mehr
miteinander bewundert wurden. Der gemeinsame Grundzug aller Bestrebungen und Zeitstimmungen blieb der Gegensatz zur phantasielosen Nüchternheit, zur begnügsamen Halbheit und zur hohlen Selbstgefälligkeit des Rationalismus.
Der größte Repräsentant des »Sturms und Dranges« (wie die Bewegung später nach dem Titel eines wildphantastischen Dramas von F. M. Klinger getauft ward) war Johann Gottfried Herder (1744 bis 1803), in dessen zahlreichen und vielartigen Schriften sich alle geistigen Elemente der Bewegung begegneten. Die Genialität, der Gedankenreichtum und die ethische Hoheit Herders wirkten mächtig auf die ganze Litteratur der Zeit ein; speziell für die Dichtung wurde seine Anschauung über das Wesen der Ur- und Volkspoesie ganz entscheidend.
Was Herder in den Hauptwerken seiner zweiten klassischen Periode, dem Buch »Vom Geiste der ebräischen Poesie«, den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1785-94),
den Dichtungen und Abhandlungen der »Zerstreuten Blätter« gab, war nur Läuterung und weitere Ausführung der in seinen Jugendarbeiten gegebenen Anregungen. Als selbständiger Dichter blieb Herder vorwiegend didaktisch und reflektierend; seinen eignen Forderungen an die Poesie kam er am nächsten in den von ihm übertragenen und gesammelten »Volksliedern« und dem Romanzenkranz »Der Cid«. An Herders erster Entwickelung hatte eine kleine Gruppe von Königsberger Schriftstellern bedeutenden Anteil, die ihrerseits mit der geistigen Welt und den Lebensregungen des deutschen Pietismus zusammenhängen, der während der Sturm- und Drangperiode auch von andrer Seite her sich in der Litteratur Geltung verschaffte.
Unter diesen Königsbergern finden wir G. Hamann (1730-88), dessen »Sibyllinische Blätter« die Keime zu Herders Ideen einschließen, und Th. G. v. Hippel (1741-96),
dessen humoristische Romane: »Lebensläufe nach aufsteigender Linie« und »Kreuz- und Querzüge des Ritters A-Z« eine denkwürdige Mischung rationalistischer und frommgläubiger Anschauungen und Empfindungen verbanden. Stärker noch erscheint das pietistische Element mit dem kraftgenialen gemischt in den Dichtungen und Volksschriften des »Wandsbecker Boten« Matthias Claudius (1740-1815),
der zu den ersten gehörte, welche den Ton des echten, herzgebornen Volksliedes wiederum trafen, und in den Schriften von Heinrich Jung, genannt Stilling (1740-1817),
dessen Selbstbiographie »Heinrich Stillings Leben« nebst den Romanen »Geschichte des Herrn von Morgenthau« und »Florentin von Fahlendorn« die eigentümlichen Lebensanschauungen und Erlebnisse der »Stillen im Lande« spiegelten. Zu den Schwärmern und Mystikern hinüber neigte auch Fr. Heinrich Jacobi (1743-1819),
dessen religionsphilosophische Schriften und Romane (»Eduard Allwills Papiere« und »Woldemar«) die bedenklichen Seiten eines schwelgenden Gefühlslebens und der Rousseauschen Einwirkungen offenbarten.
