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mit einer Neigung zur zersetzenden Reflexion, [* 2] ein tiefes Kunstgefühl mit phantastischen Übertreibungen und Verirrungen paaren. Den Neigungen des deutschen Publikums besser entgegenkommend zeigte sich die Entwickelung einer minder genialen, aber klaren, vielseitigen Dichterbegabung wie diejenige Gustav Freytags (geb. 1816). Mit Dramen beginnend, welche moderne Lebenskreise in einer eigenartigen Mischung von Ernst und Ironie darstellten (»Die Valentine«, »Graf Waldemar«, »Die Journalisten«),
in den sozialen Romanen: »Soll und Haben« u. »Die verlorne Handschrift« mit Glück das Leben und die Ideale des gebildeten Bürgertums von heute gestaltend, in der großen Romanfolge »Die Ahnen« eine Reihe mehr oder minder wirksamer historischer Erzählungen gebend, welche die Entwickelung eines deutschen Geschlechts von den Tagen der Völkerwanderung bis zur jüngsten Vergangenheit verkörpern, als Essayist durch seine vorzüglichen »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« ausgezeichnet, nimmt Freytag einen hohen Rang auch für diejenigen ein, welche der spezifisch »realistischen Schule«, die er mit begründet, keineswegs die gesamte Zukunft der deutschen Poesie zusprechen.
Dem Realismus gehörte auch die starke und tiefe, in Tragödien (»Der Erbförster«, »Die Makkabäer«) und Erzählungen (»Die Heithereithei« ^[richtig: Heitherethei], »Zwischen Himmel [* 3] und Erde«) bethätigte Dichterkraft von Otto Ludwig (1813-65) an. Andre realistische Poeten, die vielversprechend begannen, waren Edm. Höfer (gest. 1882, »Erzählungen aus dem Volk«, »Schwanwieck«, »Gedichte«, eine lange Reihe von größern Romanen, darunter: »Altermann Ryke«, »Unter der Fremdherrschaft«),
M. A. Niendorf (gest. 1878, »Die Hegler Mühle«),
Theod. Fontane (Balladen, »Vor dem Sturm«, Roman; »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«; [* 4] stimmungsvolle Novellen),
F. Chr. Scherenberg (gest. 1881) mit den Schlachtgemälden: »Waterloo«, [* 5] »Leuthen« [* 6] und »Abukir«. In den zahlreichen Romanen und Erzählungen F. W. Hackländers (gest. 1877, »Bilder aus dem Soldatenleben«, »Namenlose Geschichten«, »Eugen Stillfried« etc.) verflüchtigte sich der Realismus schon wieder zu äußerlicher Genredarstellung und Unterhaltungslitteratur. Über den spezifischen Realismus hinaus strebte das kräftige und originelle lyrische und erzählende Talent des Schweizers Gottfried Keller (geb. 1819), dessen »Gedichte«, der Roman »Der grüne Heinrich«, die Novellensammlungen: »Die Leute von Seldwyla« und »Züricher Novellen«, die »Sieben Legenden« sich den besten und selbständigsten poetischen Schöpfungen der jüngsten Periode hinzugesellen.
Die Berufung einer größern Zahl von poetischen und litterarischen Talenten durch den kunstsinnigen König Maximilian II. von Bayern [* 7] gab Anlaß, von einer »Münchener Dichterschule« zu sprechen, ohne daß sich indes bei den höchst verschiedenartigen Talenten, die um die poetische Tafelrunde des Bayernkönigs momentan vereinigt wurden, ein andrer gemeinsamer Grundzug nachweisen ließe als eine stärkere Betonung [* 8] der poetischen Form und größere künstlerische Freude an derselben, als sonst der Litteratur der Gegenwart eigentümlich ist, eine Bevorzugung des formellen Elements, welche sich bei einzelnen schwächern, unselbständigen Talenten zu einer Art Alexandrinismus steigerte. Nächst Eman. Geibel, dessen bereits gedacht ist, erwies sich Paul Heyse (geb. 1830) in lyrisch-epischen Dichtungen (»Novellen in Versen«, »Skizzenbuch aus Italien«, [* 9] »Thekla«, »Syritha«),
in Dramen (»Elisabeth Charlotte«, »Ludwig der Bayer«, »Hadrian«, »Hans Lange«, »Kolberg«, [* 10] »Alkibiades«, »Don Juans Ende« u. a.),
im Roman (»Kinder der Welt«, »Im Paradies«),
