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und sonstige Insekten, [* 2] welche das Flugvermögen durch Verlust der Flügel ganz eingebüßt haben, über ihre geflügelten Kollegen das Übergewicht erlangt, wahrscheinlich, weil die fliegenden durch diese Fertigkeit immer wieder in Gefahr gerieten, bei heftigem Wind ins Meer geweht zu werden.
Einen ähnlichen ehemaligen Verlust muß man bei den Zweiflüglern unter den Insekten voraussetzen, denn die meisten andern Insekten haben vier Flügel, und in der That gewahrt man bei genauerm Hinschauen an der Stelle der beiden Hinterflügel zwei kleine Stummel, die in der Entwickelung immer von neuem erscheinenden Überreste der verlornen Organe (rudimentäre Organe). Solchen Beweisen eines in irgend einer Richtung stattgehabten Rückschritts begegnet der aufmerksame Naturbeobachter in großer Anzahl, sowohl bei Pflanzen als bei Tieren.
Dahin gehören z. B. die verkümmerten Staubfäden weiblicher Blüten, die Augäpfel völlig blinder Tiere, die Zähne [* 3] junger Wale, [* 4] die Schwanzwirbel und Muskeln [* 5] schwanzloser Wirbeltiere, die Beinstummel fußloser Schlangen [* 6] und Eidechsen [* 7] etc. Diese rudimentären Organe sind weit entfernt, irgendwie nützlich zu sein, ihrem Inhaber zuweilen geradezu schädlich, wie der Blinddarm und die Schilddrüse des Menschen, welche beide ohne ersichtlichen Nutzen unter Umständen Verderben und Krankheit herbeiführen.
Die bisher angedeuteten Hypothesen suchen die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der organischen Bildungen durch mechanische Prinzipien zu erklären. Eine Reihe von Erscheinungen der organischen Natur fallen aber nicht unmittelbar unter den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit, und hier läßt sich alles das zusammenfassen, was die ästhetische Seite der Natur angeht, auf die Schönheit oder Unschönheit der äußern Erscheinung, Farbenpracht, Formenreiz, Duft und Geschmack, Bezug hat.
Auch auf dem ästhetischen Gebiet hat Darwin zuerst die Wege des nähern Verständnisses eröffnet und zwar in seinem 1871 erschienenen Buch über die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Er zeigte, daß auch eine zufällig erlangte äußere Schönheitszunahme einem Tier von Nutzen werden könne, sofern bei der Paarung schönere Tiere augenfällig bevorzugt werden und zuerst, bez. allein unter ihresgleichen dazu gelangen, sich fortzupflanzen.
In der Regel ist es das männliche Geschlecht, welches auffallende äußere Zieraten erlangt und mit denselben kokettiert, wie z. B. der männliche Pfau, Paradiesvogel, Fasan etc. Die Weibchen, welche einfacher gefärbt erscheinen, üben eine Wahl aus und verhalten sich der Konkurrenz der Männchen gegenüber wie Preisrichter, die sich selbst als Preis hergeben. In der Regel erwirbt das stärkste Männchen den Preis im Ringkampf, oft besteht aber der Wettkampf nur in einem Entfalten der körperlichen Schönheit oder im Wettgesang vor dem wählenden Weibchen. Da nun die schönern und stärkern Männchen am meisten Aussicht haben, sich fortzupflanzen, so schließt Darwin, daß das unscheinbare Weibchen der Stammform am meisten gleicht, und daß die Schönheit der Männchen allmählich durch geschlechtliche Zuchtwahl entwickelt worden ist.
Das Weibchen nimmt vielleicht darum keinen Teil an dieser Verschönerung, weil ihm beim Brüten die größte Unscheinbarkeit zum Schutz gegen seine Feinde nützlich ist. Auch die männlichen Jungen gleichen zuerst stets der Mutter, also der mutmaßlichen Stammform, und erlangen erst im Lauf ihrer fernern Entwickelung jenen auszeichnenden Schmuck des Männchens. Gegen diese Erklärung sind zwar von Wallace und Mantegazza beachtenswerte Einwände erhoben worden, doch haben dieselben keine wahrscheinlichere Theorie zur Erklärung der Steigerung geschlechtlicher Zieraten an deren Stelle zu setzen gewußt.
