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B. Wissenschaftliche Litteratur.
Von den verschiedenen Zweigen der wissenschaftlichen oder gelehrten Litteratur können im engern Anschluß an die Nationallitteratur und vermöge ihrer bestimmenden Einwirkung auf dieselbe nur die Philosophie und Theologie nebst der Geschichte nach ihrer geschichtlichen Entwickelung hier in Betracht kommen. Rücksichtlich der andern Gebiete muß auf die den einzelnen Disziplinen gewidmeten Artikel verwiesen werden.
Philosophie.
Wie unter den Völkern des Altertums den Griechen, so gebührt unter den neuern den Deutschen der Ehrenname eines »Volkes von Denkern«. Nachdem sie schon im Mittelalter durch Albert von Bollstädt (Albertus Magnus, gest. 1280), in der Übergangszeit durch Paracelsus (gest. 1541) und Jakob Böhme (gest. 1624) an der Entwickelung der Philosophie rüstigen Anteil genommen, beginnt die ihnen eigentümliche und vom Ausland unabhängige Methode zuerst mit Leibniz (1646-1716), dessen Universalismus die Selbständigkeit der Individuen mit der Harmonie des einheitlichen Ganzen und den Mechanismus der wirkenden mit der Freiheit der Zweckursachen zu vereinigen bemüht war. Während der Logiker Tschirnhaußen (gest. 1708) und der Rechtsphilosoph Thomasius (gest. 1728), beide durch Leibniz angeregt, einflußreich auf ihren Einzelgebieten wirkten, unternahm es Christian Wolf (gest. 1754) als der erste Deutsche, [* 2] ein vollständiges, in sich mit wissenschaftlicher Strenge zusammenhängendes System der Philosophie aufzuführen, wodurch er der Gründer der ersten deutschen Philosophenschule, der nach ihm und seinem Meister sogen. Leibniz-Wolfschen Schule, ward.
Der Einfluß derselben, der sich über alle Wissenschaften und selbst über die Grenzen [* 3] Deutschlands [* 4] hinaus erstreckte, nahm allmählich ab, als nach der Mitte des 18. Jahrh. die seit Locke bei den Engländern und Franzosen übliche empiristische Weise zu philosophieren in Deutschland [* 5] Eingang fand. Während die eigentlichen Schüler Wolfs, wie Bilfinger (gest. 1750), Baumeister (gest. 1785), Baumgarten (gest. 1762), der Begründer der Ästhetik, und Meier (gest. 1777), an dessen mathematischer Methode und einseitig rationalistischer Erkenntnisquelle festhielten, suchten andre teils, wie Crusius (gest. 1775), demselben ein selbständiges, obgleich gleichfalls rationalistisches System entgegenzustellen, teils, wie der Mathematiker Lambert (gest. 1777) und die Philosophen der Berliner [* 6] Akademie Friedrichs d. Gr., Locke mit Leibniz, Empirismus mit Rationalismus und die Erfahrung mit der Vernunft als Erkenntnisquelle zu verbinden, wodurch insbesondere der Erstgenannte dem in sich aus heterogenen Bestandteilen (Sinnlichkeit und reine Vernunft) gemengten Erkenntnisvermögen der Kantschen Kritik vorgearbeitet hat.
Parallel [* 7] mit dieser wissenschaftlichen ging eine populäre, der Aufklärung und dem Gemeinwohl zu dienen bemühte Richtung der Philosophie, die sich zum Teil, wie Reimarus (gest. 1765), Ploucquet (gest. 1790), Eberhard (gest. 1809), Platner (gest. 1818), an Wolf, zum Teil, wie Tetens (gest. 1805), an Locke hielt, zum Teil, wie die sogen. »Philosophie des gesunden Menschenverstandes« und die moralisierende Schriftstellerei der Abbt (gest. 1766), v. Creuz (gest. 1770), Sulzer (gest. 1779), Basedow (gest. 1790), Mendelssohn (gest. 1786), Gellert (gest. 1769), Garve (gest. 1798) und Feder (gest. 1821), eklektisch verfuhr.
