mehr
des Lebens vergleichen, und so wird die immer entferntere Formenverwandtschaft der einzelnen höhern Gruppen verständlicher, als sie jemals war. Bei der Aufsuchung dieser Verwandtschaften ist vor allem die Gleichwertigkeit (Homologie) der Teile blutsverwandter Tiere maßgebend, und man darf sich nicht von bloßen, durch ähnliche Lebensverhältnisse und Mimikry, also durch Vorgänge, die man unter dem Namen der konvergenten Züchtung zusammenfaßt, erzeugten Analogien täuschen lassen. So ist die Ähnlichkeit [* 2] der äußern Körpergestalt bei Regenwürmern, Blindwühlern u. Schlangen [* 3] durch die gleiche Lebensweise und nicht durch Blutsverwandtschaft bedingt, und Schmarotzerpflanzen [* 4] der verschiedensten Klassen nehmen eine gewisse Ähnlichkeit miteinander an, indem die Blätter sich zurückbilden und die Chlorophyllbildung unterbleibt.
Hierbei bleibt vor allem die Entwickelungsgeschichte [* 5] maßgebend, indem die Homologie der Bildungen früh hervortritt, während die durch konvergente Züchtung hervorgebrachten Analogien zweier Tiere meist erst ganz zuletzt hervortreten. Erschwert wird die Aneinanderreihung der zu einander gehörigen Formen dadurch, daß zahlreiche Zwischen- und Übergangsformen im Lauf der Zeiten ausgestorben sind, so daß wir im glücklichsten Fall hoffen dürfen, diese die Lücken des Systems ausfüllenden Formen im fossilen Zustand zu finden. Sehr viele solcher Lücken, die noch vorhanden waren, als Darwin seine diesbezügliche Ansicht vom natürlichen System aufstellte, sind inzwischen bereits ausgefüllt worden, so z. B. die tiefe Kluft, welche ehemals die Vögel [* 6] von den übrigen Wirbeltieren trennte, durch die Auffindung der Archaeopteryx und der gezahnten Vögel.
Die Stärke [* 7] und der Wert des Darwinismus beruht in der schon von Kant geforderten mechanischen Erklärung der organischen Natur, durch welche gezeigt werden soll, wie alle Organismen und ihr zweckmäßiger Bau im Lauf einer langen Entwickelung allmählich geworden sein können, also in dem Ersatz der vorher geplanten Zweckmäßigkeit durch die gewordene Zweckmäßigkeit, weil sich nur das unter den gegebenen Verhältnissen Zweckmäßigste erhalten konnte. Der hierin gegebenen Bekämpfung des teleologischen Prinzips verdankt der Darwinismus einerseits seine Bedeutung für die Philosophie, anderseits die vielfachen Angriffe von seiten der Theologen und teleologischen Naturforscher.
Aber nicht weniger wichtig als die Erklärung des Zweckmäßigen ist die des Unzweckmäßigen und Bösen in der Natur, deren Dasein man sonst nur durch viele Winkelzüge, oder indem man sie einem bösen Prinzip zuschrieb, zu erklären wußte. Sie erklären sich aber sehr leicht, wenn wir bedenken, daß sich die durch die natürliche Auslese erlangte Zweckmäßigkeit immer nur auf das betreffende Wesen und seine Lebensweise selbst beziehen kann, also unter Umständen nicht ausschließen, ja eher dahin drängen wird, dasselbe den übrigen Lebewesen möglichst gefährlich zu machen. Das Raubtiergebiß, der Giftzahn der Schlangen, das Gift vieler Pflanzen sind solche Errungenschaften. Dadurch, daß er aus demselben Prinzip die relative Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit, also z. B. auch die der rudimentären Organe, erklärte, wurde Darwin jener Newton der organischen Welt, den noch Kant erwartete. Eine besondere Lehre [* 8] zur Erklärung unzweckmäßiger Bildungen (Dysteleologie) hat sich nach dieser Richtung ausgebildet.