Durch eine ähnliche Betrachtungsweise hat man auch die Schönheit und den Wohlgeruch der Blumen nach mechanischen Prinzipien aus einem Züchtungsprozeß hergeleitet, bei welchem die dem Blumenstaub und dem Honig nachgehenden Insekten als die Züchter anzusehen sind, welche die durch Größe, Farbenschönheit oder Wohlgeruch ausgezeichneten Blüten, weil sich dieselben ihnen schon aus einiger Entfernung sichtbar machten, bevorzugten und, indem sie zu ihrer Befruchtung [* 8] und Fortpflanzung beitrugen, die Steigerung ihrer Anziehungskraft bewirken konnten.
Auch auf diesem von teleologischem Standpunkt schon im vorigen Jahrhundert durch Kölreuter und Sprengel bearbeiteten Feld wirkten Darwins Arbeiten bahnbrechend, und er zeigte zunächst an den Orchideen, [* 9] daß sich hierbei die innigsten Wechselbeziehungen zwischen Blumen und Insekten herausgebildet haben, und daß die Kreuzung der Blüten mit fremdem Pollen, wie sie die Insekten bewirken, für die Nachkommenschaft von Vorteil ist, indem die Samen [* 10] kräftiger ausfallen als bei Selbstbefruchtung.
Kann man sich nun erklären, wie sich aus den ältern Gewächsen mit unscheinbaren Blüten, die der Wind befruchtete, solche mit farbenreichen und duftenden Blüten entwickelt haben, so haben Darwins Arbeiten auch den Schlüssel für viele andre Umbildungen des Pflanzenreichs gegeben, z. B. für die Entstehung der besondern Wachstumsart der Kletterpflanzen und für die abnorme Ernährungsweise der insektenfressenden Pflanzen. Schon sein Großvater hatte darauf hingewiesen, daß viele Pflanzen die Fähigkeit erlangt haben, sich durch Dornen, Nesselhaare, Harzausschwitzungen, scharfe Öle [* 11] und Giftstoffe gegen die Angriffe unerwünschter Gäste, die nichts zu ihrer Fortpflanzung beitragen, zu schützen, und auch hier haben sich höchst merkwürdige Wechselbeziehungen entwickelt, indem z. B. manche Gewächse durch Ameisen, denen sie Unterkunft und Honignahrung gewähren, vor dem Besuch andrer, ihr Laub verzehrender Insekten geschützt werden. Auf diesem die Wechselbeziehungen zwischen Pflanzen und Tieren behandelnden Gebiet haben namentlich Fritz und Hermann Müller, Delpino, Kerner die Erkenntnis beträchtlich erweitert.
Man begreift ohne Mühe, wie durch die zahllosen Wechselbeziehungen der lebenden Natur, unter dem regelnden Einfluß der natürlichen Auslese und geschlechtlichen Zuchtwahl im Lauf unübersehbarer Zeiträume vielleicht aus sehr geringen Anfängen jene ungeheure Mannigfaltigkeit der Pflanzen- und Tierformen, die wir bewundern, entwickelt worden sein kann. Erst dadurch wird das natürliche System der Pflanzen und Tiere, bei denen man schon längst von Verwandtschaftsbeziehungen und natürlichen Familien sprach, verständlicher, und das ganze Reich des Lebens löst sich in wenige Hauptstämme, von denen sich unter Einordnung der ausgestorbenen, fossilen Formen die andern ableiten lassen, kurz das Gesamtsystem wird ein genealogisches, und die heute lebenden Arten lassen sich als die letzten grünenden Verzweigungen von Ästen verstehen, deren Stämme und Wurzeln in der grauesten Vorzeit ruhen. Die Gattungen lassen sich dann ebenso den Hauptzweigen, die Familien und Ordnungen den Nebenästen und die Klassen den Hauptästen am Stamm ¶
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des Lebens vergleichen, und so wird die immer entferntere Formenverwandtschaft der einzelnen höhern Gruppen verständlicher, als sie jemals war. Bei der Aufsuchung dieser Verwandtschaften ist vor allem die Gleichwertigkeit (Homologie) der Teile blutsverwandter Tiere maßgebend, und man darf sich nicht von bloßen, durch ähnliche Lebensverhältnisse und Mimikry, also durch Vorgänge, die man unter dem Namen der konvergenten Züchtung zusammenfaßt, erzeugten Analogien täuschen lassen. So ist die Ähnlichkeit [* 13] der äußern Körpergestalt bei Regenwürmern, Blindwühlern u. Schlangen durch die gleiche Lebensweise und nicht durch Blutsverwandtschaft bedingt, und Schmarotzerpflanzen [* 14] der verschiedensten Klassen nehmen eine gewisse Ähnlichkeit miteinander an, indem die Blätter sich zurückbilden und die Chlorophyllbildung unterbleibt.
