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daß der kaum hergestellte Zusammenhang zwischen der Gesamtentwickelung der Dichtung und der deutschen Bühne jeden Augenblick wieder durch das theatralische Bedürfnis in Frage gestellt ward. Die Schau- und Lustspiele von Fr. Ludw. Schröder (»Das Porträt der Mutter«),
Otto Heinr. v. Gemmingen (»Der deutsche Hausvater«),
G. W. Großmann (»Nicht mehr als sechs Schüsseln«, »Henriette«) ragten schon zum Teil in die Sturm- und Drangperiode hinüber und wurden von deren geistigen Stimmungen ebenso beeinflußt wie von den Lessingschen Dramen. Ward Lessing selbst der Hauptbegründer einer klassischen deutschen Prosa, so daß ein großer Teil der besten Prosaisten des nächsten Zeitraums sich wesentlich nach ihm bildete, so waren doch neben ihm eine Reihe andrer Schriftsteller auf verschiedenen Gebieten aufgetreten, die durch die Form ihrer Werke die Entwickelung der Nationallitteratur fördern halfen.
Noch dem vorigen Zeitraum hatten Gottfried Arnolds »Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie«, Mascovs »Geschichte der Teutschen« und H. v. Bünaus »Teutsche Kaiser- und Reichshistorie«, die Anfänge einer pragmatischen deutschen Geschichtschreibung, angehört. Der größte Zeitgenosse Lessings, Johann Joachim Winckelmann (1717-68),
übte durch seine epochemachende »Geschichte der Kunst des Altertums« (1764) eine tiefgehende, befreiende Wirkung auf die gesamte deutsche Litteratur und das Erwachen einer lebendigen, sichern, aus Anschauung und Genuß erwachsenden Empfindung für das Schöne. Viel unbedeutendern, aber immerhin nicht zu vergessenden Einfluß erlangte J. A. ^[richtig: J. G.] Sulzer (1720-79) mit seiner »Theorie der schönen Künste«. Als Popularphilosophen, welche einzelne Untersuchungen und Betrachtungen in mustergültiger Form weitern Kreisen der Bildung vermittelten, sich mit Lessings Bestrebungen vielfach berührten, ohne ihm irgend gleichzukommen, traten hervor Moses Mendelssohn (1729-86), der erste Israelit, welcher eine maßgebende und einflußreiche Stellung in der deutschen Litteratur gewann, der Verfasser des »Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele« und der »Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Dasein Gottes«; der Schweizer Isaak Iselin (1728-82) mit den »Philosophischen und patriotischen Träumen eines Menschenfreundes« und der Abhandlung »Über die Geschichte der Menschheit«; der Österreicher Joseph v. Sonnenfels (1733-1817),
der direkt Lessing nachahmte, aber mit seiner mannigfach aufklärenden Vielgeschäftigkeit sich zu dauernd wertvollen Leistungen nicht erhob, obschon seine »Briefe über die wienerische Schaubühne« und die Abhandlung »Über die Abschaffung der Tortur« zu ihrer Zeit hoch gepriesen wurden;
Thomas Abbt (1738-66) mit den Abhandlungen: »Vom Verdienst« und »Vom Tod für das Vaterland«;
Joh. Georg Zimmermann (1728-95) mit den vielgelesenen »Betrachtungen über die Einsamkeit«;
der in seinen »Versuchen« und »Vermischten Aufsätzen« mannigfache Themata des Lebens, der Moral und Litteratur mit bemerkenswerter Klarheit und Schönheit der Darstellung vom Standpunkt der Aufklärung aus besprach.
VIII. Zeitraum.
Die Sturm- und Drangperiode und die Periode der klassischen Dichtung.
Die Herrschaft der Aufklärung, wesentlich gefördert durch die lange und auf allen Gebieten ruhmreiche Regierung Friedrichs d. Gr. in Preußen, [* 2] welcher die aufklärenden und aufgeklärten Fürsten in den mittlern und kleinern deutschen Gebieten nachfolgten, war um das Jahr 1770 entschieden. Trotz mannigfacher Irrtümer, Härten und Ausschreitungen wirkte der aufgeklärte Despotismus segensreich und beseitigte den größern Teil der noch nachwirkenden Folgen des unseligen Dreißigjährigen Kriegs.
