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Der Norddeutsche Bund.
Nachdem König Wilhelm durch das Verlangen der Indemnität für die bisherige budgetlose Verwaltung mit dem preußischen Abgeordnetenhaus und mit dem Land Frieden geschlossen hatte und die Einverleibung der annektierten Gebiete, durch welche der preußische Staat auf 350,000 qkm mit 24 Mill. Einw. vermehrt wurde, gesetzlich geordnet war, schritt die preußische Regierung dazu, den Norddeutschen Bund zu organisieren. Die Großherzogtümer Oldenburg, [* 2] Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Sachsen-Weimar, die Herzogtümer Braunschweig, [* 3] Anhalt, [* 4] Sachsen-Koburg-Gotha und Sachsen-Altenburg, die Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Reuß [* 5] j. L., Waldeck, [* 6] Lippe [* 7] und Schaumburg-Lippe, die Freien Städte Hamburg, [* 8] Lübeck [* 9] und Bremen [* 10] hatten schon während des Kriegs mit Preußen [* 11] ein enges Bündnis geschlossen und sich 18. Aug. für die am 14. Juni von Preußen vorgelegte neue Bundesverfassung erklärt. Hessen [* 12] hatte sich in seinem Friedensschluß 3. Sept. verpflichtet, mit der vom preußischen Gebiet umschlossenen Provinz Oberhessen dem neuen Bund beizutreten. Nun wurden auch Sachsen-Meiningen und Reuß ä. L. dazu genötigt. Endlich kam nach Entlassung Beusts der Friede mit Sachsen [* 13] zu stande; Sachsen zahlte 10 Mill. Thlr. Kriegskosten und trat ebenfalls dem Bund bei, dessen Grundzüge es ausdrücklich annahm.
Die Bevollmächtigten dieser Staaten wurden zum nach Berlin [* 14] geladen und ihnen hier der Entwurf einer Verfassung für den Norddeutschen Bund vorgelegt. Die Beratungen dauerten bis zum und führten zu allseitiger Verständigung, da die preußische Regierung die besondern Wünsche und Vorschläge ihrer Verbündeten bereitwilligst berücksichtigte, diese dagegen in den Hauptpunkten keine Schwierigkeiten machten. Am 12. Febr. fanden die allgemeinen Wahlen für den konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes statt, und 24. Febr. ward derselbe in Berlin vom König von Preußen eröffnet, dem die verbündeten Staaten für diesen Fall im voraus die verfassungsmäßigen Präsidialrechte übertragen hatten.
In der Thronrede hieß es: »Einst mächtig, groß und geehrt, weil einig und von starken Händen geleitet, sank das Deutsche Reich [* 15] nicht ohne Mitschuld von Haupt und Gliedern in Zerrissenheit und Ohnmacht. Niemals aber hat die Sehnsucht des deutschen Volkes nach seinen verlornen Gütern aufgehört, und die Geschichte unsrer Zeit ist erfüllt von den Bestrebungen, Deutschland [* 16] und dem deutschen Volk die Größe seiner Vergangenheit wiederzuerringen. Wenn diese Bestrebungen bisher nicht zum Ziel geführt, wenn sie die Zerrissenheit, anstatt sie zu heilen, nur gesteigert haben, weil man sich durch Hoffnungen oder Erinnerungen über den Wert der Gegenwart, durch Ideale über die Bedeutung der Thatsachen täuschen ließ, so erkennen wir daraus die Notwendigkeit, die Einigkeit des deutschen Volkes an der Hand [* 17] der Thatsachen zu suchen und nicht wieder das Erreichbare dem Wünschenswerten zu opfern.« Hieran knüpfte sich die Mahnung an die Vertreter des Volkes, den günstigen Moment zur Errichtung des Gebäudes nicht zu versäumen und den vollendetern Ausbau desselben getrost dem fernern vereinten Wirken der deutschen Fürsten und Volksstämme zu überlassen. Am 4. März legte Bismarck dem Reichstag den Verfassungsentwurf vor und empfahl seine Annahme 11. März in längerer Rede.
