mehr
vorträgt. Wie der reichverzierte Gesang der ältern Zeit, so forderte später der kunstvolle mehrstimmige Satz wohlgeschulte Sänger, und die Kirche hat es sich daher stets zur Aufgabe gemacht, gute Sänger auszubilden. Bereits Gregor I. gründete zu Rom [* 2] eine Sängerschule, aus der die Kapellsänger der Sixtina hervorgingen; nach ihrem Muster wurden die Gesangschulen zu St. Gallen, Metz, [* 3] Fulda, [* 4] Korvei, Mainz, [* 5] Trier [* 6] und Hersfeld [* 7] eingerichtet. Das Volk blieb nach wie vor beim Kirchengesang unthätig, um so mehr, da mit den Gregorianischen Gesängen auch die lateinische Sprache in den Kirchen des Abendlandes Eingang fand. Bloß das »Kyrie eleïson« und »Christe eleïson« wurden vom Volk mitgesungen. Erst seit dem 12. Jahrh. begann sich in Deutschland [* 8] aus den Wallfahrts-, Marien-, Oster-, Pfingst- und Bußgesängen ein Gemeindegesang zu entwickeln, welcher in der Folge durch die Zulassung der Landessprache beim Gottesdienst seine weitere Ausbildung fand.
Der protestantische Choral
hat eine ganz ähnliche Geschichte wie der katholische. Als es galt,
für die junge
reformierte Kirche auch frische, nicht an die Erstarrung des römischen
Dogmas erinnernde
Gesänge zu schaffen,
griff
Luther zum
Volkslied und der damals in hoher
Blüte
[* 9] stehenden
Komposition mehrstimmiger volksmäßiger
Gesänge und nahm
dieselben direkt herüber, indem er ihnen geistlichen
Text unterlegte.
Manche Choräle, z. B. »Ein'
feste
Burg«, sind freilich gleich zuerst für die
Kirche komponiert worden, aber doch in derselben Form und auch die
Dichtung
an das einfache Strophenlied von zwei
Stollen und
Abgesang anlehnend.
Auch wurden einzelne katholische
Hymnen ähnlichen
Charakters mit herübergenommen.
Alle diese Choräle waren von einer prägnanten
Rhythmik, sind aber wie der Gregorianische
Gesang mit der Zeit zu einer
Folge gleichlanger
Töne erstarrt.
Die
Versuche, den ursprünglichen rhythmischen Choral
wieder aufleben zu lassen, sind bis jetzt gescheitert. Es scheint,
daß an der Zerstörung des
Rhythmus der Choräle wiederum die Kontrapunktisten schuld sind, diesmal die deutschen
Organisten,
welche, wie früher die Kapellsänger, die Hauptvertreter der
Komposition wurden.
Auch mag der Umstand, daß noch im
Lauf des 16. Jahrh. die
Gemeinde anfing, den Choral
mitzusingen, wesentlich mit darauf hingedrängt
haben, die
Melodie so zu gestalten, daß sie sich für den gemeinschaftlichen
Gesang einer
Menge eignete.
In dem
Maß, wie die
Melodie selbst verlangsamte und des
Rhythmus verlustig ging, wurde aber eine belebtere
Begleitung Bedürfnissache,
und die
Figuration der Choräle (s.
Choralbearbeitung) entwickelte sich daher bereits im 17. Jahrh. zu großer Künstlichkeit.
Eine andre, noch wirkungsvollere, in manchen
Kirchen eingeführte Abwechselung bringt der strophenweise Wechselgesang in den
Chora
lgesang, wobei je eine
Strophe von der gesamten
Gemeinde in der gewöhnlichen einfachen
Weise und unter
Begleitung der
Orgel abgesungen, die folgende aber von einem kleinern musikalisch gebildeten mehrstimmigen
Chor, oder auch von
Solostimmen mit nur leiser Orgelbegleitung, oder auch ohne alle
Begleitung vorgetragen wird. Es ist außerdem zur
Gewohnheit
geworden, nach jeder Verszeile einen Halt
(Fermate) zu machen und eine längere
Pause eintreten zu lassen,
welchen die
Organisten durch
Zwischenspiele ausfüllen.