namentlich aber in einer langen Reihe von fein gestimmten, farbenreichen, zum Teil vollendeten Novellen als das glücklichste und vielseitigste Talent dieses Kreises. Demselben gehörten ferner an: Fr. Bodenstedt (geb. 1819), ausgezeichnet als Übersetzer, in den eignen lyrischen Dichtungen (»Lieder des Mirza Schaffy«, »Einkehr«, »Aus Mirza Schaffys Nachlaß« u. a.) formgewandt und voll naiv-heiterer, an Hafis anklingender Lebensweisheit; der farbenreiche Herm. Lingg (geb. 1820, »Die Völkerwanderung«, »Gedichte«),
der kulturhistorische Schriftsteller und kräftige Erzähler W. H. Riehl (geb. 1824),
der Poet und Essayist Fr. v. Löher (»General Sporck«, »Reiseschilderungen«),
Julius Grosse (»Das Mädchen von Capri« [* 11] und andre epische wie lyrische Dichtungen),
Will. Hertz (»Gedichte«, »Lancelot und Ginevra«, »Bruder Rausch«),
F. A. v. Schack (»Durch alle Wetter«, [* 12] erzählende Dichtungen; Meisterübertragung des Firdusi). - Eine andre charakteristische Gruppe in der modernen Poesie bilden diejenigen Dichter, welche aus der Fülle der gelehrten Detailforschung neue Elemente und Farben für die Litteratur zu gewinnen strebten. Dies führte teils zu originell lebensvollen, teils zu gewaltsam erzwungenen archäologisch-philologischen Produktionen, bei denen die Poesie zu kurz kam. Der bedeutendste, kräftigste, poetisch vollberechtigte Vertreter dieser Richtung ist Joseph Viktor Scheffel (geb. 1826) mit lyrischen und lyrisch-epischen Gedichten (»Gaudeamus«, »Frau Aventiure«, »Der Trompeter von Säckingen«) und historischen Romanen aus der deutschen Vergangenheit (»Ekkehard«, »Juniperus«).
Ferner gehören hierher: R. Hamerling (»Ahasver in Rom«, [* 13] »Der König von Zion«, Epen; »Aspasia«, Roman),
Georg Ebers (mit den ägyptischen Romanen: »Eine Königstochter«, »Uarda«, »Homo sum«, »Die Schwestern«, »Der Kaiser«),
Franz Trautmann (»Herzog Christoph«),
Felix Dahn (»Gedichte«, »Ein Kampf um Rom«, »Sind Götter?«, »Odhins Trost«, »Felicitas«) und zahlreiche andre. Hängt die Besonderheit dieser poetischen Richtung noch mit der Entwickelung der Wissenschaft und der wachsenden Teilnahme eines breitern Publikums an dieser Entwickelung zusammen und darf insofern autochthon genannt werden, so erscheint die Wandlung des Realismus in einen sogen. Naturalismus oder »Verismus«, der hauptsächlich im Häßlichen schwelgt und die Brutalität allein für »Wahrheit« erachtet, durchaus als Nachahmung.
Die Erfolge Zolas in Frankreich, diejenigen der naturalistischen Romandichter in Rußland haben eine Anzahl von deutschen Nachahmern erweckt, und die »Wahrheit« wird der poetischen Gestaltung und der absichtslosen Lebensfülle echter Poesie ebenso entgegengestellt wie früher die politische Tendenz. Auch die Schule der Naturalisten wird eine vorübergehende sein und der wirklichen Poesie, die über aller Mode steht und jede Mode überdauert, wiederum Raum geben.
Bei vielen noch in der Entwickelung begriffenen oder auf ein kleines Gebiet beschränkten Bestrebungen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart erweist sich eine Gesamtcharakteristik und Gruppierung zunächst als unmöglich. Als talentvolle Lyriker erwarben sich Anerkennung: Wolfgang Müller von Königswinter;
Julias Hammer [* 14] (trefflich in gnomischen und lehrhaften Poesien);
Julius Sturm, dessen Lieder keusche und wahre Frömmigkeit atmen;
Otto Roquette, der volksmäßige Töne in jugendfrischen Liedern anschlug;
Klaus Groth, dessen plattdeutsche Dichtungen von ¶
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seltener Gemütstiefe zeugen; J. G. ^[Johann Georg] Fischer (auch Dramen), Julius Rodenberg (auch Romane und lebendige Wanderstudien), Emil Rittershaus; ferner Karl Siebel, Felix Dahn, Karl Lemcke, W. Osterwald, A. Strodtmann, Ad. Stern, H. Leuthold, Ludwig Pfau, Otto Banck, Hugo Ölbermann, der »Platenide« Albert Möser, Herm. Allmers, Albert Traeger, R. Leander, Max Schlierbach, Martin Greif, [* 16] Ernst Scherenberg, Katharina Diez, Herm. Kletke. Als Dialektdichter sind die Österreicher Fr. Stelzhamer und K. A. Kaltenbrunner, die Bayern Franz v. Kobell und Karl Stieler, der Nordfranke Friedr. Hofmann, die Plattdeutschen Brinckmann und Hobein vor andern anzuführen.