Die Beratung, welche der zum Präsidenten des Reichstags gewählte Simson leitete, ging rasch von statten. Die Nationalliberalen bemühten sich überall, nur das Wesentliche ins Auge [* 18] zu fassen und die preußische Regierung in ihrem Werk zu unterstützen; schärfere Opposition machte bloß die Fortschrittspartei, ohne jedoch bei ihrer Minderzahl etwas zu erreichen. Während der Reichstag die Kompetenz des Bundes in mehreren Punkten erweiterte und seine eignen Rechte genauer präzisierte, behaupteten die Regierungen ihren Standpunkt in Bezug auf die Militärfrage, in welcher sie die Normierung der Präsenzstärke mit 1 Proz. der Bevölkerung [* 19] und die entsprechenden Kosten bis erlangten, und die Diätenfrage, wonach die Reichstagsabgeordneten keine Entschädigung erhalten sollten. Am 16. April ward die Verfassung mit 230 gegen 53 Stimmen angenommen und 17. April der Reichstag geschlossen.
Die Bundesverfassung, welche in Kraft [* 20] trat, beruhte auf dem Grundgedanken der Union von 1849: das Präsidium des Bundes wurde der Krone Preußen erblich übertragen und besaß das Recht, Krieg zu erklären, Frieden, Bündnisse und Verträge zu schließen, den Bund nach außen zu vertreten, das Haupt der Exekutive, den Bundeskanzler, zu ernennen und Bundesrat und Reichstag zu berufen. Der erstere war aus den Bevollmächtigten der verbündeten Staaten zusammengesetzt und zählte 43 Stimmen (davon Preußen 17); er hatte das Recht der Vorberatung und Genehmigung aller Gesetze.
Der Reichstag ging aus allgemeinen, direkten Wahlen hervor (ein Abgeordneter auf 100,000 Seelen) und hatte die Rechte und Stellung der Volksvertretung eines konstitutionellen Staatswesens. Die Bundesgesetzgebung erstreckte sich auf das ganze Verkehrs-, Handels-, Münz- und Zollwesen sowie wichtige Rechtsgebiete, ließ dagegen die innere Verwaltung der Einzelstaaten möglichst unberührt; doch gingen die Bundesgesetze stets den Landesgesetzen vor. Unbeschränkte Freizügigkeit gestaltete das Einzelindigenat zu einem Bundesindigenat um, Kriegsmarine und Heeresverfassung waren einheitlich, der König von Preußen Bundesfeldherr. Trotz mancher Mängel und Unebenheiten war die neue Verfassung lebens- und verbesserungsfähig. Die Kraft der Nation war in Einer Hand vereinigt und die Zersplitterung durch das Übergewicht Preußens [* 21] verhindert, ohne daß den Einzelstaaten die Geltendmachung ihres Einflusses und ihrer Interessen verkümmert war.
Schon während der Beratungen des konstituierenden Reichstags ward der neue Bund von einer äußern Gefahr bedroht. Durch den Bundesreformentwurf war die Verbindung Deutschlands [* 22] mit dem Großherzogtum Luxemburg [* 23] gelöst worden, doch hatte Preußen seine Garnison in der dortigen Festung [* 24] gelassen. Napoleon III. hatte sich nun dies Fürstentum zu der Kompensation ausersehen, mit welcher er den Neid (oder wie es hieß, »die berechtigte Empfindlichkeit«) der Franzosen über Preußens Machtentwickelung beschwichtigen wollte. Er schloß daher mit dem König Wilhelm III. der Niederlande [* 25] über Luxemburg einen Kaufvertrag ab. Er rechnete auf Preußens Nachgiebigkeit, ja er bot für die Zustimmung zu weitern Annexionen auf Belgiens Kosten auch die Anerkennung der Hegemonie über Süddeutschland an. Die preußische Regierung verweigerte jedoch ihre Zustimmung und beantwortete die französischen Kriegsdrohungen mit der Publikation der geheimen Allianzverträge mit den süddeutschen Staaten (19. März). Auch im Reichstag kam die Sache aus Anlaß einer Interpellation Bennigsens zur Sprache. [* 26] ¶
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Indes beide Teile zogen es vor, aus der Frage keinen Kriegsfall zu machen, Napoleon nicht, weil sein Heer noch ebensowenig gerüstet war wie im August 1866, Bismarck, weil er die Zustände in Deutschland sich erst befestigen lassen wollte. So kam denn unter Vermittelung der Mächte auf der Londoner Konferenz (7. bis 11. Mai) ein friedliches Abkommen zu stande: die Festung Luxemburg wurde von den Preußen geräumt, aber geschleift, das Land unter Garantie der Mächte für neutral erklärt; es blieb jedoch im Zollverein.
