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Gabelentz (»Chinesische Grammatik«, Leipz. 1881, und »Anfangsgründe der chinesischen Grammatik«, das. 1883). Hierzu kommen zahlreiche Werke über einzelne Dialekte und rein praktische Hilfsbücher.
Die chinesische Litteratur.
Unsre Kenntnisse der chinesischen Litteratur befinden sich noch immer in den Anfängen. Unsre Kultur beruht auf griechisch-römischen und hebräischen Grundlagen, die Inder und Perser sind uns stammverwandt; mit den Arabern sind wir im Mittelalter in einen geistigen Austausch getreten, dessen Folgen bis auf den heutigen Tag fortdauern; dagegen standen Kunst und Wissen der Chinesen in ihrem Ursprung und bis auf die neueste Zeit auch in ihrer Entwickelung der europäischen Geistesbildung ganz fremd gegenüber: was Wunder also, daß der Kreis ihrer Verehrer ein engerer ist und doch handelt es sich um ein Feld von fast unermeßlichem Umfang und von vielversprechender Fruchtbarkeit.
Der Bändezahl nach dürften die chinesischen Preßerzeugnisse mit in die erste Reihe, wo nicht obenan zu stellen sein, und an Vielseitigkeit kommt der Litteratur des Mittelreichs keine der andern außereuropäischen gleich. Seit beiläufig vier Jahrtausenden ist sie von dem zahlreichsten Kulturvolk der Erde gepflegt und gemehrt worden unter äußern Umständen, wie sie sich günstiger kaum denken lassen. Litterarische Bildung wurde fast stets von oben gefördert und geschützt, vom Volk bewundert und erstrebt; seit dem 10. Jahrh. werden die Bücher durch Druck, oft zu Spottpreisen, der Menge zugänglich gemacht.
Der Chinese ist seiner Anlage nach konservativ, und das äußert sich auch in seiner Litteratur. Die Alten werden immer mit gleichem Eifer gelesen, immer aufs neue herausgegeben und kommentiert; sie gründlich kennen, ist erste Voraussetzung der Bildung, Zweck und Ziel des höhern, wir würden sagen des Gymnasialunterrichts. Die Alten aber loben ihrerseits die noch Ältern, immer und immer weisen sie auf das erhabene Vorbild der Vorfahren hin. Dabei hat denn freilich das Neue, Originelle einen schweren Stand.
Wird es bei uns von der Leserwelt mit oft unverdientem Entzücken begrüßt, von untergeordneten Schriftstellern erhascht und nachgemacht, so steht ihm dort das allgemeine Mißtrauen, oft selbstgenügsame Gleichgültigkeit entgegen, die zu überwinden nur besonderm Verdienst oder Glück gelingt. Und doch sind Volk und Litteratur des Mittelreichs keineswegs so langweilig uniform, so ganz der Originale bar, wie man gemeinhin glaubt. Bahnbrechende Genies haben auch hier dem Geschmack neue Richtungen gegeben, dem Denken neue Gebiete erschlossen, und gerade uns Europäern werden die leichte Anmut, die Lebensfrische und Lebenswahrheit mancher Erzeugnisse der neuern Belletristik mehr zusagen als manches hochgefeierte Werk der alten Weisen. Eigentliche geistige Revolutionen hat China nie erlebt; allerdings hat es wohl auch nie geistige Zwangsjacken getragen, deren Sprengung Reformatorenkräfte erfordert hätte. Die Presse ist frei, religiöse Duldsamkeit allgemein.
Die Chinesen stellen unter ihren Büchern fünf obenan, die sie King (»kanonische«) nennen. Sie sind, gleich unsrer Bibel, nicht einheitlichen Inhalts, sondern eine Sammlung derjenigen alten Schriften, die man als ewig normgebende anerkannt hat. Unter ihnen wieder nimmt das Iking oder »Buch der Wandlungen« die erste Stelle ein, ursprünglich kein eigentliches Buch, sondern eine Tafel von Diagrammen (Kua genannt), die an die Figuren unsrer Punktierbücher erinnern.
