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werden Wir und Unsre Nachkommen an der Krone Preußen [* 2] fortan den kaiserlichen Titel in allen Unsern Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reichs führen und hoffen zu Gott, daß es der deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner Glieder [* 3] zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, [* 4] gestützt auf die geeinte Kraft [* 5] seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volk vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermutigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen [* 6] zu genießen, welche dem Vaterland die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unsern Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allezeit Mehrer des Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.« Am 170 Jahre nach der Krönung des ersten preußischen Königs, geschah im Spiegelsaal des französischen Königsschlosses zu Versailles [* 7] die feierliche Verkündung der Annahme der Kaiserkrone und der Herstellung des Deutschen Reichs in Gegenwart einer glänzenden Versammlung von Fürsten, Prinzen und Kriegshelden, und am 19. Januar gab der Donner der Kanonen in der siegreichen Schlacht am Mont Valérien dazu die Weihe.
Der Kaiserproklamation folgte unmittelbar die Kapitulation von Paris [* 8] und damit das Ende des unvergleichlichen Kriegs. Die Versailler Friedenspräliminarien (26. Febr.) gaben Deutschland [* 9] Elsaß mit Straßburg [* 10] und Deutsch-Lothringen mit Metz [* 11] zurück und verschafften ihm eine Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Frank. Wohl erregte dieser glänzende Erfolg den Neid der andern Mächte, und namentlich England hatte wiederholt zu gunsten Frankreichs zu intervenieren gesucht. Indes seine schwächliche Neutralität bei Ausbruch des Kriegs und die illoyale Unterstützung der französischen Republik durch Zuführung von englischen Waffen [* 12] und sonstigem Kriegsmaterial hatten es alles Anspruchs auf Berücksichtigung beraubt, und seine Intervention wurde zurückgewiesen. Dem Kaiser von Österreich [* 13] zeigte Bismarck die Neugestaltung der Dinge in an und betonte den Wunsch des neuen Reichs, zu dem durch gemeinschaftliche wichtige Interessen verbundenen Nachbarreich freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, welchen Wunsch Beust 26. Dez. ebenso verbindlich erwiderte. Das treue Wohlwollen des russischen Kaisers, welches Deutschland manche Verwickelungen, besonders im ersten Teil des Kriegs, erspart hatte, vergalt die deutsche Regierung durch Unterstützung des russischen Verlangens, von einigen drückenden Bestimmungen des Pariser Friedens von 1856 befreit zu werden, was die Pontuskonferenz in London [* 14] zugestand. Auch Italien [* 15] hatte Nutzen von den deutschen Siegen [* 16] gezogen, indem es, von Frankreich nicht mehr gehindert, im Sept. 1870 den Rest des Kirchenstaats sich einverleiben und darauf (im Januar 1871) Rom [* 17] zur Hauptstadt erheben durfte. Der definitive Friede zwischen Deutschland und Frankreich wurde 10. Mai zu Frankfurt [* 18] a. M. abgeschlossen.
Am ward in Berlin [* 19] der erste deutsche Reichstag eröffnet. Die Wahlen (3. März) waren gut national ausgefallen; doch zählte man unter den 382 Abgeordneten 60 Ultramontane, welche den Kern aller Oppositionselemente bildeten. Die Thronrede des Kaisers Wilhelm I., der am 17. März nach Berlin zurückgekehrt war, konnte mit Stolz und Genugthuung verkünden: »Wir haben erreicht, was seit der Zeit unsrer Väter für Deutschland erstrebt wurde: die Einheit und deren organische Gestaltung, die Sicherung unsrer Grenzen, die Unabhängigkeit unsrer nationalen Rechtsentwickelung, und der Geist, welcher in dem deutschen Volk lebt und seine Bildung und Gesittung durchdringt, nicht minder die Verfassung des Reichs und seine Heereseinrichtungen bewahren Deutschland inmitten seiner Erfolge vor jeder Versuchung zum Mißbrauch seiner durch seine Einigung gewonnenen Kraft. Das neue Deutschland, wie es aus der Feuerprobe des gegenwärtigen Kriegs hervorgegangen ist, wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil es stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner eignen Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbteil zu bewahren. Möge die Wiederherstellung des Deutschen Reichs für die deutsche Nation auch nach innen das Wahrzeichen neuer Größe sein, möge dem deutschen Reichskrieg, den wir so ruhmreich geführt, ein nicht minder glorreicher Reichsfriede folgen, und möge die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein, sich in dem Wettkampf um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen.« Bei der Adreßdebatte machte sich schon die Opposition der neuen katholischen Zentrumspartei geltend, welche ihre Hoffnung, den Einfluß der siegreichen neuen Macht für den Papst und die Wiederherstellung seiner weltlichen Herrschaft geltend zu machen, getäuscht sah. Ebenso wurde ihr Versuch, gewisse kirchliche Grundrechte in die Reichsverfassung einzuschieben, vereitelt. Diese Verfassung, eine Revision der norddeutschen Bundesverfassung, ward ohne lange Debatten mit allen gegen sieben Stimmen angenommen. Sie erhöhte die Zahl der Mitglieder und Stimmen des Bundesrats, der nun aus den Bevollmächtigten von 25 Staaten bestand, von 43 auf 58. Die Rechte des Bundespräsidiums wurden in einigen Punkten beschränkt: bei Erklärung von Bundeskriegen war Zustimmung des Bundesrats erforderlich, außer im Fall erfolgten Angriffs auf Bundesgebiet, und ebenso war dem Bundesrat der Beschluß, ob Bundesexekution einzutreten habe, vorbehalten. Elsaß-Lothringen [* 20] wurde Reichsland, d. h. gemeinsamer Besitz des Reichs.