Die Summe aller dieser Bestrebungen zog Immanuel Kant (1724-1804), welcher ursprünglich rationalistischer, dann infolge seiner eifrigen Beschäftigung mit Newton empirischer Dogmatiker war, durch den Skeptizismus Humes aus letzterm Schlummer geweckt wurde und nun als »Kritiker der reinen Vernunft« dieser die Fähigkeit absprach, übersinnliche Gegenstände zu erkennen, zugleich aber auch als »Kritiker der Sinnlichkeit« nachwies, daß diese, um zur »Erfahrung« zu werden, der Ergänzung durch apriorische, d. h. durch reine Vernunftbeweise bedürfe.
Rationalismus und Empirismus sollten auf diesem Weg ausgesöhnt, von der Vernunft die Form, von der Sinnlichkeit der Stoff aller auf die Welt der Objekte bezüglichen Erkenntnis geliefert, diese selbst aber auf die Objekte der sinnlichen oder Erfahrungswelt eingeschränkt werden, jenseits welcher als »dunkler Rest« der übersinnlichen Welt das sogen. »Ding an sich« als metaphysisches Substrat allein übrigbleibe. Die durch den »Kritizismus« verursachte Einbuße von theoretischer Vernunfterkenntnis sollte durch das von Kant wiederbelebte Bewußtsein einer dem Menschen innewohnenden praktischen Vernunft oder eines von allen theoretischen Voraussetzungen und eudämonistischen Beweggründen freien moralischen Pflichtgefühls (kategorischer Imperativ) aufgewogen und der Kant am Herzen liegende Inhalt der natürlichen oder »Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft« (Gott, Unsterblichkeit, Willensfreiheit),
dessen Erkenntnis auf theoretischem Weg durch die »Kritik« aufgehoben war, auf moralischem Weg durch die sogen. »Postulate der praktischen Vernunft« wiederhergestellt werden. Kants Philosophie übte sowohl durch ihren negativen als durch ihren positiven Teil einen durchgreifenden Einfluß nicht nur auf seine Zeitgenossen, sondern bis auf die Gegenwart; er selbst hat als »Alleszermalmer« überhaupt auf die intellektuelle wie durch seine sittliche Strenge und Reinheit des Pflichtgefühls auf die moralische Kultur der Besten seiner Nation umgestaltend gewirkt wie kein andrer vor ihm. Während der Skeptizismus z. B. in G. E. Schulzes (gest. 1833) »Änesidemus« und der ältere Dogmatismus Eberhards und andrer, auch Kants ehemaliger Zuhörer, Herder (gest. 1803), den Kritizismus angriffen, suchten K. L. Reinhold (gest. 1823), Schiller (gest. 1805), Fries (gest. 1843) u. a. ihn weiterzubilden.
Kants bedeutendster Nachfolger, J. G. ^[Johann Gottlieb] Fichte [* 8] (1762-1814), verwandelte, auf der von Kant vorgezeichneten Bahn fortschreitend, den halben Idealismus Kants in einen ganzen, indem er das Ich nicht nur für den Träger [* 9] und die Quelle [* 10] der Erkenntnis, sondern auch für das einzige Reale erklärte, dessen Vorstellung und That die Welt, einziger Grund der Erschaffung dieser letztern aber das Sittengesetz, die »sittliche Freiheit«, sei, weil diese, um sich als solche zu bewähren, einer »sinnlichen Welt« als »Material der Pflichterfüllung« bedürfe.
Durch diesen Idealismus hat Fichte die deutsche Philosophie nach einer Richtung, durch seine patriotische Gesinnung und feurigen politischen Reden die »deutsche Nation« vor den Befreiungskriegen bestimmt. Schelling (1775-1854) wendete die innere Entwickelungsgeschichte [* 11] des Ichs, dessen That die Welt ist, auf die Natur als das unbewußte Ich an und brachte durch diese sogen. »Naturphilosophie« einen Umschwung in der Behandlung der Naturwissenschaften, insbesondere der Medizin, hervor. Während er selbst in raschem Wechsel sein System zum Transcendentalidealismus durch Hinzufügung einer der Naturphilosophie entsprechenden Geschichtsphilosophie, unter dem Einfluß Spinozas zu einer diesem ¶
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verwandten Identitätsphilosophie und zuletzt, angeregt von Jakob Böhme und den theosophischen Mystikern, zu einer von ihm sogenannten »positiven« oder »Offenbarungsphilosophie« fort- und umbildete, steigerte Georg Wilh. Friedrich Hegel (1770-1831) Fichtes ursprünglich subjektiven zum »absoluten« Idealismus, indem er an die Stelle des allein realen und thätigen Ichs die unpersönliche Vernunft (»die logische Idee«) und an die Stelle der schöpferischen That den dialektischen Prozeß (»Selbstbewegung des Denkens«) setzte und die Vernunft zum allein wahren Wesen alles Wirklichen (Panlogismus), aber damit auch das Wirkliche zum Vernünftigen (Optimismus) erhob.