Die geschichtliche
Entwickelung des protestantischen Chorals
war eine verhältnismäßig schnelle.
Luther, selbst Kenner der
Tonsetzkunst, verdeutschte und verbesserte mit
Hilfe seiner
Freunde
Walter und
Senfl
alte lateinische und deutsche
Gesänge, dichtete
neue und setzte sie in
Musik. Diese
Lieder wurden zuerst nur von Gesangskundigen in der
Kirche vorgetragen;
nach und nach aber lernte auch das
Volk in den
Kirchengesang einstimmen.
Schon 1524 erschien zu
Wittenberg
[* 10] eine Sammlung von
Kirchenliedern im
Druck.
Der Vorrat von Chorälen wurde namentlich durch das »Cantional der
Böhmischen und
Mährischen
Brüder«
(hrsg. von Wylmschweerer,
Jungbunzlau 1531 und
Ulm
[* 11] 1538 u. 1539, enthaltend 136
Lieder mit 111 beigedruckten
Melodien) sowie
durch die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. von A. Lobwasser in
Königsberg
[* 12] nachgedichteten französischen
Psalmen
Clément
Marots und
Theodor
Bezas, die ebenfalls meist nach Volksweisen gesungen wurden, bereichert. Die eigentliche
Blüte des evangelischen Chora
lgesangs datiert von der zweiten Hälfte des 16. Jahrh.
und dauert bis in die ersten Jahrzehnte des 17., wo der französische
Geschmack und die Opernmusik einigermaßen Einfluß
auf denselben gewannen und ihn eines Teils seiner alten kirchlichen
Würde entkleideten. Zur neuen, wenn auch nur vorübergehenden
Hebung
[* 13] desselben hat
Seb.
Bach wesentlich beigetragen.
Als Tonsetzer und Förderer des Chora
lgesangs seit der
Reformation sind außer
Luther, von dem drei Originalmelodien: »Jesaia,
dem
Propheten«, »Wir glauben
all' an Einen Gott« und »Ein' feste
Burg«, herrühren, zu nennen: Arnold von
Bruck (kaiserlicher
Kapellmeister 1534);
Hermann (Heinrich) Fink (polnischer Kapellmeister 1536);
Georg Rhaw (Kantor in Leipzig); [* 14]
Martin Agricola (Kantor in Magdeburg); [* 15]
Joh. Kugelmann (Kapellmeister des Herzogs Albrecht von Brandenburg [* 16] 1539);
Nikol. Herrmann (Kantor zu Joachimsthal in Böhmen); [* 17]
Nik. Selneccer (Superintendent in Leipzig);
Joh. Eccard (Kapellmeister zu Königsberg i. Pr.);
Ehrh. Bodenschatz (Pastor in Osterhausen, gest. 1636);
Moritz, Landgraf von Hessen; [* 18]
Melchior Frank (Kapellmeister in Koburg); [* 19]
Mich. Altenburg [* 20] (Pfarrer in Erfurt); [* 21]
Heinrich Albert (Kapellmeister in Königsberg);
Joh. Krüger (Kantor in Berlin); [* 22]
Johann Georg Eberling (Musikdirektor in Berlin);
Joh. Herm. Schein (Kantor der Thomasschule in Leipzig);
Joh. Rosenmüller (Kapellmeister in Wolfenbüttel); [* 23]
Andr. Hammerschmidt (Organist in Zittau); [* 24]
Joh. Rud. Ahle (Bürgermeister in Mühlhausen); [* 25]
Joh. Schopp (um 1550 Kapellmeister in Hamburg); [* 26]
Jak. Prätorius oder Schulze (1651 in Hamburg);
Thom. Selle (1651);
Joh. Ulich (1674);
Adam Drese (1698).
Die Bedeutung
Seb.
Bachs für den Choral
wurde bereits hervorgehoben. Nach ihm machten sich sein Sohn
Emanuel
Bach, Friedr.
Doles, Quantz und
Adam
Hiller, namentlich durch
Kompositionen Gellertscher
Lieder, um
Förderung des Chora
lgesangs
verdient. Einer der jüngsten und bedeutendsten
Komponisten von Kirchenliedern ist
Schicht, der ins 19. Jahrh. hineinreicht.
