 4219 Mill. Mk., wurde 1872 und 1873 Beschluß gefaßt.
Die wiederzuerstattenden Kriegs- und Retablissementskosten wurden auf 1856 Mill. Mk. festgesetzt, die Entschädigungen für Verluste infolge des Kriegs und die Belohnungen auf 822 Mill. (davon betrugen der Invalidenfonds 560 Mill. und die Dotationen 12 Mill.), die Ausgaben für Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit des Reichs (Festungsbaufonds, Reichskriegsschatz, Kriegsmarine etc.) auf 790 Mill., für allgemeine Reichszwecke (Reichstagsgebäude u. dgl.) auf 62 Mill.; die übrigen 708 Mill. wurden den einzelnen Staaten überwiesen.
Die Münzreform wurde durch das Gesetz vom zum Abschluß gebracht. Der Antrag auf Erweiterung der Reichskompetenz auf das gesamte bürgerliche und Strafrecht sowie das gerichtliche Verfahren, welchen Lasker schon 1871 eingebracht hatte, gegen den aber die süddeutschen Königreiche Widerstand leisteten, wurde 1873 auch von der Reichsregierung angenommen. Ferner wurde ein Reichseisenbahnamt eingerichtet und die deutsche Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen [* 4] eingeführt, das nun 15 Abgeordnete in den Reichstag sandte.
Die auswärtige Politik entsprach durchaus den wiederholten Versicherungen der Thronreden, daß Deutschland als höchstes Ziel die Aufrechterhaltung des Friedens erstrebe. Die vielfachen Herausforderungen der revanchelustigen Franzosen blieben unbeachtet. Das Reich bemühte sich dagegen, seine Stellung durch freundschaftliche Beziehungen zu den benachbarten Kaiserreichen zu befestigen. Dies gelang durch die Dreikaiserzusammenkunft, welche 5.-12. Sept. 1872 in Berlin [* 5] stattfand.
Alexander II. von Rußland und Franz Joseph von Österreich [* 6] waren von ihren Ministern Gortschakow und Andrássy begleitet, und wenn auch förmliche Verträge nicht abgeschlossen wurden, so vereinigten sich doch die drei Kaisermächte über eine gemeinsame Politik zur Erhaltung des Friedens und der bestehenden Verhältnisse. Ihnen schloß sich 1873 der König Viktor Emanuel von Italien [* 7] an, der im September, von zwei Ministern begleitet, Kaiser Wilhelm in Berlin einen Besuch abstattete.
Dagegen machten sich die Wirkungen des in Preußen [* 8] ausgebrochenen kirchenpolitischen Kampfes auch in den Reichsverhältnissen mehr und mehr bemerklich. Die Partei des Zentrums, von dem Welfen Windthorst und dem leidenschaftlichen Mallinckrodt geführt, verwandelte sich allmählich in eine schroffe Oppositionspartei, um welche sich alle partikularistischen und reichsfeindlichen Elemente im Reichstag gruppierten. Während im preußischen Landtag der Streit über die Maigesetze immer heftiger entbrannte, forderten auch im Reichstag mehrere Gesetzanträge den Widerstand der Ultramontanen heraus, zunächst der vom bayrischen Minister Lutz beantragte »Kanzelparagraph«, wonach Geistliche, welche öffentlich oder in der Kirche für den öffentlichen Frieden gefährliche politische Agitation trieben, strafbar sein sollten.
Derselbe wurde vom Reichstag angenommen. Ihm folgte 1872 das Jesuitengesetz vom durch welches die Niederlassungen der Jesuiten und der ihnen verwandten Orden [* 9] aufgelöst und ihre ausländischen Mitglieder ausgewiesen wurden. Der Papst Pius IX. verschärfte den Konflikt, indem er 1872 den gemäßigten Kardinal Hohenlohe als deutschen Gesandten bei der Kurie zurückwies, in mehreren Allokutionen 1873 heftige Drohungen gegen das neue Deutsche Reich ausstieß und sich 7. Aug. mit einem sehr anmaßenden Schreiben an den Kaiser selbst wandte.