Sie bestehen aus zwei Elementen, einer ganzen: - und einer gebrochenen Linie: - -. Kombiniert man diese dreistellig, so erhält man acht Figuren: ^ ^ ^ etc.; kombiniert man sie sechsstellig, so ergeben sich 64 Figuren. Man sieht, diese Figuren beruhen auf einem Dualismus; dualistisch aber ist das menschliche Denken und Empfinden von Haus aus, und so lag es nahe, diese Kombinationen zu verwerten, sie metaphysisch zu deuten. Von jeher wurden sie mit fast religiöser Ehrfurcht betrachtet, als enthielten sie die Summe der Weisheit; immer haben sie den Scharfsinn der einen, den Aberglauben der andern gereizt, und heute noch wollen Männer der Wissenschaft kosmologische und moralische Wahrheiten in ihnen entdecken, während Wahrsager sie auf die Lostafeln schreiben, aus deren Fall sie die Zukunft zu künden vorgeben.
Die Entstehung dieser Diagramme wird in die mythische Vorzeit Chinas verlegt. Fürst Wenwang und sein Sohn Tscheukong gelten für die ältesten Erklärer; weitere Erläuterungen dazu schrieb Konfucius, ein großer Verehrer des Iking selbst, und eine Unzahl Späterer haben sich in fernern Kommentaren des dunkeln Buches versucht. Das Schiking, meisterhaft übersetzt von V. v. Strauß (Heidelb. 1880), ist eine von Khung-tse (Konfucius) veranstaltete Sammlung lyrischer Gedichte, deren älteste aus dem 18. Jahrh. v. Chr. herrühren.
Das Buch enthält teils Volkslieder, nach ihren Heimatsprovinzen geordnet, teils Gelegenheits- und Festgedichte aus den höhern und höchsten Kreisen, teils Lobgesänge auf große Tote. Tiefe Innigkeit, zuweilen beißender Witz, oft hoher poetischer Schwung sind diesen Erzeugnissen eigen; rührende Naivität, sinniges Verbinden der Natureindrücke mit den innern Stimmungen, Verspaare, die sich ahnungsvoll, nur immer leise abgeändert, von Strophe zu Strophe wiederholen, den Refrains unsrer Volkslieder vergleichbar: das alles verleiht ihnen einen ästhetischen Reiz, welcher das ihnen gebührende wissenschaftliche Interesse noch überbietet.
Früh schon haben die Chinesen den Wert des Liedes begriffen. In den Gesängen eines Volkes meinte man Äußerungen seines sittlichen und materiellen Befindens zu erkennen, daher während der Feudalzeit des Reichs der Brauch, die Volkslieder amtlich sammeln zu lassen. Das leider nicht mehr vollständig erhaltene Schu (»Buch«) oder Schuking, ein von Konfucius gefertigter Auszug aus amtlichen Urkunden, ist das älteste uns erhaltene geschichtliche Werk der Chinesen. Es umfaßt die Zeit vom 24. bis zum 8. Jahrh. v. Chr., enthält aber weniger geschichtliche Daten als amtliche Erlasse, Ratschläge etc. der Fürsten, die ein Bild alter Staatsweisheit liefern.
Das Tschhünthsiéu, das einzige von Konfucius wirklich verfaßte Buch, ist ein überaus trocken und kurz gehaltenes historisches Werk, die Zeit vom 8. bis 5. Jahrh. vor unsrer Zeitrechnung und namentlich die Geschichte des kleinen Staats Lu, aus dem der Weise stammte, behandelnd. Sein hohes Ansehen verdankt es wohl jener Verfasserschaft allein; einen eignen Wert aber hat es in chronologischer Hinsicht wegen der Sorgfalt, mit der es der eingetretenen Sonnenfinsternisse gedenkt. Unter dem Ausdruck Li fassen die Chinesen etwa das zusammen, was sich gebührt: gute Sitte, Zeremoniell, Etikette, aber, dem polizeistaatlichen Wesen der Nation entsprechend, auch sonst das Ordonnanz- und Reglementsmäßige. Es lag nahe, das hierauf Bezügliche in Büchern zu sammeln, die bei aller Verschiedenheit
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des Inhalts doch verwandten Zweck hatten mit unsern Gesetzbüchern. Aus dem 13. oder 12. Jahrh. v. Chr. stammt das von Biot ins Französische übersetzte Tschéuli, eine wahre Fundgrube für die Kenntnis der Kulturzustände seiner Zeit, heute wohl auch für die Chinesen nur noch von geschichtlichem Interesse. Das mehr als tausend Jahre jüngere Liki, ein lose gefügtes Sammelwerk aus ältern Quellen, steht dafür noch heute in praktischem Ansehen und pflegt den King angereiht zu werden. Überraschend sinnig ist die Würdigung, welche die Musik in diesem Buch findet: wie das Li die Handlungen, so mäßigt die Tonkunst die Gefühle der Menschen;
jenes sondert, diese vereinigt, versöhnt;
dort trennende Ordnung, hier verbindende Harmonie.