Die große dichterische Aufgabe der Zeit blieb die Rückgewinnung der Natur, und die jugendlichen Lyriker rangen mit allen Kräften, nicht nur den Ausdruck für die unmittelbare Empfindung, sondern auch neue, ausdruckswerte Gefühle zu gewinnen. Von besonderer Bedeutung hierfür ward die Gruppe junger Dichter, die sich im (Göttinger) sogen. Hainbund zusammengeschlossen hatte. Zu ihr gehörten außer H. Chr. Boie (1744-1806), dem Herausgeber des »Musenalmanachs«, zu welchem sich auch andre Kräfte scharten, die beiden Brüder Christian (1748-1821) und Friedrich Leopold (1750-1819),
Grafen zu Stolberg, [* 2] Johann Martin Miller aus Ulm [* 3] (1750 bis 1814),
der mit einigen Liedern und dem sentimentalen Roman »Siegwart, eine Klostergeschichte« nachmals zu einer vorübergehenden Bedeutung gelangte, Karl Friedr. Cramer (1752-1807),
Joh. Fr. Hahn [* 4] (gest. 1779),
dessen Tragödie »Julius von Tarent« große, unerfüllt bleibende Hoffnungen erregte; ferner der liebenswürdige, naiv-fröhliche und innige Liederdichter Ludwig Heinrich Christoph Hölty (1748-76) und Johann Heinrich Voß (1751-1826), die eigentliche Seele des Bundes. Letzterer repräsentiert schon die Entwickelung vom Sturm und Drang zu klassischen, bleibend wertvollen Dichtungen. Seine Natur drängte ihn in der reinen Lyrik zur Reflexion [* 5] und zum breiten Moralisieren; zur Vollendung gelangte er als Idyllendichter in einer Reihe kleiner Meisterstücke und den besten Episoden seines Gedichts »Luise«; die größte Wirkung und Nachwirkung aber gewann er durch seine meisterhaften Übertragungen der Homerischen »Ilias« und »Odyssee«. Den Göttingern nahe stand, obschon er dem studentischen Dichterbund nicht angehörte, Gottfried August Bürger (1748-94), der die neuen Forderungen an den Dichter mit seinen besten Liedern und kraftvollen Balladen zuerst ganz erfüllte, zuerst echt volkstümliche, herzergreifende Töne, die unmittelbarste Lebendigkeit der Erzählung und Schilderung, sinnliche Frische und hinreißende Macht des Ausdrucks besaß. - Während die Lyriker solchergestalt zur vollen Selbständigkeit erwuchsen, vertauschten die dramatischen Talente der Sturm- und Drangperiode die seither geltenden Muster mit dem Anschluß an Shakespeare, der mit Homer, Rousseau und dem nebelhaften Ossian den ganzen Enthusiasmus der brausenden, nach Leben und Originalität begehrenden Jugend erweckte und nährte.
Die meisten glaubten durch Nachahmung der vermeinten Formlosigkeit Shakespeares seine gewaltige Wirkung zu erreichen, und so entschiedene Anstrengung die damalige Bühne auch machte, mit der dramatischen Dichtung in Verbindung zu bleiben, so war die Entstehung zahlloser Buchdramen um so weniger zu hindern, als in sehr vielen Fällen das Drama nur den Vorwand abgab und Szenen und Dialoge zum Vehikel der gärenden Neuerungsideen und selbst, wie bei Lenz, subjektiver Grillen, ja Verrücktheiten dienten. Zu den Geniedramatikern gehörten M. F. Klinger (1752 bis 1771), dessen wildleidenschaftliche Dramen und spätere Romane uns Geist und innere Widersprüche der Zeit ebenso vergegenwärtigen, wie dies das Leben des Dichters selbst thut;
M. Reinhold Lenz (1750 bis 1792), der in den Dramen: »Der Hofmeister«, »Die Soldaten« und »Der neue Menoza« Fratze und lebensvolle Genialität unerquicklich verband;
Friedrich Müller (»Maler Müller«, 1750-1825),
dessen »Pfalzgräfin Genoveva« und »Faust« wenigstens Ansätze zu echter Charakteristik und Lebensdarstellung enthielten;
Fr. v. Goué (gest. 1789),
Heinrich Leopold Wagner (1747-83),
Ludwig Philipp Hahn (1748-87),
J. F. ^[Johann Friedrich] Schink (1755-1834) u. a. An Goethes »Götz von Berlichingen« schlossen sich die Verfasser von Ritterdramen, Jakob Maier (1739-1784, »Fust von Stromberg«, »Der Sturm von Boxberg«),
J. A. ^[Joseph August] v. Törring (1754-1826, »Kaspar der Thorringer«, »Agnes Bernauerin«),
Franz Marius v. Babo (1756-1822, »Otto von Wittelsbach«),
an. Eine andre Gruppe von Dramatikern übertrug den Sturm und Drang, das Verlangen nach neuem Leben und die Darstellung desselben ins ¶
mehr
Bürgerliche. Hier ging A. W. Iffland (1759-1814) allen voran, der in der langen Reihe seiner bürgerlichen Dramen und Rührstücke ein höchst charakteristischer Sprecher der gegen die alten Gesellschaftszustände aufbäumenden, mit Rousseauschen Ideen genährten Zeitstimmung war. -
Die dehnbare und schwankende Form des Romans bot natürlich noch weit mehr Gelegenheit als das Drama, die Phantasien, die Empfindungen, die heftigen und leidenschaftlichen Wünsche und Weltverbesserungsansichten der jugendlichen Generation darzulegen. Eine Anzahl der »Kraftgenies« und der ringenden Naturen der Periode bediente sich dieser praktischen Form; selbst eine so scharf verständige und kaustisch-nüchterne Natur wie Goethes Darmstädter Freund J. H. ^[Johann Heinrich] Merck (1742-91) entwarf einige kleinere Romane und Sittenbilder (»Lindor«, »Herr Oheim der jüngere«).