Während aber der Kampf dieses Systems mit verrotteten Mißbräuchen und trübseligen öffentlichen Zuständen noch fortdauerte und auch ein guter Teil der deutschen Schriftsteller in diesem Kampf seine Hauptaufgabe erblickte, bereitete sich schon ein neuer, größerer Umschwung vor. Auch die siegreiche Aufklärung hatte nichts oder nur wenig zur Überwindung der engen, gepreßten, harten und nüchternen Lebenszustände und Lebensgewohnheiten gethan, welche mit der emporstrebenden Bildung, namentlich der bürgerlichen Schichten, in so unerfreulichem Widerspruch standen. An hundert Stellen zugleich erwachte daher das Gefühl, daß die gesamte Aufklärungsbildung doch öde, unzulänglich und armselig sei, daß das deutsche Leben aller Frische und innern Fülle entbehre, daß Kultur und Sitte der letzten Jahrhunderte mit der menschlichen Natur in einen argen Zwiespalt geraten seien, der am besten durch die Rückkehr zur Natur überwunden werde.
Das Auftreten Jean Jacques Rousseaus in Frankreich übte auf die Bewegung und Stimmung der Geister in Deutschland [* 3] einen außerordentlichen Einfluß. Aus der allgemein werdenden Sehnsucht, das Leben poetischer zu gestalten und die Poesie nur mit wirklichem Leben zu erfüllen, ging eine denkwürdige geistig-revolutionäre Bewegung, die Sturm- und Drangperiode, hervor, welche mit dem wildesten Ansturm gegen alle seither geltenden Schranken in Leben und Kunst begann, und aus der schließlich in der That eine Neugestaltung des deutschen Lebens und eine letzte, höchste Erhebung der Nationallitteratur erwuchsen. Es ist daher im höchsten Grad einseitig, im »Sturm und Drang« nur einen Rückfall in die Barbarei zu sehen und die gesamte Periode als die einer Entfesselung der egoistischen Begehrlichkeit, des überreizten Selbstgefühls, des pflichtlosen Verlangens nach Glück und der zügellosen Leidenschaft zu verurteilen.
Alle diese Dämonen waren naturgemäß mit entfesselt, aber sie verursachten und tragen nicht allein die Bewegung; höhere Kräfte und bessere Antriebe standen im Vordergrund, und mit innerer Notwendigkeit wurden alle bedeutenden Naturen in die wilde Gärung hineingezogen, während es nur den besten und kräftigsten beschieden war, an der nachfolgenden Läuterung Anteil zu nehmen. Die litterarische Seite der großen Bewegung war die wichtigste, weil Hunderttausende die in der Wirklichkeit zunächst versagte Befriedigung der neuen Herzensansprüche und Phantasieforderungen in der Dichtung suchten und die poetisch-litterarische Thätigkeit eine bisher nicht erhörte Bedeutung und Wirkung gewann. Es war das Eigentümliche der Sturm- und Drangperiode, daß in ihr die verschiedensten, ja die gegensätzlichsten geistigen Richtungen und Bestrebungen gleichzeitig die Köpfe und Gemüter der Menschen ergriffen und in unbestimmtem Enthusiasmus und Originalitätsdrang zu einer Einheit zusammenfassen. So konnte es geschehen, daß in denselben Jahrzehnten und zum Teil von denselben Kreisen die Gefühlsphilosophie der Hamann und Jacobi und die unerbittliche logische Kritik Kants, die machtvolle, lebenswarme Dichtung Goethes und die wesenlose poetische Rhetorik der Stolberg [* 4] und Schubart, der scharfe Realismus Justus Mösers und die Phantastik Lavaters neben und ¶
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miteinander bewundert wurden. Der gemeinsame Grundzug aller Bestrebungen und Zeitstimmungen blieb der Gegensatz zur phantasielosen Nüchternheit, zur begnügsamen Halbheit und zur hohlen Selbstgefälligkeit des Rationalismus.