Den King als klassische Schriften zunächst stehen die Sseschu, worunter man vier kurz nach des Konfucius Zeit entstandene philosophische Bücher versteht: das kurze Tahio (»die große Lehre«),
ein Abriß der sittlichen und politischen Grundlehren;
Tschung-yung (etwa »das Beharren in der Mitte«),
eine schön geschriebene Abhandlung über das Einhalten der rechten Mittelstraße als Norm des sittlichen Verhaltens;
Lüniü (»Gespräche«),
eine Aufzeichnung von Aussprüchen des Konfucius, meist in Form kurzer Zwiegespräche, bei aller Trockenheit doch reich an trefflichen Kernsprüchen des Weisen über sittliche und Lebenswahrheiten.
Von verwandtem Inhalt, aber von belebterm Stil ist das vierte, das Buch Mengtse, so genannt nach dem gleichnamigen Lebensphilosophen, dem Mencius der katholischen Sendboten, nach heutiger Ansicht dem hervorragendsten Jünger des großen Meisters. Gleich diesem suchte Mengtse praktisch ins Staats- und Volksleben einzugreifen, indem er bei verschiedenen Lehnsfürsten des Reichs in Dienste trat und überall entschieden, wenn schon oft in diplomatisch milderer Form als sein Vorgänger, die ihm begegnenden Mißstände bekämpfte. Das Buch, das einzelne seiner Unterredungen wiedergibt, ist dank der Anmut und der verhältnismäßigen Leichtigkeit seines Stils wie kaum ein zweites geeignet, uns in das Studium der altchinesischen Litteratur einzuführen. Beste Übersetzung der King und Sseschu von Legge (»The Chinese classics«, bisher 8 Bde., Lond. 1861 ff.), des Mengtse von Stanislas Julien.
Der Jugendunterricht soll zunächst als Vorstufe zur weitern humanistischen Bildung, d. h. zum Verständnis der Sseschu und der King, dienen. Wahre Elementarbücher sind vor allen das Santseking (»Drei-Wort-Kanon«) und das Tsiantsewen (»Tausend-Wort-Lehre«),
gereimte Büchlein, die, auswendig gelernt und nachgeschrieben, den Schüler in die Lese- und Schreibekunst einführen. Das Siaohio (»Kleine Lehre«) enthält Verhaltungsregeln, das Hiaoking (»Pietätskanon«) die Lehre von den kindlichen Pflichten. Für den Unterricht der Mädchen sind analoge Werkchen im Gebrauch.
Was man als chinesische Staatsreligion zu bezeichnen pflegt, ist eben die Lehre des Konfucius und seiner Schüler. In dieser tritt das religiös-dogmatische Element weit hinter dem praktisch-moralischen zurück. Dieses aber ist so menschlich schön darin entfaltet, die Übereinstimmung des wahrhaft Sittlichguten mit dem wahrhaft Nützlichen so entschieden, oft so schlagend darin durchgeführt, daß man begreift, wie der ostasiatische Riesenstaat sich unter der Herrschaft solcher Grundsätze Jahrtausende hindurch behaupten konnte.