Unterstützt von der gesamten Geistlichkeit, riefen nun die Ultramontanen das ganze katholische Volk zum Kampfe für die Freiheit der Kirche auf und erzielten hierdurch bei den Wahlen zum zweiten deutschen Reichstag, welche stattfanden, beträchtliche Erfolge, besonders in Süddeutschland, wo sie sich mit den Partikularisten verbanden. Sie zählten 101 Mitglieder; dazu kamen die Elsaß-Lothringer, die Polen und die Sozialdemokraten (9), so daß die grundsätzliche Opposition auf 140 Stimmen stieg.
Die Nationalliberalen zählten 155 Mitglieder und bildeten, je nachdem sie sich mit den Konservativen oder mit der Fortschrittspartei vereinigten, die Majorität. Immerhin gestalteten sich infolge des Anwachsens der Opposition die Verhandlungen des Reichstags lebhafter, ja stürmisch. Am traten die elsaß-lothringischen Abgeordneten in den Reichstag ein und beantragten nach einem Protest gegen die Annexion die nachträgliche Abstimmung über dieselbe oder wenigstens die Aufhebung der diktatorischen Vollmachten des Oberpräsidenten.
Des letztern Antrags nahmen sich die Ultramontanen an, so daß er 3. März nur mit 195 gegen 138 Stimmen abgelehnt wurde. Aufs heftigste bekämpfte das Zentrum den Antrag von Völk und Hinschius auf Einführung der obligatorischen Zivilehe und der Zivilstandsregister, der 28. März angenommen wurde, und das Gesetz über Verhinderung unbefugter Ausübung von Kirchenämtern (Expatriierungsgesetz), welches Internierung oder Ausweisung als Strafen festsetzte; dasselbe war für die Ausführung der preußischen Maigesetze notwendig und wurde 25. April genehmigt.
Die wichtigste Vorlage der Session war das Reichsmilitärgesetz, welches bestimmte, daß die Friedenspräsenzstärke des Heers an Unteroffizieren und Mannschaften bis zum Erlaß einer anderweitigen gesetzlichen Bestimmung auf 401,659 Mann (1 Proz. der Bevölkerung) [* 10] normiert sein solle. Hiergegen erhoben nicht nur die Ultramontanen und Sozialdemokraten, sondern auch die Fortschrittspartei und ein Teil der Nationalliberalen Einspruch. Denn auch die letztern hielten es für bedenklich, das Budgetrecht der Volksvertretung dem Militäretat gegenüber fast ganz aus der Hand [* 11] zu geben, zumal derselbe den weitaus größten Teil des Reichsetats ausmachte.
Der linke Flügel der Nationalliberalen unter Lasker, zumeist Abgeordnete aus den altpreußischen Provinzen, verlangte unter dem Einfluß der in der preußischen Konfliktsperiode (1862-66) bei den Liberalen vorwaltenden Anschauungen, daß dem Reichstag das Recht gewahrt werde, die Friedenspräsenzstärke durch das jährliche Etatsgesetz festzustellen, wenn sie auch für jetzt gegen die dreijährige Dienstzeit nichts einwenden und an den Institutionen des Heers nicht rütteln ¶
mehr
wollten. Die Ultramontanen und Fortschrittler dagegen forderten die Einführung zweijähriger Dienstzeit. Nur die Konservativen und ein Teil der Nationalliberalen traten für den Gesetzvorschlag der Regierung ein. Bei diesem Zwiespalt der Ansichten in der maßgebenden Partei gelangten die Beratungen der Kommission über das Militärgesetz nicht zum Abschluß. Der Kaiser und seine höchsten militärischen Ratgeber, besonders Moltke, betonten entschieden die Notwendigkeit einer dauernden Festsetzung der Heeresstärke.