So war das neue Deutsche Reich [* 21] begründet. Wohl kam es dem alten, 1806 zu Grunde gegangenen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation an Umfang und Machtansprüchen nicht gleich: der neue Kaiser trug nicht die älteste und erhabenste Krone der Christenheit, er war nicht Oberlehnsherr der deutschen Reichsfürsten und beanspruchte nicht die Oberhoheit über große Nachbarlande. Die politische Verbindung mit den österreichischen Landen war gelöst, Luxemburg [* 22] aufgegeben.
Dafür aber waren Schleswig [* 23] und Elsaß-Lothringen neu gewonnen, und was das Reich an äußerm Glanz und Ausdehnung [* 24] verlor, das ersetzte es durch innere Einheit und Kraft. Unter der gesetzlich geordneten, von einem Staat wie Preußen getragenen Reichsgewalt, unter einer erblichen Dynastie, welche eine große, aber rein deutsche Hausmacht besaß, konnte das deutsche Volk nun eine einheitliche Kulturarbeit beginnen. Nach außen war es durch seine Militärmacht gesichert, im Innern konnten die Territorialgewalten der Reichseinheit und dem Wohl des Ganzen nicht mehr gefährlich werden und in dem ihnen überlassenen Bereich durch ¶
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fruchtbaren Wetteifer Gutes und Edles stiften. Nach mehr als 200jährigen Mühen und Kämpfen war Deutschland wieder Herr seiner selbst und seiner Geschicke und auf einer Stufe geistiger und materieller Entwickelung, welche es in die Reihe der führenden Kulturstaaten stellte.
Neueste Zeit.
Nachdem das Deutsche Reich begründet war, galt es, dasselbe weiter auszugestalten. Dieser Aufgabe unterzog sich der Reichskanzler mit gewohnter Thatkraft, und der Reichstag unterstützte ihn bereitwilligst. In seiner Herbstsession 1871 genehmigte er die Gründung eines Reichskriegsschatzes von 40 Mill. und bewilligte für den Militäretat auf drei Jahre ein Pauschquantum von je 90 Mill. Thlr. (225 Thlr. für einen Soldaten). Über die Verteilung der französischen Kriegsentschädigung, welche wider Erwarten rasch abgezahlt wurde, insgesamt 4219 Mill. Mk., wurde 1872 und 1873 Beschluß gefaßt.
Die wiederzuerstattenden Kriegs- und Retablissementskosten wurden auf 1856 Mill. Mk. festgesetzt, die Entschädigungen für Verluste infolge des Kriegs und die Belohnungen auf 822 Mill. (davon betrugen der Invalidenfonds 560 Mill. und die Dotationen 12 Mill.), die Ausgaben für Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit des Reichs (Festungsbaufonds, Reichskriegsschatz, Kriegsmarine etc.) auf 790 Mill., für allgemeine Reichszwecke (Reichstagsgebäude u. dgl.) auf 62 Mill.; die übrigen 708 Mill. wurden den einzelnen Staaten überwiesen.
Die Münzreform wurde durch das Gesetz vom zum Abschluß gebracht. Der Antrag auf Erweiterung der Reichskompetenz auf das gesamte bürgerliche und Strafrecht sowie das gerichtliche Verfahren, welchen Lasker schon 1871 eingebracht hatte, gegen den aber die süddeutschen Königreiche Widerstand leisteten, wurde 1873 auch von der Reichsregierung angenommen. Ferner wurde ein Reichseisenbahnamt eingerichtet und die deutsche Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen eingeführt, das nun 15 Abgeordnete in den Reichstag sandte.
Die auswärtige Politik entsprach durchaus den wiederholten Versicherungen der Thronreden, daß Deutschland als höchstes Ziel die Aufrechterhaltung des Friedens erstrebe. Die vielfachen Herausforderungen der revanchelustigen Franzosen blieben unbeachtet. Das Reich bemühte sich dagegen, seine Stellung durch freundschaftliche Beziehungen zu den benachbarten Kaiserreichen zu befestigen. Dies gelang durch die Dreikaiserzusammenkunft, welche 5.-12. Sept. 1872 in Berlin stattfand.