Pietät gegen die Toten, gegen die Obrigkeit, die Eltern und den ältern Bruder, Wohlwollen und Gerechtigkeit gegen Gleichgestellte und Untergebene sollen das Leben des Volkes und der Familie beherrschen, Lernbegierde und Fleiß das allgemeine Wohl fördern: Achtung daher auch vor der Wissenschaft und ihren Vertretern! Laotse, ein etwas älterer Zeitgenosse des Konfucius, war im Gegensatz zu diesem ein Theosoph von der tiefsinnigsten Mystik. Sein Werk Taoteking, der Kanon von der Vernunft (Gott) und der Tugend, dessen Worte von Stanislas Julien, dessen Geist von Viktor v. Strauß gedeutet worden, steht innerhalb der chinesischen Litteratur fast vereinzelt da. Selbstbefreiung, der Weltvernunft ähnlich werden, ist das Ziel des menschlichen Lebens und Strebens. An Konfucius und Laotse reihen sich fünf, bez. vier spätere Denker an, die, nächst ersterm Meister für die bedeutendsten gehalten, samt Laotse unter dem Namen zehn Philosophen zusammengefaßt werden.
Sie schmiegen sich teils dicht an ihre Vorbilder an, teils suchen sie deren Lehren selbständig weiterzubilden, zuweilen sie zu verbessern. Einer von ihnen, Sünking, wendet sich geradezu gegen eine Grundlehre seines Meisters Konfucius, indem er die menschliche Natur nicht, wie dieser, als ursprünglich gut, sondern als von Haus aus böse bezeichnet. Im Gegensatz zu diesen zehn werden zwei selbständige Denker schlechthin als Irrlehrer genannt: Miti, der in allgemeiner gegenseitiger Liebe die Grundlage des irdischen Glückes zu finden meinte und dabei die besondere, vorzugsweise Liebe, die man Einzelnen schuldet, hintansetzte, und Yangtschü, der im persönlichen Wohlbefinden das höchste Gut erblickte und somit die Moral in ihren Grundlagen verneinte. Beide Irrtümer werden von Mengtse bekämpft.
Der Stil dieser alten Philosophen ist oft bis zur Dunkelheit kurz und sententiös, ihre Gedankenfolge springend, nicht Schritt für Schritt einem Ziel zugehend. Die logischen Mittelglieder wollen gesucht, erraten werden, und oft erschweren Anspielungen auf wenig bekannte Personen und Thatsachen das Verständnis vollends. Und was wir von der altchinesischen Litteratur besitzen, sind doch nur große Trümmer. Denn um 200 v. Chr. hieß Kaiser Schihoangti, der landesüblichen Altertümelei gram, bei Androhung harter Strafe alle im Reich vorhandenen Bücher verbrennen und 460 Gelehrte, die ihre Schätze vor der Vernichtung retten wollten, bei lebendigem Leibe begraben.
Was jener Verheerung entging, ist im Verhältnis zu dem Verlornen sehr wenig, und manches, das nachmals aus der Erinnerung alter Leute wieder aufgezeichnet wurde, ist entschieden lücken- und fehlerhaft auf uns gekommen. Man sieht, es gilt viel Dunkles zu erklären, viel Fehlendes zu ergänzen. Der Textkritik und Interpretation ist damit ein Feld geöffnet, das seitdem von den chinesischen Kommentatoren mit namenlosem Fleiß, vielfach mit großer Umsicht bebaut worden ist.