Der Reichskanzler, der überdies krank war, erklärte, für den Fall der Ablehnung des Gesetzes seine Entlassung nehmen zu wollen. Dazu kam, daß man im Volk die Bedenken der Abgeordneten nicht teilte und die Sicherheit des Reichs über konstitutionelle Prinzipien stellte. In Adressen und Resolutionen sprachen zahlreiche Volksversammlungen ihr Vertrauen zum Kaiser und zum Reichskanzler und ihren Wunsch aus, daß der Reichstag durch Nachgiebigkeit einen Konflikt vermeide und der Reichskanzler nicht zum Rücktritt genötigt werde.
Aus der Mitte der nationalliberalen Partei ging darauf der Antrag auf ein Kompromiß hervor, wonach die geforderte Friedenspräsenzstärke auf sieben Jahre festgesetzt werden sollte. Nachdem sich der Reichstag und die Militärverwaltung mit diesem Antrag einverstanden erklärt hatten, wurde derselbe 20. April mit 214 gegen 123 Stimmen vom Reichstag angenommen. Selbst einige Mitglieder der Fortschrittspartei (Berger, Löwe u. a.) stimmten für denselben, wurden freilich deshalb zum Austritt aus der Fraktion gezwungen. Nur das Zentrum bewahrte seine unversöhnlich oppositionelle Haltung.
Der Streit zwischen Deutschland-Preußen und der Kurie übte nicht bloß auf die innern Verhältnisse seinen Einfluß, sondern machte sich auch in der äußern Politik bemerkbar. In Frankreich, Belgien [* 13] und Spanien [* 14] traten die Klerikalen besonders feindselig gegen Deutschland auf; die Bischöfe erließen aufhetzende Hirtenbriefe, und der von der Kurie begünstigte klerikale Thronprätendent Don Karlos ließ einen deutschen Hauptmann und Kriegskorrespondenten, Schmidt, als Spion erschießen.
Bismarck erwirkte von der französischen und belgischen Regierung ein Einschreiten gegen die Bischöfe und gegen die klerikale Presse [* 15] und erkannte nicht nur selbst die liberale Herrschaft Serranos in Spanien an, sondern bewog auch die meisten andern Mächte zu dem gleichen Schritt. Als der Botschafter in Paris, [* 16] Graf Arnim, sich mit der legitimistischen Partei einließ und Bismarcks Ansicht, daß die republikanische Staatsform Frankreichs für am vorteilhaftesten sei, bekämpfte, wurde er abberufen und später sogar in einen Prozeß verwickelt. Der ultramontane Abgeordnete Jörg unternahm daher im Reichstag einen Angriff auf Bismarcks auswärtige Politik und entfesselte durch die Erwähnung des Kullmannschen Attentats auf Bismarck (13. Juli Kissingen) [* 17] einen heftigen Sturm, der mit einer Niederlage der Klerikalen endete.
In der Wintersession des Reichstags bis wurde der Etat, zum erstenmal auch der Militäretat, beraten und eine Reihe wichtiger Gesetze vereinbart, so: das Landsturmgesetz, das Gesetz über die Naturalleistungen für das Heer, das Reichsbankgesetz und das Zivilehegesetz. Die Justizreformgesetze, welche die Gerichtsorganisation, die Zivil- und die Strafprozeßordnung betrafen, wurden eingebracht und einer Kommission überwiesen, welche über die Session hinaus ihre Thätigkeit fortzusetzen ermächtigt wurde.