Der größte Repräsentant des »Sturms und Dranges« (wie die Bewegung später nach dem Titel eines wildphantastischen Dramas von F. M. Klinger getauft ward) war Johann Gottfried Herder (1744 bis 1803), in dessen zahlreichen und vielartigen Schriften sich alle geistigen Elemente der Bewegung begegneten. Die Genialität, der Gedankenreichtum und die ethische Hoheit Herders wirkten mächtig auf die ganze Litteratur der Zeit ein; speziell für die Dichtung wurde seine Anschauung über das Wesen der Ur- und Volkspoesie ganz entscheidend.
Was Herder in den Hauptwerken seiner zweiten klassischen Periode, dem Buch »Vom Geiste der ebräischen Poesie«, den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1785-94),
den Dichtungen und Abhandlungen der »Zerstreuten Blätter« gab, war nur Läuterung und weitere Ausführung der in seinen Jugendarbeiten gegebenen Anregungen. Als selbständiger Dichter blieb Herder vorwiegend didaktisch und reflektierend; seinen eignen Forderungen an die Poesie kam er am nächsten in den von ihm übertragenen und gesammelten »Volksliedern« und dem Romanzenkranz »Der Cid«. An Herders erster Entwickelung hatte eine kleine Gruppe von Königsberger Schriftstellern bedeutenden Anteil, die ihrerseits mit der geistigen Welt und den Lebensregungen des deutschen Pietismus zusammenhängen, der während der Sturm- und Drangperiode auch von andrer Seite her sich in der Litteratur Geltung verschaffte.
Unter diesen Königsbergern finden wir G. Hamann (1730-88), dessen »Sibyllinische Blätter« die Keime zu Herders Ideen einschließen, und Th. G. v. Hippel (1741-96),
dessen humoristische Romane: »Lebensläufe nach aufsteigender Linie« und »Kreuz- und Querzüge des Ritters A-Z« eine denkwürdige Mischung rationalistischer und frommgläubiger Anschauungen und Empfindungen verbanden. Stärker noch erscheint das pietistische Element mit dem kraftgenialen gemischt in den Dichtungen und Volksschriften des »Wandsbecker Boten« Matthias Claudius (1740-1815),
der zu den ersten gehörte, welche den Ton des echten, herzgebornen Volksliedes wiederum trafen, und in den Schriften von Heinrich Jung, genannt Stilling (1740-1817),
dessen Selbstbiographie »Heinrich Stillings Leben« nebst den Romanen »Geschichte des Herrn von Morgenthau« und »Florentin von Fahlendorn« die eigentümlichen Lebensanschauungen und Erlebnisse der »Stillen im Lande« spiegelten. Zu den Schwärmern und Mystikern hinüber neigte auch Fr. Heinrich Jacobi (1743-1819),
dessen religionsphilosophische Schriften und Romane (»Eduard Allwills Papiere« und »Woldemar«) die bedenklichen Seiten eines schwelgenden Gefühlslebens und der Rousseauschen Einwirkungen offenbarten.