Auf dem Gebiet der philosophischen und philosophisch-didaktischen Dichtung versuchten sich: W. Jordan mit seinem umfangreichen Mysterium »Demiurgos«, einer Art moderner Theodicee;
A. Schlönbach (»Weltseele«),
in der epischen und episch-lyrischen Dichtung: Ad. Böttger (»Habana«, [* 17] »Ein Frühlingsmärchen«),
O. Roquette (»Waldmeisters Brautfahrt«, »Herr Heinrich«, »Hans Heidekuckuck«, »Gevatter Tod«),
Ferd. Gregorovius (»Euphorion«),
R. Gottschall (»Carlo Zeno«, »Maja«),
Aug. Becker (»Jungfriedel, der Spielmann«),
Ad. Strodtmann (»Rohana«),
H. Neumann (»Nur Jehan«),
Ad. Stern (»Jerusalem«, [* 18] »Johannes Gutenberg«),
der frische Rudolf Baumbach (»Lieder eines fahrenden Gesellen«, »Zlatorog«, »Frau Holde«),
W. Jordan (»Nibelungen«),
Eckstein (»Schach der Königin«, »Venus Urania«),
Wolfg. Müller (»Die Maikönigin«, »Zauberer Merlin«),
Julius Wolff (»Der Rattenfänger von Hameln«, [* 19] »Der wilde Jäger«, »Till Eulenspiegel«, »Tannhäuser«),
Hans Herrig (»Die Schweine«, [* 20] »Mären und Geschichten«),
Ed. Grisebach (»Der neue Tannhäuser«, »Tannhäuser in Rom«).
Auch im Drama höhern Stils ergab sich die Dichtung nicht, wenn schon sie, namentlich seit den letzten beiden Jahrzehnten, auf der Bühne den Tagesproduktionen teils hausbackener, teils frivoler Natur immer entschiedener nachgesetzt ward und die Kluft zwischen den eigentlichen Aufgaben der dramatischen Dichtung und dem, was »theatralisch brauchbar« heißt, sich täglich mehr erweiterte, so daß nur ein sehr geringer Teil des auf den Brettern Erfolgreichen auch nur den untergeordnetsten litterarischen Wert beanspruchen konnte.
Den 50er und 60er Jahren gehörten die dramatischen Bestrebungen von Alfred Meißner (»Das Weib des Urias«, »Reginald Armstrong«),
Rud. Gottschall (»Pitt und Fox«, »Mazeppa«, »Katharina Howard«),
O. v. Redwitz (»Philippine Welser«, »Zunftmeister von Nürnberg«), [* 21]
Hans Köster (»Der große Kurfürst«),
Melchior Meyr (»Herzog Albrecht«),
A. May (»Cinq-Mars«, »Zenobia«),
Ed. Tempeltey (»Klytämnestra«),
R. Prölß (»Katharina Howard«),
Moritz Heydrich (»Tiberius Gracchus«) an. Eine mehr theatralisch-äußerliche Richtung als die Genannten verfolgten H. Mosenthal (gest. 1877, »Deborah«, »Die deutschen Komödianten«, »Der Sonnwendhof«),
Arthur Müller, Hermann Hersch (»Anna-Lise«). Glänzende Theatererfolge errang auch mit seinen originell-pikanten Dramen A. E. Brachvogel (gest. 1878, »Narziß«, »Adalbert vom Babanberge«, »Ein Usurpator«, »Die Harfenschule«). Auch in den letzten Jahrzehnten traten neue dramatische Kräfte hervor, die sich nur selten eines mäßigen Entgegenkommens seitens der Bühne erfreuten, so Joseph Weilen (»Tristan«, »Graf Horn«),
Albert Lindner (»Brutus und Collatinus«, »Die Bluthochzeit«),
Ferd. v. Saar (»Kaiser Heinrich IV.«, »Die beiden de Witt«),
O. Roquette (»Sebastian«, »Des Hauses Ehre«),
das fruchtbarste poetisch-dramatische Talent des letzten Jahrzehnts (»Der Graf von Hammerstein«, »Gracchus der Volkstribun«, »Giordano Bruno«, »Kriemhild«, »Natalia«, »Die Tochter des Herrn Fabricius« u. a., die Lustspiele: »Die Maler«, »Die Vermählten«); K. Kösting (»Kolumbus«),