Hierbei bleibt vor allem die Entwickelungsgeschichte [* 15] maßgebend, indem die Homologie der Bildungen früh hervortritt, während die durch konvergente Züchtung hervorgebrachten Analogien zweier Tiere meist erst ganz zuletzt hervortreten. Erschwert wird die Aneinanderreihung der zu einander gehörigen Formen dadurch, daß zahlreiche Zwischen- und Übergangsformen im Lauf der Zeiten ausgestorben sind, so daß wir im glücklichsten Fall hoffen dürfen, diese die Lücken des Systems ausfüllenden Formen im fossilen Zustand zu finden. Sehr viele solcher Lücken, die noch vorhanden waren, als Darwin seine diesbezügliche Ansicht vom natürlichen System aufstellte, sind inzwischen bereits ausgefüllt worden, so z. B. die tiefe Kluft, welche ehemals die Vögel [* 16] von den übrigen Wirbeltieren trennte, durch die Auffindung der Archaeopteryx und der gezahnten Vögel.
Die Stärke [* 17] und der Wert des Darwinismus beruht in der schon von Kant geforderten mechanischen Erklärung der organischen Natur, durch welche gezeigt werden soll, wie alle Organismen und ihr zweckmäßiger Bau im Lauf einer langen Entwickelung allmählich geworden sein können, also in dem Ersatz der vorher geplanten Zweckmäßigkeit durch die gewordene Zweckmäßigkeit, weil sich nur das unter den gegebenen Verhältnissen Zweckmäßigste erhalten konnte. Der hierin gegebenen Bekämpfung des teleologischen Prinzips verdankt der Darwinismus einerseits seine Bedeutung für die Philosophie, anderseits die vielfachen Angriffe von seiten der Theologen und teleologischen Naturforscher.
Aber nicht weniger wichtig als die Erklärung des Zweckmäßigen ist die des Unzweckmäßigen und Bösen in der Natur, deren Dasein man sonst nur durch viele Winkelzüge, oder indem man sie einem bösen Prinzip zuschrieb, zu erklären wußte. Sie erklären sich aber sehr leicht, wenn wir bedenken, daß sich die durch die natürliche Auslese erlangte Zweckmäßigkeit immer nur auf das betreffende Wesen und seine Lebensweise selbst beziehen kann, also unter Umständen nicht ausschließen, ja eher dahin drängen wird, dasselbe den übrigen Lebewesen möglichst gefährlich zu machen. Das Raubtiergebiß, der Giftzahn der Schlangen, das Gift vieler Pflanzen sind solche Errungenschaften. Dadurch, daß er aus demselben Prinzip die relative Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit, also z. B. auch die der rudimentären Organe, erklärte, wurde Darwin jener Newton der organischen Welt, den noch Kant erwartete. Eine besondere Lehre [* 18] zur Erklärung unzweckmäßiger Bildungen (Dysteleologie) hat sich nach dieser Richtung ausgebildet.