Schade nur, daß durch derlei Arbeiten viele der besten Köpfe dem selbständigen Denken entzogen wurden. Unter den Meistern in diesem Fache gebührt dem Tschuhi (gest. 1200 n. Chr.), dem »Fürsten der Litteratur«, der erste Rang. Vielseitiges Wissen, scharfer kritischer Verstand, unermüdlicher Fleiß und fein gebildeter Geschmack sind ihm in gleich hohem Grad eigen. Seine Werke, 18 an der Zahl, zusammen 66 Bücher einnehmend, sind epochemachend geblieben und zählen noch heute zu den tüchtigsten Lehrmitteln. Tschuhi begnügte sich nicht mit der Kritik und Auslegung vorhandener Texte, sondern er faßte auch die Früchte seines eignen Denkens in selbständig geordneten Schriften zusammen, er schuf Kompendien der Moral, der Pädagogik, der
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Musik, der Naturphilosophie, der Politik etc. Er war, wenigstens unsers Wissens, der letzte Philosoph von Bedeutung. An die Schule des Laotse hat sich unter dem Namen Taosse eine religiöse Sekte angelehnt, deren Lehre mit jener ihres Meisters nur wenig mehr zu schaffen hat. Ihre Bücher, soweit wir von ihnen Kunde haben, sind teils moralischen, teils toll abergläubischen Inhalts; das von Julien übersetzte Spruchbuch »Über Belohnungen und Strafen« gehört in die erstere Gattung. Die religiösen Schriften der Buddhisten sind für uns wertvoll, teils weil sie die Entwickelung dieses Glaubens in China abspiegeln, teils weil sie manches im indischen Urtext verloren gegangene Werk aufbewahrt haben. Näheres über sie gehört aber mehr in die Geschichte jener Religion als in die der chinesischen Litteratur.
Das Studium der alten Schriftsteller erheischt das ihrer Sprache, die Richtigstellung und Erklärung der Texte setzt eine Philologie voraus. In dieser Wissenschaft haben die Chinesen Erhebliches geleistet. Freilich sind sie wohl nie darauf verfallen, ihre Sprache grammatisch zu bearbeiten; die Formlosigkeit derselben lud dazu nicht ein. Ihre Wörterbücher aber sind um so bedeutender, das größte derselben umfaßt 237 Bände. Dazu kommen Werke über alte Schriftzeichen und Inschriften, über die Aussprachen der verschiedenen Dialekte, über auffallende Sprachgebräuche einzelner Schriftsteller, endlich Wörterbücher, ja sogar Grammatiken der mongolischen, mandschuischen und noch mancher andrer Sprachen.
Bis zu einer vergleichenden Linguistik in unserm Sinn hat man es nicht gebracht. Die chinesische Geschichtschreibung kann, was Vollständigkeit und Zuverlässigkeit des Erzählten betrifft, mustergültig genannt werden, nicht aber hinsichtlich ihrer Darstellungsweise. Der trockne Annalenton des »Tschhünthsiéu« (s. oben) klingt fast überall nach, allenfalls gewinnt das Erzählte durch tieferes Eingehen in Einzelheiten an Lebendigkeit; fast überall aber bleibt ein übersichtliches Bild der jeweiligen Zustände und ein klares Entwickeln der Ereignisse aus diesen zu vermissen.
Seit der Dynastie Hia (2207-1767) besteht bis auf den heutigen Tag das Amt der Reichsgeschichtschreiber, und die Vasallenfürsten unterhielten für ihre Staaten ähnliche Ämter. Die damit betrauten Männer, jetzt das ganze Hanli-Kollegium, scheinen stets einer Unabhängigkeit genossen zu haben, die Vertrauen in die Wahrheit ihrer Berichte erweckt. Durch den großen Bücherbrand ist natürlich, was sich bis dahin von jenen Quellen erhalten hatte, vollends zu Grunde gegangen.
Das Sseki des Ssematsian aus dem 1. Jahrh. v. Chr. ist nächst dem Schuking und dem Tschhünthsiéu das wichtigste Werk für Chinas ältere Geschichte. Der Verfasser hat mit unendlichem Fleiß die vorhandenen Urkunden, Denkmäler und Sagen durchforscht, um so ein Werk zu schaffen, das die Geschichte von beinahe dritthalb Jahrtausenden, vom Kaiser Hoangti bis 122 v. Chr., in sich faßt. Er ordnet seinen Stoff in fünf Teile:
1) Lebensbeschreibungen der Kaiser mit nur kurzer Erwähnung der reichsgeschichtlichen Ereignisse;
2) chronologische Aufzählung von Belehnungen und Ernennungen;
3) Geschichte von Ritual, Musik, Gesetzen, Zeitbestimmung, Astronomie, Opfern, Staatsbauten und Maß und Gewicht;
4) Genealogie der lehnsfürstlichen und andrer durch Grundbesitz bedeutender Häuser;
5) Biographien hervorragender Männer, nicht selten verbunden mit ausführlichen Erzählungen wichtiger geschichtlicher Begebenheiten. Diese Einteilung des Stoffs gilt noch heute der offiziellen Geschichtschreibung als Muster. Das Sseki eröffnet die Reihe der sogen. »vierundzwanzig Geschichtswerke«, d. h. der Reichsannalen. Die nächstfolgenden Werke sind Privatarbeiten; seit dem 7. Jahrh. v. Chr. aber besteht die Einrichtung, daß jede Dynastie amtlich die Geschichte der vorhergehenden bearbeiten läßt. Neben diesen Werken gibt es dann noch die Geschichten einzelner Lehnsreiche und Provinzen und eine Menge zum Teil sehr umfangreicher Privatarbeiten, unter denen das »Thongkian« des Ssemakuang und seiner Nachfolger für das bedeutendste gilt.