Wie Kants unerbittliche Schärfe in die Tiefe, so hat Hegels universale, wenigstens dem Anschein nach willkürfreie Methode in die Breite [* 13] der Forschung gewirkt und, wie einst die mathematische Methode Wolfs, zur Anwendung in fast allen Wissenschaften geführt, zugleich durch die Verkündigung der Vernunft als des Wesens des Wirklichen dem Rationalismus auf allen Gebieten Vorschub geleistet. Den Gegensatz zu dieser von Fichte bis Hegel in gerader Richtung fortschreitenden idealistischen Richtung bildet die gleichfalls an Kant anknüpfende, aber, wie Fichte einen halben Schritt vor, so einen halben hinter den Kritizismus zurücktretende realistische Richtung Herbarts (1776-1841). Während nach jenem die Philosophie ein Schaffen der Kant zufolge aus einem realistischen (Materie) und einem idealistischen (Form) Faktor bestehenden Erfahrung ist, stellt sie nach Herbart ein Empfangen derselben hinsichtlich der Form wie der Materie dar.
Die Empirie bildet die Grundlage, durch deren Bearbeitung, Berichtigung und Ergänzung mittels der Denkgesetze eine in sich zusammenhängende, auch logisch befriedigende Wissenschaft entsteht. Durch dieses Ausgehen von dem erfahrungsmäßig Gegebenen und durch ihre exakte Methode, insbesondere durch ihre Anwendung der Mathematik auf die Psychologie hat Herbarts Philosophie namentlich auf die Naturforscher anziehend gewirkt, die sich durch die phantastischen Kombinationen der Schellingschen Naturphilosophie ebenso abgestoßen fühlten, wie sich die nüchternen Historiker der apriorischen Geschichtskonstruktion Hegels widersetzten.
Außer den Vorgenannten haben unter den Nachfolgern Kants nur Fr. H. Jacobi (1743-1819) und A. Schopenhauer (1788-1860), letzterer erst in seinen letzten Lebensjahren, durchgreifenden Einfluß in weitern Kreisen der Leserwelt, beide zumeist durch ihre glänzende Begabung als Schriftsteller, geübt. Beide stimmen darin überein, daß sie den Intellekt zu gunsten einer andern psychischen Kraft, [* 14] der eine des Gemüts, der andre des Willens, zurücksetzen. Jener erklärte das Gefühl für das Organ, dieser den Willen für das »Ding an sich« der übersinnlichen Welt.
Ersterm (Jacobi) haben sein Theismus und seine Gefühlsgläubigkeit unter den »schönen Seelen«, diesem sein Pessimismus und offen bekannter Unglaube unter den »starken Geistern« zahlreiche Anhänger zugeführt. Von den Schülern der Vorgenannten haben einige zum Teil mehr oder weniger abweichende Richtungen eingeschlagen und selbst einen Kreis [* 15] von Jüngern um sich versammelt. Strenge Kantianer waren Schultz (gest. 1805), Jakob (gest. 1827), Erh. Schmid (gest. 1812) u. a., während W. T. Krug (1770-1842) als äußerst fruchtbarer Schriftsteller sich um die Popularisierung der Kantschen Philosophie Verdienste erwarb und J. Fr. ^[Jakob Friedrich] Fries (1773-1843) durch Verschmelzung mit der Jacobischen Glaubensphilosophie eine eigne Schule stiftete, welcher Apelt, Schleiden, Mirbt, v. Calker, De Wette u. a. angehörten. An Jacobi schlossen sich an: Köppen, Salat, Lichtenfels u. a. Fichtes Richtung verfolgten: Forberg, Niethammer, Schad, Mehmel; auch Fr. Schlegel (gest. 1829) und der Theolog Schleiermacher (gest. 1834), der später eine eigne Schule gründete, wurden durch ihn angeregt.