Unter den Stürmern und Drängern sind hier zu nennen: Wilhelm Heinse (1749-1803),
in seinen Romanen: »Ardinghello, oder die glückseligen Inseln« und »Hildegard von Hohenthal« feurige Kunstbegeisterung und schwelgerisch-üppige Sinnlichkeit verbindend;
J. K. ^[Johann Karl] Wezel (1747-1819, »Hermann und Ulrike«),
Joach. Chr. Schulz (1762-98, zahlreiche Romane),
dessen »Anton Reiser«, ein autobiographischer Roman von eigentümlichster Bedeutung, einen vollen Einblick in die Gegensätze und die Gärung der Zeit verstattet. -
An die Romandichter reihen sich jene Prosaiker der Periode an, welche in schildernden und historisch darstellenden Schriften die ganze bunte Mannigfaltigkeit, das Durcheinanderwogen der Bestrebungen und Meinungen repräsentieren, und unter denen es an einer Reihe von Originalgestalten, die Träger [* 7] der entschiedensten geistigen Gegensätze waren, gleichfalls nicht fehlte. Hier sei erinnert an Justus Möser (1720-94), in seinen »Osnabrückschen Geschichten« ein geistvoller Historiker, in seinen »Patriotischen Phantasien« der beredte Lobredner des deutschen Individualismus und einer natürlich-gesunden Grundlage aller gesellschaftlichen Zustände; an den Weltumsegler Georg Forster (1754-94),
dessen »Schilderungen aus der Südsee« und »Ansichten vom Niederrhein« von Rousseauschem Geist erfüllt waren; an den volkstümlichen Journalisten und Poeten Chr. Daniel Schubart (1743 bis 1791),
den Herausgeber der »Deutschen Chronik«.
In und aus der wilden Gärung der eigentlichen Sturm- und Drangperiode rangen sich die größten Naturen und vorzüglichsten Geister der deutschen Litteratur zu reiner und bleibender Wirkung empor. Galt dies schon von Herder, Voß u. a., so kam es in erhöhtem Maß zum Bewußtsein bei den beiden größten Dichterbegabungen der Nation, welche mit ihren Anfängen und einem guten Teil ihrer Entwickelung im Sturm und Drang wurzelten und sich nur insofern von demselben lösten, als sie die bleibenden Lebenselemente und Forderungen, welche der Periode entstammten, in ihren Dichtungen zum unverlierbaren Besitz der Nation, zur Voraussetzung der gesamten deutschen Bildung wandelten.
Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), mit seinen Erstlingswerken, dem Drama »Götz von Berlichingen« und dem Roman »Die Leiden [* 8] des jungen Werther«, welche die Forderung warm natürlicher unmittelbarer Lebensdarstellung über die hochfliegendsten Hoffnungen hinaus erfüllten, sofort der gefeiertste Dichter der Sturm- und Drangperiode, erhob sich im Verlauf seiner mächtigen und einzigen Entwickelung zum größten Dichter der Nation und der letzten Jahrhunderte überhaupt.