Die luxemburgische Frage und die Veröffentlichung der Allianzverträge stellten die Frage des Verhältnisses zwischen dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten in den Vordergrund. Daß ein Südbund unmöglich sei, war von Anfang an klar. Überdies knüpfte auch die Erneuerung und Umgestaltung des Zollvereins ein Band [* 28] zwischen Nord und Süd: der Vertrag wurde abgeschlossen und bestimmte, daß an die Spitze des Zollvereins ein Zollbundesrat treten solle, welchem jeder Staat nach seiner Größe vertreten sei, um über Zollgesetzgebung, Tarife und Verträge zu entscheiden, und daß ein Zollparlament, gebildet aus dem norddeutschen Reichstag und den durch direkte, allgemeine Wahlen gewählten Vertretern der süddeutschen Bevölkerung, die Rechte der Volksvertretung in allen Zollsachen wahrnehmen solle. In Hessen und Baden [* 29] wurden der Allianz- und der Zollvertrag nahezu einstimmig vom Landtag angenommen. In Bayern [* 30] sträubte sich der Reichsrat lange gegen den Zollvertrag. Am hartnäckigsten war die Opposition gegen beide Verträge in der württembergischen Zweiten Kammer, obwohl sie schließlich auch hier angenommen wurden.
Immerhin fühlten sich sowohl der württembergische Minister v. Varnbüler als der bayrische Fürst Hohenlohe durch die Stimmung der Bevölkerung veranlaßt, von einem Eintritt in den Norddeutschen Bund abzusehen, und auch Bismarck vermied es, dazu zu drängen; ja, er lehnte sogar den Einzeleintritt Badens ausdrücklich ab. Es genügte vorläufig, daß die süddeutschen Staaten ihre Heereseinrichtungen nach preußischem Muster umgestalteten, und daß jede fremde Einmischung in die deutschen Angelegenheiten abgewehrt wurde. In allem bewährte der Bundeskanzler eine umsichtige, gemäßigte, echt praktische Staatsweisheit.
Die Thronrede, mit der am der erste (und einzige) ordentliche Reichstag des Norddeutschen Bundes, zu dem die Wahlen 31. Aug. stattgefunden hatten, eröffnet wurde, war in durchaus geschäftlichem Ton gehalten und kündigte der Versammlung eine ganze Reihe wichtiger Arbeiten an, welche im Lauf des Winters durch gemeinschaftliche Thätigkeit der meist nationalliberalen Majorität und der Regierung glücklich erledigt wurden: Bundeshaushalt, Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienst, Postgesetz, Freizügigkeitsgesetz, Errichtung von Bundeskonsulaten, Bundesschuldengesetz und andre wichtige Organisationen für den Ausbau des neuen Staatswesens. Das einheitliche Streben der Nation hatte jetzt sein gesetzliches Organ, der Nationalverein löste sich daher 11. Nov. auf.