Schellings Natur- und Identitätsphilosophie fand in H. Steffens, L. Oken, J. ^[Joseph] Görres, Fr. v. Baader, I. P. ^[Ignaz Paul] Troxler, K. J. ^[Karl Joseph] Windischmann, G. H. Schubert, K. W. F. Solger, W. Nasse u. a. eifrige Bekenner, welche dieselbe auf die besondern, namentlich die Naturwissenschaften mit mehr oder weniger Glück anwandten. Schellings späterer sogen. positiver oder Offenbarungsphilosophie neigten sich zu: Beckers, Schaden, Schenach u. a. Sein anfänglicher Schüler Krause (gest. 1832) setzte dem Pantheismus der Naturphilosophie einen von ihm so genannten Panentheismus entgegen, der in Ahrens, Lindemann, Leonhardi u. a. Anhänger fand und durch den Erstgenannten auch nach Frankreich, Belgien [* 16] und Spanien [* 17] verpflanzt wurde.
Als Verbreiter der Herbartschen Lehre [* 18] sind besonders aufgetreten: Hartenstein, Drobisch, Exner, Bobrik, Strümpell, Taute, Th. Waitz, Lott, Wittstein, Schilling, Allihn, Thilo, Cornelius, Nahlowsky, Volkmann, R. Zimmermann. Die zahlreichste Litteratur hat die Hegelsche Schule aufzuweisen, deren Einfluß dank dem Formalismus ihrer Methode sich auf den Gebieten fast aller besondern Wissenschaften zeigt, wobei die Gegensätze der rechten (theistischen) und linken (pantheistischen), ja äußersten linken (atheistischen) Seite derselben scharf auseinander traten.
Erstere führte bald zur Gründung einer besondern Theistenschule, der I. H. ^[Immanuel Hermann] Fichte, Weiße, Ulrici, Wirth, Carriere, Reinhold der jüngere, Braniß u. a. angehörten; die letztgenannte, der sogen. »Junghegelianismus«, schlug zuletzt in völligen Materialismus um. Innerhalb des durch Hegel mehr oder weniger beherrschten Gedankenbereichs wurde die Logik durch Gabler, Hinrichs, Schaller, Werder, Erdmann, Kuno Fischer, Biedermann, die Naturphilosophie durch Schaller, Bayrhoffer, Menzzer, Schultz-Schultzenstein, Ernst Kapp, die Psychologie durch Rosenkranz, Michelet, Daub, Erdmann, die Rechtsphilosophie durch Gans, Göschel, Hinrichs, Besser, Bitzer, Oppenheim, Friedländer, Köstlin, Hasner, die Philosophie der Geschichte durch Chr.
Kapp, Rosenkranz, Löser, Gladisch, Hermann, Wuttke, die Ästhetik durch Hotho, Rötscher, Carriere, Weisse, Vischer, Köstlin, Zeising, die Theologie durch Daub, Marheineke, Vatke, Rosenkranz, Conradi, Deutsche Strauß, [* 19] Br. Bauer, F. Chr. Baur, E. Zeller, K. Schwarz, die Moral und Ethik durch Daub, Henning, Michelet, Wirth, Vatke u. a. bearbeitet. Das besondere Verdienst, die Prinzipien der Hegelschen Schule kritisch auf die evangelische Geschichte und die christliche Dogmatik angewandt zu haben, erwarb sich David Strauß (1808-74), dessen philosophische Grundideen bis zur äußersten Konsequenz Ludwig Feuerbach (1804-1872) verfolgte. Den von letzterm angedeuteten Hauptgedanken des Humanismus entwickelte Arnold Ruge (gest. 1880) weiter, die humane Religion als die »Religion unsrer Zeit« verkündend. In ihren Ausläufern Bruno und Edgar Bauer, Jellinek, Julius u. a. verirrte sich die Methode Hegels zum karikierenden Extrem und brachte Monstrositäten, wie die von Max Stirner gelieferte Apotheose des Egoismus, hervor, die schließlich zur Auflösung der Schule führten. Den dadurch (seit 1848) in der Litteratur frei gewordenen Raum haben teils ältere, bisher durch die Hegelsche Schule zurückgedrängte Philosophien, ¶