mehr
Die alte Sagendichtung wie die ritterlich-höfische Epik erlebten in dieser Periode eine letzte eigenartige Wandlung. Wohl gab es noch einige wenige poetische Bearbeiter; noch am Ausgang des 15. Jahrh. dichtete der Maler Ulrich Füterer für Herzog Albrecht IV. von Bayern [* 2] ein Epos über »Lancelot und die Tafelrunde«, welches mit dem Argonautenzug beginnt. Im allgemeinen aber entsprach es dem realistischen Sinn der unkünstlerisch gewordenen Zeit, daß die alten großen Epen in Prosaerzählungen aufgelöst wurden.
Mit wirklichen Vorzügen und der kostbaren künstlerischen Form der Gedichte verschwanden gleichwohl auch einzelne Mängel. Da es sich um gedrängte Wiedergabe der Handlung und Charakteristik handelte, traten viele Äußerlichkeiten zurück; das Standesgefühl, welches die höfische Poesie erfüllt hatte, wich einer andern Auffassung der Dinge, die vielfach aus den sogen. Volksbüchern zu uns spricht. Großen Einfluß auf die rasche Entstehung und Verbreitung dieser Erzählungen in Prosa hatte die Erfindung des Buchdrucks, die überhaupt vom Ende des 15. Jahrh. an die Entwickelung der Litteratur mit bestimmte.
Bis tief ins 16. Jahrh. hinein währte die im 15. beginnende Abfassung dieser Volksbücher, welche die Reste des Reichtums der mittelalterlichen deutschen Poesie mit einzelnen Bearbeitungen späterer fremder Dichtungen zugleich einer völlig veränderten Zeit überlieferten. »Loher und Maller«, »Hug Schapler«, »Melusine«, »Fierabras«, »Die Haimonskinder«, »Die schöne Magelone«, »Kaiser Octavianus«, »Herzog Ernst«, »Wigalois« und »Tristan«, die Schwanksammlungen: »Peter Leu« und »Tyl Eulenspiegel« bis zu den erst am Ende des 16. Jahrh. hervortretenden Volksromanen: »Doktor Faust« und »Die Schildbürger« vergegenwärtigen, wie trotz der vorwaltenden Verstandesrichtung der Zeit die Ansprüche der Phantasie auch in breiten Lebensschichten fortbestanden.
Daß in dem in Rede stehenden Zeitraum die Bedeutung, Ausbreitung und die Wirkung der Prosa, der geschichtlichen, beschreibenden und lehrhaften Litteratur, wuchsen, ward schon angedeutet. Einen entscheidenden Anteil am Gewinn einer auch formell wertvollen und die geistige wie sprachliche Weiterbildung der Nationallitteratur fördernden Prosa hatten vor allen die deutschen Mystiker des 14. Jahrh., unter denen Meister Eckhart (zwischen 1260 und 1327) der älteste war.
Außer seinen Schriften wurden die von Nikolaus von Basel, [* 3] Johann Tauler (gest. 1361, »Nachfolgung des armen Lebens Christi«),
Heinrich Suso (gest. 1365, »Büchlein von der ewigen Weisheit«),
Rulmann Merswin (gest. 1382, »Buch von den neun Felsen«),
Otto von Passau [* 4] (»Die vierundzwanzig Alten«, oder »Der güldene Thron [* 5] der minnenden Seelen«),
ferner das Büchlein »Deutsche Theologia« [* 6] von einem Frankfurter Priester (Ende des 14. Jahrh.) und die Predigten des spätern Johann Geiler von Kaisersberg (1445-1510, namentlich die über Seb. Brants »Narrenschiff«) von besonderer Wichtigkeit. In der darstellenden Prosa versuchten einzelne Chronisten sich schon jetzt zur Geschichtschreibung zu erheben, ohne daß ihnen dies sonderlich geglückt wäre. Die »Limburgische Chronik« des Stadtschreibers Johannes (um 1350),
die »Thüringische Chronik« des Johannes Rothe von Eisenach [* 7] (um 1420),
die »Berner Chronik« von Diebold Schilling und die »Chronik der Eidgenossenschaft« von Petermann Etterlin ragen aus der Menge der Versuche hervor; ihr litterarischer Wert liegt in Ansätzen zu lebendigen Einzelschilderungen und sprachlichen Eigentümlichkeiten.