Eine solche philosophische Bewegung mußte bald bedeutende Dimensionen annehmen und eine Menge wissenschaftlicher Gebiete in Mitleidenschaft ziehen. Ein festeres Gefüge empfing der Darwinismus zuerst durch das organisatorische Talent Häckels, welcher ihm in mehreren populären Schriften die Gestalt eines abgerundeten naturphilosophischen Systems gab. Während Darwin in seinem grundlegenden Werk mehrere erschaffene niedere Formen angenommen und den Menschen vorläufig außer Betracht gelassen, behandelte Häckel in seiner »Generellen Morphologie« (1866) bereits alle Organismen von demselben Gesichtspunkt, indem er die niedersten Urwesen oder Protisten als durch freiwillige Entstehung (generatio aequivoca) hervorgegangen annahm und von ihnen, wie von einer gemeinsamen Wurzel, [* 9] einerseits das Pflanzenreich und anderseits das Tierreich ableitete und das Menschengeschlecht als einen besonders weit entwickelten Zweig des letztern hinstellte.
Infolge dieser genealogischen Betrachtungsweise der lebenden Natur wurde Häckel zum Entwerfen von sogen. Stammbäumen sowohl für die Gesamtheit als für die einzelnen Abteilungen veranlaßt, die zunächst nichts sein können und sein sollen als Forschungsprogramme oder Fragebogen, deren Bestätigung oder anderweite Ergänzung der Weiterforschung anheimgestellt wird. Ferner stützte er die Entwickelungstheorie durch den Hinweis auf die Entwickelung des Einzelwesens, weil sich hier oftmals der Parallelismus mit der Entwickelung der Klasse, Gattung und Art aufdrängt.
Schon in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts hatten die Embryologen auf diesen Parallelismus hingewiesen (s. Entwickelungsgeschichte), durch welchen man z. B. aus dem Auftreten der Kiemenspalten bei den Embryonen höherer Wirbeltiere auf die Abstammung derselben von Kiementieren geschlossen hatte. Durch Huxley, Fritz Müller und Häckel wurde der Nachweis geführt, daß die individuelle Entwickelungsgeschichte einer Art (Ontogenie) in vielen Fällen ein getreues Nachbild der Geschichte ihres Stammes (Phylogenie) sei, und als sogen. biogenetisches Grundgesetz (s. Entwickelungsgeschichte) von Häckel formuliert.
Die Entwickelungsgeschichte wurde so zum Beweismittel der Darwinschen Theorie und konnte in gewissen Fällen sogar als Wegweiser zur Ermittelung der natürlichen Verwandtschaften und der Abstammung dienen. Eine solche Gelegenheit trat bei der Entdeckung Kowalewskys über die übereinstimmende Entwickelung der Seescheiden und des Lanzetttiers (Amphioxus) ein, durch welche zuerst eine Anknüpfung des Stammes der Wirbeltiere mit den niedern Tieren und speziell mit den Würmern angedeutet wurde.
Bei den Larven verschiedener Seescheiden wurden nämlich Andeutungen der Chorda oder des Rückenstabes, eines embryonischen Organs der Wirbeltiere, entdeckt, die dort in der weitern Entwickelung durch Rückbildung wieder verschwinden (s. Entartung) und Häckel zur Aufstellung einer besondern ausgestorbenen Mittelklasse zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen führten, die als Chordatiere, Chordonier oder Rückenstrangtiere bezeichnet wurden. Eine ähnliche Rekonstruktion versuchte Häckel bald danach auf eine gemeinsame Larvenform der meisten echten Tiere, der Darmlarve oder Gastrula, indem er eine ihr ähnliche selbständige Tierform, die Gastraea, als die gemeinsame Stammform aller eigentlichen Tiere bezeichnete, in seiner viel angefochtenen Gasträatheorie (s. Entwickelungsgeschichte). Das Studium der Entwickelungsgeschichte ist so zu einer sehr fruchtbaren Disziplin geworden, besonders in den Arbeiten von Häckel, Fritz Müller, Weismann, O. Schmidt, Balfour u. a. ¶
mehr
Eine ähnliche Befruchtung [* 11] erfuhr das Studium der vergleichenden Anatomie und der Paläontologie durch die neuen Gesichtspunkte des Darwinismus. Auf dem Gebiet der erstern haben insbesondere die Arbeiten von Gegenbaur, Huxley und Kowalewsky die Erkenntnis der natürlichen Verwandtschaft und der Beziehungen der einzelnen Gruppen zu einander gefördert; die klassischen Untersuchungen des erstern erwiesen die Homologie der Teile aller zu einer und derselben Abteilung gehörigen Tiere, zumal der Knochen [* 12] des Schädels, Rumpfes und der Extremitäten aller höhern und niedern Wirbeltiere.