Eine solche philosophische Bewegung mußte bald bedeutende Dimensionen annehmen und eine Menge wissenschaftlicher Gebiete in Mitleidenschaft ziehen. Ein festeres Gefüge empfing der Darwinismus zuerst durch das organisatorische Talent Häckels, welcher ihm in mehreren populären Schriften die Gestalt eines abgerundeten naturphilosophischen Systems gab. Während Darwin in seinem grundlegenden Werk mehrere erschaffene niedere Formen angenommen und den Menschen vorläufig außer Betracht gelassen, behandelte Häckel in seiner »Generellen Morphologie« (1866) bereits alle Organismen von demselben Gesichtspunkt, indem er die niedersten Urwesen oder Protisten als durch freiwillige Entstehung (generatio aequivoca) hervorgegangen annahm und von ihnen, wie von einer gemeinsamen Wurzel, [* 19] einerseits das Pflanzenreich und anderseits das Tierreich ableitete und das Menschengeschlecht als einen besonders weit entwickelten Zweig des letztern hinstellte.
Infolge dieser genealogischen Betrachtungsweise der lebenden Natur wurde Häckel zum Entwerfen von sogen. Stammbäumen sowohl für die Gesamtheit als für die einzelnen Abteilungen veranlaßt, die zunächst nichts sein können und sein sollen als Forschungsprogramme oder Fragebogen, deren Bestätigung oder anderweite Ergänzung der Weiterforschung anheimgestellt wird. Ferner stützte er die Entwickelungstheorie durch den Hinweis auf die Entwickelung des Einzelwesens, weil sich hier oftmals der Parallelismus mit der Entwickelung der Klasse, Gattung und Art aufdrängt.
Schon in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts hatten die Embryologen auf diesen Parallelismus hingewiesen (s. Entwickelungsgeschichte), durch welchen man z. B. aus dem Auftreten der Kiemenspalten bei den Embryonen höherer Wirbeltiere auf die Abstammung derselben von Kiementieren geschlossen hatte. Durch Huxley, Fritz Müller und Häckel wurde der Nachweis geführt, daß die individuelle Entwickelungsgeschichte einer Art (Ontogenie) in vielen Fällen ein getreues Nachbild der Geschichte ihres Stammes (Phylogenie) sei, und als sogen. biogenetisches Grundgesetz (s. Entwickelungsgeschichte) von Häckel formuliert.
Die Entwickelungsgeschichte wurde so zum Beweismittel der Darwinschen Theorie und konnte in gewissen Fällen sogar als Wegweiser zur Ermittelung der natürlichen Verwandtschaften und der Abstammung dienen. Eine solche Gelegenheit trat bei der Entdeckung Kowalewskys über die übereinstimmende Entwickelung der Seescheiden und des Lanzetttiers (Amphioxus) ein, durch welche zuerst eine Anknüpfung des Stammes der Wirbeltiere mit den niedern Tieren und speziell mit den Würmern angedeutet wurde.
Bei den Larven verschiedener Seescheiden wurden nämlich Andeutungen der Chorda oder des Rückenstabes, eines embryonischen Organs der Wirbeltiere, entdeckt, die dort in der weitern Entwickelung durch Rückbildung wieder verschwinden (s. Entartung) und Häckel zur Aufstellung einer besondern ausgestorbenen Mittelklasse zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen führten, die als Chordatiere, Chordonier oder Rückenstrangtiere bezeichnet wurden. Eine ähnliche Rekonstruktion versuchte Häckel bald danach auf eine gemeinsame Larvenform der meisten echten Tiere, der Darmlarve oder Gastrula, indem er eine ihr ähnliche selbständige Tierform, die Gastraea, als die gemeinsame Stammform aller eigentlichen Tiere bezeichnete, in seiner viel angefochtenen Gasträatheorie (s. Entwickelungsgeschichte). Das Studium der Entwickelungsgeschichte ist so zu einer sehr fruchtbaren Disziplin geworden, besonders in den Arbeiten von Häckel, Fritz Müller, Weismann, O. Schmidt, Balfour u. a. ¶