Lyriker von unvergleichlicher Tiefe und höchstem Empfindungsreichtum, als Epiker und Dramatiker Schöpfer einer ganzen Reihe von Werken des tiefsten Gehalts und der edelsten Form, die sämtlich die Macht seiner Phantasie, den Adel seiner Natur, die größte Weltkenntnis und Weltbeherrschung neben der unbeirrbaren Simplizität und beinahe unversieglichen Frische einer großen Künstlernatur erwiesen, wirkte Goethe tief auf die deutsche Entwickelung und weit über die Nation hinaus auf andre Litteraturen.
Die eigentümlichste Durchdringung von objektiv angeschautem und dargestelltem Leben mit der Leidenschaft und dem subjektiven Gehalt seines Busens, die Versöhnung der ausgebreitetsten und vielseitigsten Bildung mit der ursprünglichsten Leidenschaft und Stärke, [* 9] die ethische wie die künstlerische Läuterung seines Genius, für welche seine Werke Zeugnisse sind, wurden erst ganz begriffen, als die Reihe seiner größern und kleinern Werke, vor allen die dramatischen Dichtungen: »Egmont«, »Iphigenia«, »Torquato Tasso«, die epische Dichtung »Hermann und Dorothea«, die Romane: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« und »Die Wahlverwandtschaften«, die klassischen Spätlingswerke: »Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung« und »Westöstlicher Diwan«, endlich die über Goethes ganzes Leben sich erstreckende Dichtung »Faust« (das weltumfassendste und tiefste poetische Werk der neuhochdeutschen Litteratur überhaupt), die Fülle seiner Lieder und übrigen lyrischen Gedichte, die ganze Summe seiner schaffenden, forschenden und bildenden Thätigkeit, mit der er gestrebt hatte, sich ein Ganzes zu erbauen, überblicken ließ.
Einer raschern Wirkung erfreute sich Friedrich Schiller (1759-1805), der dem Freiheits- und Humanitätsdrang des 18. Jahrh. den mächtigsten und poetisch schwungvollsten Ausdruck in seinen Dichtungen gab. Mit den Dramen: »Die Räuber«, »Fiesco«, »Kabale und Liebe« und »Don Karlos« beginnend, deren jedes eine Sehnsucht und Forderung der Zeit gewaltig fortreißend aussprach und lebendig verkörperte, durch seine historischen Schriften (»Geschichte des Abfalls der Vereinigten [* 10] Niederlande«, [* 11] »Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs«) bahnbrechend für eine gedankenreiche, farbenvolle und fesselnde Prosadarstellung, leitete Schiller mit seinen philosophisch-kritischen Abhandlungen (namentlich mit den »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts«) die Versöhnung zwischen den Anschauungen der Gärungsepoche und der strengen Ethik der Kantschen Philosophie ein und dokumentierte jenen einzigen subjektiven Idealismus, jene wunderbare Selbstläuterung, jene Durchbildung zur künstlerischen Vollendung in seinem Sinn, welche ihn mit Goethe in geistigen Einklang setzte und alle Gedichte seiner zweiten Periode sowie die Reihe seiner Meisterdramen (»Wallenstein«, »Maria Stuart«, »Die Jungfrau von Orléans«, [* 12] »Die Braut von Messina«, [* 13] »Wilhelm Tell«, den Torso des »Demetrius«) durchdringt und verklärt.
Neben den großen Gestalten Goethes und Schillers erschienen die Zeitgenossen kleiner, als sie waren. Das Publikum freilich ließ sich das Recht nicht nehmen, auf seine eigne Weise neben den Heroen Größen zu schaffen und anzuerkennen. Bald bewunderte es die geistvolle und phantasiereiche, aber fragmentarische und schon frühzeitig manieristische Weise von Jean Paul Friedrich Richter (Jean Paul, 1763-1825), dessen beste Romane, wie »Hesperus«, »Titan«, »Siebenkäs«, »Die Flegeljahre«, es einigermaßen rechtfertigten, wenn man ihn als den klassischen Humoristen bezeichnete; bald hielt es sich an Poeten, welche auf einem kleinen, beschränkten Gebiet Vorzügliches ¶