V. Zeitraum.
Das Reformationsjahrhundert.
Um die Mitte des 15. Jahrh. hatte während der langen ruhmlosen Regierung Kaiser Friedrichs III. der Verfall des Deutschen Reichs stetige Fortschritte gemacht; die kirchlichen Verhältnisse waren trotz der Reformkonzile von Konstanz [* 8] und Basel immer unerquicklicher, die Entsittlichung und Verweltlichung der Geistlichkeit immer ärger geworden. Dabei trat eine weitreichende Veränderung aller frühern realen Lebensverhältnisse ein, deren Ursachen man nur vereinzelt begriff, deren Druck aber ganze Volksklassen und Stände traf, so daß schon durch diese Vorbedingungen eine Epoche der Gärung und des Kampfes gegeben gewesen wäre.
Regten sich nun, wie es überall in Deutschland [* 9] der Fall war, dabei Tausende von gesunden Kräften und Bestrebungen im einzelnen, drängten sich zwischen den absterbenden Bildungen des Mittelalters neue hochbedeutsame Lebensbildungen hervor, begegnete dem tiefreichenden Unmut und der weithin sichtbaren Zerrüttung anderseits ein frischer Aufschwung des Volksgeistes, Sehnsucht und zuversichtliche Erwartung einer Reform an Haupt und Gliedern, einer großen Veränderung zum Bessern: so mußte daraus ein Zustand chaotischer, aber frischer und im ganzen hoffnungsfreudiger Bewegung hervorgehen. So trafen die großen Bewegungen des Humanismus und der Reformation auf eine außerordentliche Empfänglichkeit der Einzelnen wie der Massen.
Das Studium der Sprachen und Schriftwerke des klassischen Altertums gewann vom Ende des 15. Jahrh. an eine kaum abzuschätzende Verbreitung, Bedeutung und Einwirkung auch auf das deutsche Leben. In bemerkenswertem Gegensatz zum italienischen Humanismus zeigte der deutsche zunächst einen schwer wiegenden Ernst, pädagogisch reformatorische Tendenzen. Die Anfänge der großen geistigen Bewegung knüpften an die Fortbildungen der Mystik an; der Zusammenhang der ersten hervorragenden Humanisten mit den niederdeutschen Brüdern vom gemeinsamen Leben darf mit Recht betont werden.
Die geistigen Grundstimmungen, aus denen der deutsche Humanismus erwuchs, und die er wiederum großzog und nährte, erfüllten auch einen Teil der Litteratur in der Volkssprache. Die moralisierende und satirische Richtung, die beständige Forderung und Erwartung einer kirchlichen Erneuerung, die sich in den lateinischen Schriften der Humanisten finden, beleben auch die deutschen Dichtungen und Prosawerke der Vorreformation. Der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der deutschen politischen und sozialen Zustände um die Wende des 15. und 16. Jahrh. entsprach eine ähnliche Mannigfaltigkeit der geistigen Leistungen und Versuche.
Aber das eigentliche Ideal der Zeit blieb bewußt und unbewußt die kirchliche Reform, und die mächtige Bewegung der Kirchenreformation, die mit dem Auftreten Luthers 1517 ihren Anfang nahm, überwältigte und verschlang in Deutschland bald alle andern Bewegungen und Bestrebungen. Durch sie wurde der Volksgeist wie nie vorher oder nachher bis in seine letzten Tiefen erregt. Erlebte in der Reformation der vom Humanismus und der emporstrebenden Weltlichkeit bedrohte und im Kern mittelalterliche Geist ausschließlich kirchlich-religiöser Lebensrichtung seine gewaltigste Auferstehung, so verband er sich doch mit Elementen, die ausschließlich der neuern Zeit angehörten, und entfesselte, indem die große europäische Kircheneinheit des Mittelalters endgültig gebrochen ward, die freie Überzeugung und Empfindung der Individuen. Das ¶
mehr
Jahrhundert gewaltiger Erschütterungen und Kämpfe, eines großartigen geistigen Ringens, an dem fast jeder einzelne nach Maßgabe seiner Kraft [* 11] Anteil zu nehmen hatte, zeitigte starke und eigenartige Charaktere. Die deutsche Dichtung und Litteratur des 16. Jahrh., zunächst von den Doppelwirkungen des Humanismus und der Reformation durchdrungen, trat im Verlauf der letztern immer ausschließlicher in Abhängigkeit von der kirchlichen Bewegung. Die religiösen Kämpfe und das neue Glaubensbewußtsein durchdrangen alles Dasein, also auch alles litterarische Streben.