Was wir von den Leistungen der Chinesen auf den Gebieten der Länder- und Völkerkunde, der Naturgeschichte und Medizin und andrer Erfahrungswissenschaften kennen, ist wohl durchweg mehr beschreibend und aneinander reihend als systematisch gehalten. Der Wert der einschlägigen, zum Teil sehr umfangreichen Werke beruht in der Art, wie die Thatsachen beobachtet und erzählt, nicht wie sie erklärt werden. Die herkömmliche dualistische Naturphilosophie mit ihrer Theorie von den fünf Elementen: Feuer, Wasser, Erde, Metall und Holz muß in der Arzneiwissenschaft ersetzen, was an anatomischen, physiologischen, chemischen und physikalischen Kenntnissen fehlt.
Die Berichte chinesischer Reisenden über benachbarte Länder aber versprechen eine wahrhaft unschätzbare Ausbeute, desgleichen die Schriften über Ackerbau und Gewerbe. Den uns nur wenig bekannten Werken der Gesetzgebung und Rechtswissenschaft wird Übersichtlichkeit und logische Konsequenz nachgerühmt. Überaus beliebt sind die Encyklopädien. Der kleine, aus ein, zwei Heften bestehende »Hausschatz« (Kiapao), der in der Wohnung des kleinen Mannes neben dem Kalender und einer Anzahl billiger Erzählungen fürs Volk liegt, ebenso wie die hundert- und tausendbändigen Sammelwerke in den Büchereien der Großen und Gelehrten, alle erfüllen sie den Zweck, ihrem Besitzer innerhalb des Kreises seines Bedürfnisses allseitige Belehrung zu gewähren.
Auch haben wissenschaftliche Köpfe ersten Ranges es sich angelegen sein lassen, solche Universalwerke zu verfassen. Obenan unter diesen Encyklopädisten steht Matuanlin (1245-1322), ein Mann von einem Umfang des Wissens, einer Schärfe des Urteils und Arbeitskraft, die ihm den Rang unter den größten Gelehrten der Welt sichern. Sein Buch »Wenhianthongkhao«, ein Riesenwerk von 348 Bänden in 24 Abteilungen, stellt in kraftvoll klarem Stil die gesamte chinesische Landes- und Volkskunde mit Ausschluß gewisser Teile der Naturbeschreibung, aber einschließlich der Staats-, Kultur- und Litteraturgeschichte, Astronomie, merkwürdige Naturereignisse, endlich die Zustände der bekannten ausländischen Nationen dar.
Zwei Nachträge Späterer, zusammen gegen 300 Hefte haltend, führen das Werk bis ins 18. Jahrh. hinein weiter. Man begreift, wie einer unsrer Sinologen sagen konnte, ein solches Buch wiege für sich allein eine Bibliothek auf und würde, wäre es das einzige Erzeugnis der chinesischen Litteratur, vollauf die Erlernung der chinesischen Sprache lohnen. Mit zahlreichen Abbildungen versehen, aber kaum ein Sechstel so groß ist das »Santsaithuhoei«, wahrscheinlich in Japan mehr verbreitet als in seinem Vaterland. Wir wissen aber auch, daß die kaiserliche Bibliothek zu Peking eine Encyklopädie von 10,000 und eine von 22,870 Bänden besitzt. Die Anordnung aller dieser Werke ist nicht die bei uns beliebte lexikalische, sondern eine dem Gutdünken der Redaktoren folgende sachliche.
