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Europa, [* 2] obschon sie sich entschieden milder zeigte als früher, nicht mehr ganz erloschen. Während des Kriegs 1870/71 blieb Deutschland [* 3] frei; erst 1873 ist die Krankheit wieder von Galizien aus teils nach Wien, [* 4] Prag, [* 5] München, [* 6] Speier, [* 7] Würzburg [* 8] verschleppt worden, teils gelangte sie die Weichsel entlang in die Städte der preußischen Ostseeküste. Die letzte europäische Epidemie brach, von Indien eingeschleppt, 1884 in Toulon [* 9] aus, diesem sanitär so ungünstigen Hafen, welcher schon früher das Einfallsthor der Seuche gewesen war. Im August blieb sie auf Toulon, Marseille [* 10] und Umgegend beschränkt, im September traten einige Erkrankungsfälle in Paris [* 11] auf, während eine ziemlich heftige Epidemie in Unteritalien, namentlich in Neapel, [* 12] wütete. Anfang 1885 wurde Spanien [* 13] heimgesucht, im August 1885 abermals Marseille.
Die Geschichte der Cholera weist demnach in jeder neuen Epidemie wieder auf eine Einschleppung der Seuche von Indien her hin und lehrt aufs bestimmteste, daß die Krankheit in Europa nicht selbständig entsteht und immer wieder nach kürzerer oder längerer Dauer verschwindet. Einzelne Erkrankungsfälle können überall, auf Schiffen und am Land, vorkommen, wohin immer Cholerakranke oder Wäsche von solchen oder Gegenstände, welche mit dem Darminhalt verunreinigt waren, gelangen; zur Bildung eines ganzen Choleraherdes, von welchem aus sich eine Epidemie ausbreitet, gehören aber gewisse Vorbedingungen: Es ist seit langem bekannt, daß sumpfige, niedrig gelegene Ortschaften sehr stark heimgesucht wurden, daß dagegen andre (Lyon, [* 14] Versailles, [* 15] Salzburg), [* 16] namentlich Gebirgsplätze, nahezu verschont blieben, woraus sich ergibt, daß die Bodenverhältnisse bei der Verbreitung der Seuche eine wesentliche Rolle spielen.
Umfassende Untersuchungen Pettenkofers haben ergeben, daß eine ganz bestimmte Beschaffenheit des Bodens vorhanden sein muß, um der Aufnahme und Vermehrung des Ansteckungsstoffs aus den Darmausleerungen Cholerakranker Vorschub zu leisten: der Boden muß nämlich porös, für Wasser und Luft durchdringbar sein, und man muß in einer nicht zu beträchtlichen Tiefe (1,5-15 m) auf Grundwasser [* 17] stoßen. Wo diese Bodenbeschaffenheit nicht vorhanden ist, kommen Choleraepidemien erfahrungsmäßig nicht vor.
Denn in Orten, welche unmittelbar auf kompaktem Gestein oder auf Felsen liegen, welche von Wasser nicht durchdringbar sind, hat man höchstens vereinzelte dahin verschleppte Fälle, aber keine Epidemien von Cholera beobachtet. Das im Boden liegende begünstigende Moment für die epidemische Verbreitung der Cholera ist also nicht dessen geognostischer oder mineralogischer Aufbau, sondern ausschließlich seine physikalische Aggregation. Indessen erweist sich die Empfänglichkeit eines porösen Bodens für eine Choleraepidemie keineswegs zu allen Zeiten gleich groß; dieselbe schwankt vielmehr nach den Untersuchungen Pettenkofers je nach der Entfernung der Oberfläche des Bodens vom Niveau des Grundwassers und demnach auch nach dem jeweiligen Stand, nach den Schwankungen des letztern und ist außerdem abhängig von der Durchschwängerung des Bodens mit organischen Substanzen, namentlich mit solchen, welche von tierischen Ausleerungen herstammen.