Die große dichterische Aufgabe der Zeit blieb die Rückgewinnung der Natur, und die jugendlichen Lyriker rangen mit allen Kräften, nicht nur den Ausdruck für die unmittelbare Empfindung, sondern auch neue, ausdruckswerte Gefühle zu gewinnen. Von besonderer Bedeutung hierfür ward die Gruppe junger Dichter, die sich im (Göttinger) sogen. Hainbund zusammengeschlossen hatte. Zu ihr gehörten außer H. Chr. Boie (1744-1806), dem Herausgeber des »Musenalmanachs«, zu welchem sich auch andre Kräfte scharten, die beiden Brüder Christian (1748-1821) und Friedrich Leopold (1750-1819),
Grafen zu Stolberg, Johann Martin Miller aus Ulm [* 6] (1750 bis 1814),
der mit einigen Liedern und dem sentimentalen Roman »Siegwart, eine Klostergeschichte« nachmals zu einer vorübergehenden Bedeutung gelangte, Karl Friedr. Cramer (1752-1807),
Joh. Fr. Hahn [* 7] (gest. 1779),
dessen Tragödie »Julius von Tarent« große, unerfüllt bleibende Hoffnungen erregte; ferner der liebenswürdige, naiv-fröhliche und innige Liederdichter Ludwig Heinrich Christoph Hölty (1748-76) und Johann Heinrich Voß (1751-1826), die eigentliche Seele des Bundes. Letzterer repräsentiert schon die Entwickelung vom Sturm und Drang zu klassischen, bleibend wertvollen Dichtungen. Seine Natur drängte ihn in der reinen Lyrik zur Reflexion [* 8] und zum breiten Moralisieren; zur Vollendung gelangte er als Idyllendichter in einer Reihe kleiner Meisterstücke und den besten Episoden seines Gedichts »Luise«; die größte Wirkung und Nachwirkung aber gewann er durch seine meisterhaften Übertragungen der Homerischen »Ilias« und »Odyssee«. Den Göttingern nahe stand, obschon er dem studentischen Dichterbund nicht angehörte, Gottfried August Bürger (1748-94), der die neuen Forderungen an den Dichter mit seinen besten Liedern und kraftvollen Balladen zuerst ganz erfüllte, zuerst echt volkstümliche, herzergreifende Töne, die unmittelbarste Lebendigkeit der Erzählung und Schilderung, sinnliche Frische und hinreißende Macht des Ausdrucks besaß. - Während die Lyriker solchergestalt zur vollen Selbständigkeit erwuchsen, vertauschten die dramatischen Talente der Sturm- und Drangperiode die seither geltenden Muster mit dem Anschluß an Shakespeare, der mit Homer, Rousseau und dem nebelhaften Ossian den ganzen Enthusiasmus der brausenden, nach Leben und Originalität begehrenden Jugend erweckte und nährte.
Die meisten glaubten durch Nachahmung der vermeinten Formlosigkeit Shakespeares seine gewaltige Wirkung zu erreichen, und so entschiedene Anstrengung die damalige Bühne auch machte, mit der dramatischen Dichtung in Verbindung zu bleiben, so war die Entstehung zahlloser Buchdramen um so weniger zu hindern, als in sehr vielen Fällen das Drama nur den Vorwand abgab und Szenen und Dialoge zum Vehikel der gärenden Neuerungsideen und selbst, wie bei Lenz, subjektiver Grillen, ja Verrücktheiten dienten. Zu den Geniedramatikern gehörten M. F. Klinger (1752 bis 1771), dessen wildleidenschaftliche Dramen und spätere Romane uns Geist und innere Widersprüche der Zeit ebenso vergegenwärtigen, wie dies das Leben des Dichters selbst thut;
M. Reinhold Lenz (1750 bis 1792), der in den Dramen: »Der Hofmeister«, »Die Soldaten« und »Der neue Menoza« Fratze und lebensvolle Genialität unerquicklich verband;
Friedrich Müller (»Maler Müller«, 1750-1825),
dessen »Pfalzgräfin Genoveva« und »Faust« wenigstens Ansätze zu echter Charakteristik und Lebensdarstellung enthielten;
Fr. v. Goué (gest. 1789),
Heinrich Leopold Wagner (1747-83),
Ludwig Philipp Hahn (1748-87),
J. F. ^[Johann Friedrich] Schink (1755-1834) u. a. An Goethes »Götz von Berlichingen« schlossen sich die Verfasser von Ritterdramen, Jakob Maier (1739-1784, »Fust von Stromberg«, »Der Sturm von Boxberg«),
J. A. ^[Joseph August] v. Törring (1754-1826, »Kaspar der Thorringer«, »Agnes Bernauerin«),
Franz Marius v. Babo (1756-1822, »Otto von Wittelsbach«),
an. Eine andre Gruppe von Dramatikern übertrug den Sturm und Drang, das Verlangen nach neuem Leben und die Darstellung desselben ins ¶