Huxley wies unter anderm die völlige Übereinstimmung des Körperbaues bei Affen [* 13] und Menschen bis in die kleinsten Details des Gehirn- und Gliederbaues nach und arbeitete so den Werken Darwins und Häckels über die Abstammung des Menschen vor, deren Erscheinung die Theorie krönte, aber natürlich einen großen Sturm hervorrief. Beiläufig mag hier bemerkt werden, daß weder von Huxley, Darwin oder Häckel noch von irgend einem unterrichteten Darwinisten jemals die ihnen von ununterrichteten Gegnern zugeschriebene Ansicht ausgesprochen worden ist, daß der Mensch vom Gorilla oder von sonst einem heute lebenden anthropoiden Affen abstamme; es ist vielmehr stets von ihnen hervorgehoben worden, daß dieselben mit dem Menschen nur die Spitzen divergierender Zweige eines gemeinschaftlichen Stammes sein könnten, der auf einen gemeinsamen Urzeuger zurückführe. Es handelt sich also nach darwinistischen Ansichten hier um Vetterschaft, nicht um Ahnenschaft.
Sehr wichtige Unterstützungen hat der Darwinismus durch den paläontologischen Nachweis einerseits von sogen. Übergangsformen, die jetzt getrennt erscheinende Tier- und Pflanzenabteilungen verbinden, wie z. B. der schon erwähnte Urvogel (Archaeopteryx), anderseits durch Auffindung ganzer Reihen ineinander übergehender und der Zeitfolge entsprechend nacheinander auftretender Tiere erhalten. Vor allem wichtig ist der paläontologische Nachweis, daß in allen Abteilungen einfacher organisierte Lebensformen den höher stehenden in strenger Stufenfolge vorausgegangen sind. So begannen im Pflanzenreich Algen, [* 14] Farne, [* 15] Schafthalme und Lykopodiaceen, [* 16] d. h. Pflanzen ohne Blüten- und Samenbildung, die Reihe, es folgten die Ursamenpflanzen, zu denen Nadelhölzer [* 17] und Cykadeen gehörten, und erst dann traten die höhern, Blumen tragenden Gewächse auf die Schaubühne; im Tierreich erschienen nacheinander wirbellose Tiere, Fische, [* 18] Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere.
Auch in jeder Unterabteilung gingen, soweit es sich irgend übersehen läßt, einfacher gebaute Formen den höher stehenden voraus, so unter den Säugern die Beuteltiere, [* 19] während der Mensch sich erst in den jüngsten Schichten fossil findet. Bei einzelnen Tieren konnte die Umwandlung durch zahlreiche Zwischenformen, die sich zu mehr oder weniger lückenlosen Reihen verbinden lassen, verfolgt werden. Eins der lehrreichsten Beispiele hierfür bietet eine Süßwasserschnecke (Planorbis multiformis), von welcher Hilgendorf 1866 einen vollständigen Stammbaum mit mehreren divergierenden Ästen im Steinheimer Süßwasserkalk nachweisen konnte.
Ähnliche lückenlose Reihen sind von andern Forschern bei Trilobiten, Brachiopoden, [* 20] Ammoniten [* 21] und andern Tieren beschrieben worden. Das größte Aufsehen in dieser Richtung haben die Untersuchungen über die fossilen Säugetiere, namentlich über die fossilen Pferde [* 22] und andre Huftiere, von Rütimeyer, Kowalewsky, Huxley, Marsh u. a. erregt. Durch mehr als ein halbes Hundert Arten, von denen die meisten in Nordamerika [* 23] gefunden worden sind, hat sich der Stammbaum des Pferdes bis in die frühste Eocänzeit zurück verfolgen lassen.