Eine Fülle von Kraft und Leben, von geistiger Gewalt und fortreißender Überzeugung war der Litteratur besser verbürgt als die künstlerische Durchbildung und Läuterung. War sonach, wie Uhland hervorhebt (»Geschichte der deutschen Dichtkunst im 15. und 16. Jahrhundert«),
»die Dichtkunst dieses Zeitraums nur ein Werkzeug andrer Zwecke, so war doch dieses Werkzeug ein kräftig bewegtes, eine klingende, Funken schlagende Waffe. Sie ist oft mehr eine Fechtkunst [* 12] als eine Redekunst, oder sie ist die Rede eines Predigers im Lager, [* 13] der Gesang eines Landsknechts. Ohne Zartheit und Anmut, ist sie oft derb bis zur Roheit, ungeschliffen, wenn sie nicht Schärfe hätte; wo sie kunstreich sein will, wird sie steif und trocken; will sie sich zierlich gebärden, so wird sie ungelenk; hat sie Frieden, so wird sie langweilig. Aber auf dem Kampfplatz oder auf der Bühne frischer Volkslust offenbart sie ihre eigentümlichen Tugenden: Kraft im Ernst und im Scherz, tüchtigen Witz, gesunden Welt- und Hausverstand. Man muß sich zu den Streitgedichten immer den Mann und seine Kampfstellung hinzudenken, dann wird das starre Rüstzeug sich klirrend bewegen.«
Alle bezeichneten Eigenschaften der Reformationslitteratur sind in jenen Werken vom Ausgang des 15. Jahrh. bereits vorhanden, welche aus den Kreisen der Humanisten hervorwuchsen, und deren Verfasser nachmals nur teilweise sich der Reformation anschlossen. Hier begegnen uns Seb. Brant (1458-1521) mit seinem weitgepriesenen, wirkungsreichen und viel nachgeahmten »Narrenschiff«;
Thom. Murner (1475-1536) mit den satirisch-didaktischen Dichtungen: »Schelmenzunft«, »Narrenbeschwörung« und »Gäuchmatt«;
ferner die schweizerischen Dichter Pamphilus Gengenbach von Basel, Niklaus Manuel von Bern [* 14] als Verfasser von frisch schildernden Gedichten und reformatorisch gestimmten Fastnachtsspielen;
Johannes Pauli (Pfeddersheimer) mit den Erzählungen »Schimpf und Ernst«.
Hierher gehören aber auch die deutschen Schriften des interessantesten ritterlichen Vorkämpfers der humanistischen Bewegung, des stürmischen Ulrich v. Hutten (1488-1523), die in ihrer spröden Rauheit noch auf die Periode zurückweisen, in welcher sich eine neuhochdeutsche Schriftsprache erst herauszuringen begann. Die niederdeutsche Litteratur empfing im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrh. im ideellen Zusammenhang mit der ganzen geistigen Bewegung der Zeit eine wertvolle Bereicherung durch die erneute Bearbeitung des »Reineke Fuchs« von 1498.
Im Mittelpunkt der gesamten deutschen Litteratur wie des gesamten deutschen Lebens des 16. Jahrh. stand die alles überragende Gestalt Martin Luthers (1483-1546). Der große Kirchenreformator ward auch der größte deutsche Schriftsteller der Zeit; mit seiner deutschen Übertragung der Bibel [* 15] förderte, ja schuf er im eigentlichen Sinn des Wortes die neuhochdeutsche Schriftsprache, welche geistigen Schwung, Wortfülle, melodische Kraft, Biegsamkeit für die höchsten Aufgaben der Poesie und Redekunst erst erhielt und der Litteratur der Zeit einen epischen Hintergrund gab, »auf den nur zurückgedeutet werden durfte, um ganze Reihen von Vorstellungen und Empfindungen wie durch Zauberschlag zu erwecken« (Gödeke).