Über den Stand des Grundwassers und seine Schwankungen an einem bestimmten Ort läßt sich von vornherein niemals etwas Bestimmtes aussagen, dies muß vielmehr für jeden einzelnen Ort durch direkte Beobachtungen festgestellt werden. Im allgemeinen aber darf man sagen, daß jeder Ort und jeder Ortsteil um so mehr von der Cholera leiden wird, je näher er dem Grundwasser liegt. Die Höhe des Grundwasserstandes und die Schwankungen desselben können also als Hilfsursache für die Ausbreitung der Cholera wirken; sie begünstigen die Entstehung eines Infektionsherdes um so mehr, je mehr der poröse Boden mit organischen Abfällen des menschlichen Haushalts, namentlich mit festen und flüssigen Exkrementen, geschwängert ist.
Die eigentliche Ursache der Cholera wurde schon lange in einem vermehrungsfähigen niedern Pilz [* 18] gesucht, jedoch standen der Erforschung einmal deswegen große Schwierigkeiten entgegen, weil die Kenntnis der krankheiterregenden Bakterien noch wenig vorgeschritten war, und ferner weil die Cholera auf keins der zu Experimenten verfügbaren Tiere zu übertragen ist. Es war der deutschen Expedition, welche unter Leitung ¶
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von Rob. Koch 1883 nach Ägypten [* 20] gesandt wurde, vorbehalten, diese Frage zu lösen. Koch fand in dem Darminhalt von Cholerakranken, in der Darmwand von Choleraleichen, in der Wäsche und im Boden infizierter Ortschaften einen eigentümlichen, noch bei 1000facher Vergrößerung sehr kleinen Spaltpilz, welcher wegen leichter Krümmungen seiner Fädchen von ihm als Kommabacillus bezeichnet wurde. Dieser Pilz fand sich konstant in jeder Choleraleiche, aber nur im Darm, [* 21] nicht im Blut oder in andern Organen.
Die Menge der Pilze [* 22] war eine ungeheure, sie stand in geradem Verhältnis zur Schwere der Darmerkrankung, zuweilen waren alle andern sonst im Darm vorkommenden Bakterien durch den Kommabacillus verdrängt. Es gelang Koch, den Pilz rein zu züchten, wobei sich ein Aussehen und ein Verhalten beim Wachstum herausstellten, durch die sich dieser Pilz von allen bisher bekannten in charakteristischer Weise unterscheidet (S. 63, [* 19] Fig. 1). Übertragungen des Pilzes in den Magen [* 23] von Tieren blieben unschädlich, jedoch scheint z. B. beim Meerschweinchen eine wirkliche Cholera zu entstehen, wenn der Mageninhalt vor dem Einbringen der Kommabacillen neutralisiert oder alkalisch gemacht und durch Opium die Darmbewegung gehemmt wird.
Eine natürliche Übertragung, welche Koch in Indien beobachtete, ersetzt indessen den Mangel exakter Tierversuche, da der Bacillus sich in den Pfützen und Wasserlöchern, aus welchen die sehr unsaubern indischen Bewohner Kalkuttas trinken, in solchen Ortschaften, welche von der Seuche befallen waren, massenhaft vorfand, während er an cholerafreien Orten fehlte. Da der Bacillus später in Toulon, in Paris und Italien [* 24] ganz regelmäßig bei allen Cholerakranken gefunden wurde und sonst nirgends vorkommt, wo nicht Cholera herrscht, so ist nicht zu zweifeln, daß er die Ursache der Seuche u. das bei der Übertragung wirksame »Choleragift« darstellt.
Hierdurch ist nun auch die Möglichkeit gegeben, die asiatische Cholera von jeder Art von anderm Brechdurchfall zu unterscheiden, da nur der eigentlichen Cholera der Kommabacillus eigen ist. Sehr leicht ist diese Unterscheidung übrigens nicht, da es andre in Komma- oder Spirillenform auftretende Pilze gibt, welche mit den echten Cholerapilzen verwechselt werden können.