Ludw. Schneegans (»Maria von Schottland«, »Der Weg zum Frieden«, »Jan Bockhold«),
H. Kruse (»Wullenweber«, »Moritz von Sachsen«, [* 22] »Das Mädchen von Byzanz«),
Hans Herrig (»Konradin«, »Alexander«),
O. Girndt (»Dankelmann«),
F. Nissel (»Agnes von Meran«), [* 23]
Ernst v. Wildenbruch (»Harold«, »Die Karolinger«, »Der Mennonit«, »Väter und Söhne«). Volkstümliche Wirkungen erzielten Al. Rost (»Der Schmied von Ruhla«),
Ludw. Anzengruber (»Der Pfarrer von Kirchfeld«, »Der Gewissenswurm«),
Herm. v. Schmid (gest. 1880, »Der Tatzelwurm«, »Die Z'widerwurzen«),
Ludw. Ganghofer (»Herrgottsschnitzer von Ammergau«). Auf dem Gebiet des bürgerlichen Schau- und Lustspiels herrschten beinahe ausschließlich die gewandten Dramatiker, welche sich dem sogen. praktischen Bühnenbedürfnis unterordneten. Neben den früher erwähnten Roderich Benedix und Charlotte Birch-Pfeiffer erstrebten zunächst noch die Lustspiele von Karl Töpfer, Ed. Devrient u. a. Wirkungen auf ein anspruchsloses Publikum, das dem eigentlichen Wesen der Komödie noch mehr entfremdet schien als zu Kotzebues Zeiten.
Höheres leisteten in der neuern Zeit Dramatiker wie G. zu Putlitz (mit zahlreichen größern und namentlich kleinen einaktigen, zum Teil recht feinen Scherzen, nachmals auch mit einigen ernsten Schauspielen), W. Jordan (»Die Liebesleugner«, »Durchs Ohr«), [* 24]
F. W. Hackländer (»Der geheime Agent«),
E. Wichert (»Ein Schritt vom Wege«, »Die Realisten«) um die Wette mit dem noch immer produktiven E. v. Bauernfeld (»Moderne Jugend«, »Aus der Gesellschaft«). Große Bühnenerfolge erzielte Paul Lindau [* 25] (geb. 1839) mit seinen an die Tagesinteressen angeknüpften feuilletonistisch belebten Stücken (»Marion«, »Maria und Magdalena«, »Ein Erfolg«, »Johannistrieb«, »Gräfin Lea«, »Verschämte Arbeit«),
ebenso Ad. L'Arronge (geb. 1838),
der in »Mein Leopold«, »Doktor Klaus« etc. beachtenswerte Anläufe zu gesunden Volksstücken nahm. Die Masse der Bühnenlieferanten schuf nur rasch vergängliche Tagesware; die Generationen der Lustspieldichter lösten sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ab. Hier sind daher nur noch zu nennen: L. Feldmann, Lederer, Th. Apel, A. Görner, Berger, Zahlhas, Hippolyt Schauffert (»Schach dem König«),
Feodor Wehl, S. Schlesinger, Th. Gaßmann, Hugo Müller, Schleich, Julius Rosen, G. v. Moser, Hugo Bürger, J. B. ^[Jean Baptista] v. Schweitzer, F. v. Schönthan, O. Blumenthal, R. Kneisel; endlich als Possenverfasser: A. Glaßbrenner, Nestroy, Wollheim, Th. Gaßmann, Deutsche [* 26] Kalisch [* 27] (»Hunderttausend Thaler«, »Berlin [* 28] bei Nacht« etc.),
Fr. Räder (»Der Weltumsegler wider Willen«, »Ella«) u. a.
Aus der fast unübersehbaren Masse der Romanlitteratur hoben sich einige Namen und Werke als bedeutend und von dauerndem Wert hervor. Freilich aber sehen sich die poetischen Talente der Gegenwart in überwiegender und fast bedenklicher Weise zu den Formen des Romans und der Novelle gedrängt, welche wohl die freieste und ungehemmteste Entfaltung der persönlichen Anschauung, der ¶