Die große Zahl der übrigen Schriften Luthers ward für die gesamte Kampflitteratur des 16. Jahrh. geistiger Quell und ein Wortschatz zugleich, dessen Reichtum Tausende nutzten. Als Dichter brach Luther dem evangelischen Kirchengesang mit seinen Liedern die Bahn, in denen die Kraft, die Glut, selbst der Trotz seines Wesens vom freudigsten Glaubensgefühl und herzinniger Liebe durchdrungen erscheinen. Eine ganze Reihe evangelischer Liederdichter schloß sich an Luther an, unter ihnen Justus Jonas, Paul Eber, Veit Dietrich, Johannes Matthesius, Johann Walter, die Nürnberger Lazarus Spengler und Sebaldus Heyd, die Straßburger Wolfgang Dachstein, Heinrich Vogtherr, Wolfgang Capito, Paulus Speratus, der Deutschböhme Nikolaus Hermann und die Niederdeutschen Nikolaus Decius, Johannes Freder, Andreas Knöpken, unzähliger andrer zu geschweigen.
Schon der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gehören dann die kirchlichen Sänger Cyriacus Spangenberg, Ludwig Helmbold, Kaspar Melissander, Philipp Nicolai u. a. an. Unter den poetischen Polemikern der Reformation ragt Erasmus Alberus mit Liedern und dem »Buch von der Weisheit und Tugend« (polemischen Fabeln) hervor. Die litterarischen Verteidiger der alten Kirche, wie Hieronymus Emser, Johann Cochläus, Georg Wicel, blieben beinahe wirkungslos. Auch die weltliche Dichtung bis herab auf die Unterhaltungslitteratur im gewöhnlichsten Sinn ward vom Geiste der Reformation ergriffen.
Der größte und populärste weltliche deutsche Dichter des 16. Jahrh., der Nürnberger Schuhmacher Hans Sachs (1494-1576), war einer der begeistertsten Anhänger Luthers. Hervorragender Meistersänger, vor allem aber Meister der volkstümlichen poetischen Erzählung, des Schwanks und des Fastnachtsspiels, Vorläufer oder Begründer des weltlichen deutschen Dramas in größerm Stil, zeichnete er sich als phantasievoller, frohsinniger, heiter-verständiger, witziger Vertreter des protestantisch gesinnten deutschen Bürgertums aus; die Fruchtbarkeit seiner durch umfassende Lektüre genährten Erfindungskraft ward durch eine glückliche sprachschöpferische Leichtigkeit des Ausdrucks unterstützt.
Die kaum übersehbare Masse seiner lyrischen, allegorischen und didaktischen Gedichte, gereimten Erzählungen, Fabeln, Schwänke, seiner Tragödien und Komödien, seiner Fastnachtsspiele ward vorbildlich beinahe für die ganze erzählende und dramatische Dichtung der Zeit. Sachs schlossen sich auf dem Gebiet des Dramas an: Paulus Rebhuhn (mit einer »Susanna« und »Hochzeit zu Kana«),
Peter Probst, Sebastian Wild (mit Schauspielen biblischen und romantischen Stoffes),
Jakob Ruof von Zürich [* 16] (biblische und patriotische Schauspiele: »Wilhelm Tell«, »Wohl- und Übelstand einer löblichen Eidgenossenschaft«),
Leonhard Culmann; als Dichter von geistlichen Spielen, Fastnachtskomödien, als poetischer und prosaischer Erzähler, als einer der Mitbegründer des Romans wie als Übersetzer Jörg Wickram von Kolmar [* 17] (zwischen 1520 und 1557 thätig). Als poetische Erzähler zeichneten sich aus Burkard Waldis (»Esopus«),
M. Montanus, H. W. Kirchhof (»Wend-Unmut«). Von den sonstigen für die Litteraturentwickelung der Folge wichtigen Prosaikern der Zeit, deren doch keiner an Luther heranreichte, ist der bedeutendste, durch seine ¶