Bei der Adreßdebatte im Reichstag (24. Sept.) hatte Bismarck zwar über das Verhältnis zu Süddeutschland geäußert, daß, wenn die deutsche Nation in ihrer Gesamtheit die Einheit wolle, auch kein preußischer Staatsmann stark genug, keiner mutig oder kleinmütig genug sei, es hindern zu wollen. Die Wahlen zum ersten Zollparlament, welche im Februar 1868 in Süddeutschland stattfanden, bewiesen jedoch, daß die Nation in der Einheitsfrage noch nicht einmütig-entschlossenen Sinnes sei: in Württemberg [* 31] fielen unter dem Druck der stark partikularistischen Regierung alle 17 Wahlen partikularistisch aus, in Bayern waren nur 12 Abgeordnete national gesinnt, 24 klerikal oder partikularistisch, selbst in Baden 6 antinational. Nachdem die zweite Session des norddeutschen Reichstags ihre Arbeiten schon begonnen hatte, wurde das Zollparlament 27. April vom König von Preußen selbst mit einer Thronrede eröffnet, welche die Macht des nationalen Gedankens und die geeinigte Kraft des deutschen Volkes besonders betonte und die Beratung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen Deutschlands durch die Vertreter der ganzen Nation als eine naturgemäße Entwickelung bezeichnete. Aber die Erwartungen, welche über das eng gesteckte Ziel der Zollberatung hinausgingen, wurden durch die Haltung der antinationalen süddeutschen Fraktion (57 Mitglieder) getäuscht, welche die Ablehnung einer Adresse und der Kompetenzerweiterung bewirkte und auf die von Frankreich drohende Gefahr hinwies, wenn die Unionstendenzen weiter verfolgt würden.
Nur die Ausdehnung [* 32] des Zollvereins auf Mecklenburg [* 33] und einige Handelsverträge waren das Resultat der Session, auf dessen Dürftigkeit der von Schäffle verfaßte Rechenschaftsbericht der süddeutschen Fraktion höhnisch hinwies. Resigniert ermahnte daher die Schlußrede (23. Mai), »in den Vordergrund zu stellen, was uns eint, und zurücktreten zu lassen, was uns trennen könnte«. Fruchtbarer waren die Verhandlungen des norddeutschen Reichstags, welcher bis 20. Juni tagte und neben dem Etat eine neue Maß- und Gewichtsordnung, ein Notgewerbegesetz, Aufhebung der Spielbanken, der Schuldhaft, der polizeilichen Ehebeschränkungen u. a. und die Vorbereitung eines gemeinsamen Strafgesetzbuchs beschloß.
Ähnlich verliefen die Dinge 1869: der Reichstag, der vom 4. März bis 22. Juni tagte, brachte eine neue Gewerbeordnung, eine Wechselordnung, die Errichtung eines gemeinsamen Bundesoberhandelsgerichts in Leipzig, [* 34] ein Gesetz über die Gleichberechtigung aller Konfessionen [* 35] zu stande und die Ausdehnung der Bundeskompetenz auf das gesamte bürgerliche Recht in Anregung; das Zollparlament (3. bis 22. Juni) dagegen war ohne weitere politische Bedeutung: von seiten der unionistischen Partei vermied man, die nationale Frage zu berühren, die Partikularisten traten weniger anmaßend auf, und so wurden nur geschäftliche Fragen über Tarifrevisionen und Handelsverträge berührt. Die Reichstagssession, die eröffnet und 26. Mai geschlossen wurde, förderte nach Kräften das Werk des Ausbaues und der Festigung des deutschen Bundesstaats, indem das Strafgesetzbuch, ein Gesetz über den Unterstützungswohnsitz und die Subvention der Gotthardbahn genehmigt wurden; selbst das Zollparlament schwang sich zu dem Beschluß auf, die Münzreform für eine Zollvereinsangelegenheit, also eine allgemein deutsche, zu erklären, allerdings unter pathetischem Einspruch der süddeutschen Fraktion gegen diese Kompetenzüberschreitung. Im Reichstag kam auch die Union mit den Südstaaten wieder zur Sprache, indem der Abgeordnete Lasker bei Gelegenheit eines Jurisdiktionsvertrags mit Baden dessen Aufnahme in den Norddeutschen Bund in Anregung brachte. Bismarck machte dagegen geltend, daß man auf Bayern und Württemberg keine Pression ausüben dürfe, indem man das ohnehin schon national gesinnte Baden von ihnen trenne; es sei nicht gut, den Milchtopf abzusahnen und das übrige sauer werden zu lassen. ¶