Alexander II. von Rußland und Franz Joseph von Österreich waren von ihren Ministern Gortschakow und Andrássy begleitet, und wenn auch förmliche Verträge nicht abgeschlossen wurden, so vereinigten sich doch die drei Kaisermächte über eine gemeinsame Politik zur Erhaltung des Friedens und der bestehenden Verhältnisse. Ihnen schloß sich 1873 der König Viktor Emanuel von Italien an, der im September, von zwei Ministern begleitet, Kaiser Wilhelm in Berlin einen Besuch abstattete.
Dagegen machten sich die Wirkungen des in Preußen ausgebrochenen kirchenpolitischen Kampfes auch in den Reichsverhältnissen mehr und mehr bemerklich. Die Partei des Zentrums, von dem Welfen Windthorst und dem leidenschaftlichen Mallinckrodt geführt, verwandelte sich allmählich in eine schroffe Oppositionspartei, um welche sich alle partikularistischen und reichsfeindlichen Elemente im Reichstag gruppierten. Während im preußischen Landtag der Streit über die Maigesetze immer heftiger entbrannte, forderten auch im Reichstag mehrere Gesetzanträge den Widerstand der Ultramontanen heraus, zunächst der vom bayrischen Minister Lutz beantragte »Kanzelparagraph«, wonach Geistliche, welche öffentlich oder in der Kirche für den öffentlichen Frieden gefährliche politische Agitation trieben, strafbar sein sollten.
Derselbe wurde vom Reichstag angenommen. Ihm folgte 1872 das Jesuitengesetz vom durch welches die Niederlassungen der Jesuiten und der ihnen verwandten Orden [* 26] aufgelöst und ihre ausländischen Mitglieder ausgewiesen wurden. Der Papst Pius IX. verschärfte den Konflikt, indem er 1872 den gemäßigten Kardinal Hohenlohe als deutschen Gesandten bei der Kurie zurückwies, in mehreren Allokutionen 1873 heftige Drohungen gegen das neue Deutsche Reich ausstieß und sich 7. Aug. mit einem sehr anmaßenden Schreiben an den Kaiser selbst wandte.
Unterstützt von der gesamten Geistlichkeit, riefen nun die Ultramontanen das ganze katholische Volk zum Kampfe für die Freiheit der Kirche auf und erzielten hierdurch bei den Wahlen zum zweiten deutschen Reichstag, welche stattfanden, beträchtliche Erfolge, besonders in Süddeutschland, wo sie sich mit den Partikularisten verbanden. Sie zählten 101 Mitglieder; dazu kamen die Elsaß-Lothringer, die Polen und die Sozialdemokraten (9), so daß die grundsätzliche Opposition auf 140 Stimmen stieg.
Die Nationalliberalen zählten 155 Mitglieder und bildeten, je nachdem sie sich mit den Konservativen oder mit der Fortschrittspartei vereinigten, die Majorität. Immerhin gestalteten sich infolge des Anwachsens der Opposition die Verhandlungen des Reichstags lebhafter, ja stürmisch. Am traten die elsaß-lothringischen Abgeordneten in den Reichstag ein und beantragten nach einem Protest gegen die Annexion die nachträgliche Abstimmung über dieselbe oder wenigstens die Aufhebung der diktatorischen Vollmachten des Oberpräsidenten.
Des letztern Antrags nahmen sich die Ultramontanen an, so daß er 3. März nur mit 195 gegen 138 Stimmen abgelehnt wurde. Aufs heftigste bekämpfte das Zentrum den Antrag von Völk und Hinschius auf Einführung der obligatorischen Zivilehe und der Zivilstandsregister, der 28. März angenommen wurde, und das Gesetz über Verhinderung unbefugter Ausübung von Kirchenämtern (Expatriierungsgesetz), welches Internierung oder Ausweisung als Strafen festsetzte; dasselbe war für die Ausführung der preußischen Maigesetze notwendig und wurde 25. April genehmigt.
Die wichtigste Vorlage der Session war das Reichsmilitärgesetz, welches bestimmte, daß die Friedenspräsenzstärke des Heers an Unteroffizieren und Mannschaften bis zum Erlaß einer anderweitigen gesetzlichen Bestimmung auf 401,659 Mann (1 Proz. der Bevölkerung) [* 27] normiert sein solle. Hiergegen erhoben nicht nur die Ultramontanen und Sozialdemokraten, sondern auch die Fortschrittspartei und ein Teil der Nationalliberalen Einspruch. Denn auch die letztern hielten es für bedenklich, das Budgetrecht der Volksvertretung dem Militäretat gegenüber fast ganz aus der Hand [* 28] zu geben, zumal derselbe den weitaus größten Teil des Reichsetats ausmachte.
Der linke Flügel der Nationalliberalen unter Lasker, zumeist Abgeordnete aus den altpreußischen Provinzen, verlangte unter dem Einfluß der in der preußischen Konfliktsperiode (1862-66) bei den Liberalen vorwaltenden Anschauungen, daß dem Reichstag das Recht gewahrt werde, die Friedenspräsenzstärke durch das jährliche Etatsgesetz festzustellen, wenn sie auch für jetzt gegen die dreijährige Dienstzeit nichts einwenden und an den Institutionen des Heers nicht rütteln ¶