Auch in dieser Session kam es übrigens zu einem Zerwürfnis zwischen dem Reichskanzler und dem von Lasker geführten Teil der Nationalliberalen, der einen klerikalen Antrag unterstützte. Bennigsen versöhnte den Kanzler durch ein 18. Dez. von ihm veranlaßtes Vertrauensvotum. Noch deutlicher wurde der Zwiespalt zwischen dem Reichskanzler und den Nationalliberalen in der Reichstagssession im Winter 1875 auf 1876. Um die Matrikularbeiträge nicht um die 18 Mill., welche der Etat mehr erforderte, erhöhen zu müssen, schlug die Reichsregierung die Erhöhung der Brausteuer um 10 Mill. und die Einführung einer Börsensteuer vor und entwickelte ihren Plan, die Reichseinnahmen durch Steigerung der indirekten Steuern auf gewisse nicht unbedingt notwendige Verbrauchsgegenstände (Bier, Kaffee, Tabak, [* 18] Branntwein, Zucker, [* 19] Petroleum) erheblich zu vermehren.
Aber sowohl diese neuen Steuern als die von der Regierung gewünschte schärfere Fassung mehrerer Paragraphen des allzu milden Strafgesetzbuchs (sogen. Kautschukparagraphen) wurden von der Mehrheit des Reichstags abgelehnt. Andre Pläne Bismarcks, durch ein Eisenbahngesetz das zersplitterte Eisenbahnwesen in Deutschland einheitlich zu regeln oder die bedeutendsten deutschen Bahnen für das Reich zu erwerben, scheiterten an dem Widerstand der Mittelstaaten im Bundesrat.
Der Reichskanzler gab seine Absichten keineswegs auf, beschloß vielmehr, sie teils in andrer Form zu verwirklichen, indem er die preußischen Eisenbahnen für den Staat erwarb, teils, wie die Steuerreform, gründlicher und umfassender vorzubereiten. Denn er erkannte, daß man, getäuscht durch den enormen Aufschwung im Handel und Gewerbe nach dem Krieg, welcher sich seit 1874 als ungesund, zum Teil als schwindelhaft herausstellte und mit einem bedenklichen Zusammenbruch vieler Geschäfte endete, in der Begünstigung des Freihandels zu weit gegangen war, die deutsche Industrie und Landwirtschaft in vielen Beziehungen dem Ausland gegenüber wehrlos gemacht und dadurch die Finanzen des Reichs und der Einzelstaaten empfindlich geschädigt hatte. Für sein neues Wirtschaftssystem brauchte der Reichskanzler neue Organe, und so erhielt Delbrück seine Entlassung u. wurde durch Hofmann ersetzt.
Der am wieder zusammengetretene Reichstag wurde daher noch nicht mit der Steuerreform befaßt; seine Aufgabe bestand vielmehr hauptsächlich in der Erledigung der inzwischen von der Kommission durchberatenen Justizreform. Gegen deren Beschlüsse erhob der Bundesrat 86 Bedenken, von denen die wichtigsten sich gegen die Verweisung der Preßvergehen an die Schwurgerichte und gegen die Abschaffung des Zeugniszwanges für Verleger und Redakteure von Zeitschriften richteten.
Die Nationalliberalen wollten anfangs nicht auf die Wünsche des Bundesrats eingehen und lehnten jene zwei Forderungen ab. Als aber der Bundesrat erklärte, zwar 68 Bedenken fallen lassen zu wollen, aber an 18, darunter jene 2, festhalten und ohne ihre Genehmigung die Justizgesetze ablehnen zu müssen, gaben sie nach, worauf die Gesetze 21. Dez. genehmigt und ihre Einführung auf festgesetzt wurde. Hierauf wurde der Reichstag 22. Dez. geschlossen. Die Fortschrittspartei, unterstützt vom Zentrum und den Sozialdemokraten, griff die Nationalliberalen ihrer Nachgiebigkeit wegen aufs heftigste an, beschuldigte sie der Servilität und Schwäche und bekämpfte sie bei den Neuwahlen zum Reichstag mit Aufbietung aller Kräfte. Die Folge war, daß die Nationalliberalen wirklich 20 Sitze verloren und auf 128 ¶