Schritt für Schritt zeigen die fossilen Gattungen Eohippus, Orohippus, Mesohippus, Miohippus, Pliohippus, Protohippus und Hipparion, wie aus einem kleinen fünfzehigen Huftier, nicht größer als ein Fuchs, [* 24] durch lauter allmähliche Übergänge das Einhufergeschlecht hervorgegangen ist; die Verkümmerung der Seitenzehen, die Umbildung der Bein- und Armknochen, die Veränderung des Gebisses, das Wachstum des Gehirns und alle andern im Skelett [* 25] ausgedrückten Veränderungen während dieses ungeheuern Zeitraums haben sich paläontologisch nachweisen lassen, so daß hier ein Beweis für die Wahrheit der Deszendenztheorie vorliegt, wie er nicht bündiger verlangt werden kann. Überhaupt ist in den letzten Jahren durch die Untersuchungen französischer, englischer, deutscher und namentlich amerikanischer Paläontologen der Stammbaum zahlreicher Tiere, deren ältere Reste in Europa [* 26] selten sind, aufgehellt worden, so namentlich derjenige der Raubtiere, [* 27] Nashörner, Schweine, [* 28] Hirsche, [* 29] der kamelartigen Tiere und andrer Wiederkäuer. [* 30]
Eine der nächsten Folgen der Erstarkung des Darwinismus war, daß er eine Reihe andrer Wissenschaften in seine Kreise [* 31] zog. In der Geologie [* 32] hatte Lyell bereits das Prinzip der allmählichen Entwickelung gegenüber der Katastrophentheorie zur vollsten Geltung gebracht. Du Prel wandte die Lehre vom Kampf ums Dasein mit Glück auf die Astronomie [* 33] an, indem er zeigte, daß die verschlungenen Bahnen der Weltkörper so lange Eliminationen bewirken mußten, bis für die übrigbleibenden völlig freie Bahn geschaffen wurde.
Die Medizin beginnt namentlich in neuester Zeit in der Lehre von den Infektionskrankheiten von darwinistischen Betrachtungen über die Formwandlungen der Krankheitspilze und ihre Anpassung an verschiedene Lebensweise Nutzen zu ziehen und darwinistische Erklärung der Ansteckung, Immunität etc. zu versuchen. Nägeli, Pasteur und andre Forscher haben auf diesem Gebiet bemerkenswerte Erfolge erzielt. Selbst die Chemie blieb nicht unberührt, sofern Pfaundler u. a. zeigten, daß auch unter den Elementarstoffen und Verbindungen von einem Kampf ums Dasein gesprochen werden müsse.
Der folgenschwerste und bedeutungsvollste Akt dieser Übertragung der das ganze Weltall beherrschenden Naturgesetze auf die Entwickelungserscheinungen des Alls bestand aber offenbar darin, daß, wie einst die Erde durch Kopernikus aus ihrer Mittelpunktsstellung geworfen wurde, nunmehr der Mensch selbst, der bisher eine Ausnahmestellung einzunehmen gewillt war und als über der Natur stehend namentlich in seinem geistigen Leben betrachtet worden war, als ein zugehöriger Teil des Ganzen reklamiert und mitten in die Natur hinein versetzt wurde.
Damit zog der Darwinismus auch die Geisteswissenschaften in seine Kreise, und es begann nun eine nie vorher dagewesene Wechselwirkung zwischen den sogen. objektiven und den subjektiven Wissenschaften; alle boten Berührungspunkte, und ihre Bearbeitung vom entwickelungsgeschichtlichen Standpunkt hat auf manche derselben ein ganz überraschendes Licht [* 34] geworfen. In diesem Sinn zeigt sich die Menschenhistorie mit allen ihren Verzweigungen als ein Glied der [* 35] allgemeinen Naturhistorie, und die Naturgeschichte rechtfertigt damit erst wirklich ihren Namen, indem sie sich als wirklich historische Wissenschaft entpuppt. Die Geschichtswissenschaft, soweit sie den Menschen und seine geistigen Kräfte und ¶