Am ähnlichsten ist ihm ein Kommabacillus, welchen Prior und Finkler 1884 bei Fällen von einheimischer Cholera fanden [* 19] (Fig. 2), und demnächst eine Spirille, welche Miller aus dem Mundspeichel [* 19] (Fig. 3) gesunder Personen zuerst rein züchtete. Diese Ähnlichkeit [* 25] bezieht sich jedoch nur auf die Gestalt der einzelnen Kommastäbchen, denn wenn die Pilze auf Gelatine in einem Reagenzglas kultiviert werden (s. Figuren, S. 63), so bildet der Cholerapilz höchst charakteristische Figuren, eine Luftblase, von welcher ein dünner weißer Faden [* 26] abgeht, während die andern ähnlichen Bakterien schneller wachsen und die Gelatine mehr gleichmäßig verflüssigen und Figuren bilden, welche einem länglichen Beutel [* 27] gleichen.
Auch wenn die Bakterien auf Glasplatten in dünnen Schichten von Gelatine kultiviert werden [* 19] (Fig. 4), bilden die Cholerabacillen sehr eigentümliche Figuren, leicht ausgezackte Ringe mit weißem Pünktchen, welche durch Verflüssigung der Gelatine tief eingesunken sind und so im Durchschnitt die Gestalt eines Napfes [* 19] (Fig. 5) erlangen; diese Figuren in Reinkulturen sind von denen aller übrigen Bakterien bestimmt zu unterscheiden, u. nur durch solche Kulturen kann in zweifelhaften Fällen festgestellt werden, ob einheimische oder asiatische Cholera vorliegt.
Dieser Pilz vermehrt sich außerhalb des menschlichen Körpers in Flüssigkeiten, welche das nötige Nährmaterial enthalten, z. B. Trink-, Grund- und andern Wassern mit tierischen Abfallstoffen, äußerst schnell, vermag dagegen sich nicht in trocknem Zustand zu erhalten und geht bei Temperaturen von 17° und darunter zu Grunde. Die Entstehung des Kommabacillus verlegt Koch in den südlichen Teil des Gangesdelta, wo eine zwischen den Flußläufen gelegene Niederung mit üppigster Vegetation regelmäßigen Überschwemmungen zur Zeit der Meeresflut unterliegt und bei der hohen Temperatur eine wahre Brutstätte für alle Bakterien bildet, denn von hier aus verbreitet sich die Cholera regelmäßig nach Norden [* 28] über das übrige Gangesdelta, und zwar wird die Verschleppung in Indien selbst durch ein außerordentlich frequentiertes Pilgerwesen sehr begünstigt.
Von hier aus wird die Cholera auf den verschiedensten Wegen des Verkehrs von Land zu Land verschleppt, bald durch Personen, bald durch Kleider und Waren; ja, es kann durch eine Person die Verschleppung über Hunderte von Meilen erfolgen, wie dies z. B. 1866 geschah, wo die Cholera von Odessa [* 29] direkt nach Altenburg [* 30] importiert wurde. Es ist nicht nötig, daß die Person, welche die Verschleppung bewirkt, selbst an schwerer Cholera erkrankt; vielmehr können schon die Dejektionen von einem leichten Choleraanfall, der als solcher noch gar nicht erkannt ist, in einem bisher davon freien Orte die Cholera importieren. In seltenen Fällen geschieht die Übertragung in der Weise, daß die Krankheit von dem Ankömmling unmittelbar auf die mit ihm in Berührung kommenden Menschen übertragen wird (wenigstens erlangt auf diese Weise die Cholera niemals eine epidemische Verbreitung); vielmehr wird an dem bisher gesunden Orte durch die ankommenden Cholerakranken ein sogen. Infektionsherd gebildet, d. h. wahrscheinlich eine Bodenvergiftung bewirkt, und von diesem Boden aus, besonders wenn derselbe durch Feuchtigkeit zur Vermehrung der Keime beiträgt, werden die umwohnenden Menschen gefährdet. Während nun in den 30er Jahren die Cholera gemäß der damaligen Verkehrsart langsam vorrückte und vornehmlich auf der Karawanenstraße über Rußland bei ¶