Über Sammlungen protestantischer Choräle s.
Choralbuch. - In der reformierten
Kirche war
Zwingli ohne alles
Interesse für
Kirchengesang.
Dieser
kam in der schweizerisch-reformierten
Kirche erst zu
Calvins Zeit auf, besonders infolge der trefflichen
Leistungen
Claude
Goudimels, der 16
Psalmen, vierstimmig und motettenartig nach Volksmelodien komponiert, herausgab (1562).
In der deutsch-reformierten
Kirche ward der Chora
lgesang von
Andr. Lobwasser eingeführt und zwar durch Herübernahme französischer
Psalmodien, zu denen später auch
Lieder aus der lutherischen
Kirche hinzukamen. In der reformierten
Kirche
Frankreichs
erlitten
Goudimels
Psalmen durch Courart und La
Bastide 1679 eine
¶
mehr
Umarbeitung und fanden in derselben, von Dathen (1566) übersetzt, auch in der niederländisch-reformierten Kirche Eingang. Die englische Hochkirche führte zum Zweck des Gemeindegesangs Psalmen ein, die versifiziert und mit einfachen, aber etwas arienmäßigen Melodien ausgestattet wurden.
Für die katholische Kirche veranstalteten Sammlungen von Liedern der alten Kirche Vehse (Leipz. 1537), Leisentritt (Budissin 1557 u. öfter), später Corner (Wien [* 28] 1631), G. Kopp (Passau [* 29] 1659) u. a. Im 18. Jahrh. fand der deutsche Gemeindegesang auch im katholischen Gottesdienst bis zu dem Grad Förderung, daß selbst zur Messe deutsche Lieder gesungen wurden. Auch wurden für die katholischen Gesangbücher teils neue Lieder gedichtet und komponiert, teils viele evangelische, namentlich aus dem Gellertschen Dichterkreis, mehr oder weniger verändert aufgenommen.
Deutsche [* 30] Gesangbücher für die katholische Kirche lieferten namentlich Riedel (Wien 1773), Kohlbrenner (Münch. 1777), Werkmeister (Stuttg. 1784, Münch. 1810), v. Wessenberg (Konstanz [* 31] 1828), Brosig, Haberl u. a.
Vgl. »Anthologie deutscher katholischer Gesänge aus älterer Zeit« (Landshut [* 32] 1831).
In der griechisch-katholischen Kirche Rußlands suchte Jaroslaw 1051 den Kirchengesang durch griechische Sänger verbessern zu lassen. Von dem 1040 gegründeten Höhlenkloster zu Kiew [* 33] erhielt eine neue Sangweise, die sich vor der eintönigen abendländischen durch Mehrstimmigkeit auszeichnete, den Namen der Kiewschen. Zu dieser kamen 1180 noch die bulgarische und griechische Sangweise hinzu, beide von demselben Charakter wie die Kiewsche. Dem späterhin (1605) durch den tatarischen Usurpator Grischka Otrepiew gemachten Versuch der Einführung des abendländischen Kirchengesangs in die russische Kirche stellte (1656) der Metropolit Nikon von Nowgorod den alten Partiturgesang für sieben Stimmen entgegen, welcher, durch die Einwirkung italienischer Meister geläutert, noch jetzt in Rußland vorherrschend ist.
Vgl. v. Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang (Leipz. 1843-47, 3 Bde.);
Häuser, Geschichte des christlichen Kirchengesangs und der Kirchenmusik (Quedlinb. 1834);
Tucher, Schatz des evangelischen Kirchengesangs im 1. Jahrh. der Reformation (Stuttg. 1848, 2 Bde.);
Bollens, Der deutsche Choralgesang der katholischen Kirche (Tübing. 1851);
Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs (3. Aufl., Stuttg. 1866-76, 8 Bde.);
Haberl, Magister choralis (Handbuch des Gregorianischen Kirchengesangs, 4. Aufl., Regensb. 1873);
R. Schlecht, Geschichte der Kirchenmusik (das. 1871);
Kümmerle, Encyklopädie der evang. Kirchenmusik (Gütersl. 1883 ff.).