Dichterische Werke gehören nach chinesischer Auffassung nur dann zur höhern Litteratur, wenn sie in
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gebundener Rede verfaßt sind. Was die Chinesen in dieser Gattung geschaffen haben, mag unzählbar sein: rechnen sie doch Versemachen zu den notwendigen Künsten eines Mannes von feinerer Bildung. Was wir davon außer dem »Schiking« kennen, ist jedenfalls verschwindend wenig. Ihren höchsten Aufschwung nahm die Kunst der Lyrik unter der Dynastie Thang (618-906); damals blühten die beiden berühmtesten Meister, Tufu und Lithaipe, letzterer ein liederliches Genie der interessantesten Art, persönlicher Freund seines Kaisers, der sich den Launen und Flegeleien des seltenen Menschen zu fügen wußte.
Die Chinesen sind Naturfreunde, das beweisen ihre Gartenanlagen, und so lieben sie es auch, die Natur bis zu ihren kleinsten Erscheinungen zum Gegenstand ihrer dichterischen Ergüsse zu machen, oft den Gegenstand des Liedes sinnig zu eignen Schicksalen und Seelenzuständen in Beziehung setzend. Das Wortspiel, nach unsern Begriffen eine der niedersten Arten des Witzes, wird vielfach mit recht ernster Wirkung angewendet: die Allegorie läßt durch den Klang gewisser Stichwörter den versteckten Sinn ahnen.
Die Chinesen dichten in Reimen, und ihre Versmaße sind nicht minder mannigfaltig als die unsrigen. Die herrschende Vorliebe für allerlei uns fremde Anspielungen macht das Studium ihrer Dichtungen zu einem äußerst schwierigen. Von manchen anmutigen Romanzen und Stimmungsliedern besitzen wir gute Übersetzungen. Wenig entwickelt ist nach unsern Begriffen die dramatische Kunst. In den Bühnenstücken, deren einige uns in Übersetzungen und Bearbeitungen vorliegen, zeigt sich öfters Geschick in der Entwickelung spannender Situationen (s. Drama).
Letzteres gilt auch von manchen Romanen. Die Bücher dieser Art sind sämtlich in Prosa geschrieben. Wir kennen deren drei Hauptarten: den märchenhaften Roman, in welchem die Ereignisse von Dämonen und Feen geleitet werden, den historischen und den bürgerlichen oder Familienroman. Einzelne Werke der letztern Gattung haben auch in Europa Beifall gefunden und das mit Recht, denn nirgends wird man so lebenswarme Schilderungen des chinesischen Treibens und Denkens finden wie hier.
Wir erinnern an das Jükiaoli (»Geschichte der beiden Kousinen«),
welche Rémusat und Julien, und an das Haokieutschuan (»Die glückliche Vereinigung«),
welche Davis u. a. übertragen haben. Das Kingphingmei aber, die Geschichte eines reichen Lüstlings, eigentlich mehr eine erfundene Biographie als ein einheitlicher Roman, würde geradezu eine Encyklopädie des Lebens im Reich der Mitte liefern, wenn es übersetzbar wäre. Der Verfasser muß ein Genie seltener Art gewesen sein: Feinheit und Konsequenz der Charakterzeichnung, lebenswahre Schilderung der verschiedensten Gesellschaftskreise und Vorkommnisse, schlagender, allzeit fertiger Witz, zuweilen wahrhaft ergreifende Poesie und Gemütsinnigkeit, aber dabei (und dies verhindert die Veröffentlichung des Werkes in einer europäischen Übersetzung) neben vielen Längen eine wahre Sucht, das Schmutzigste ohne Scham und Scheu recht grell auszumalen, zeichnen seine Werke aus. Daß Liebe und Heirat in den Lustspielen und Romanen der Chinesen nicht die Alleinherrschaft ausüben, die man ihnen bei uns gönnt, darf nicht wundernehmen; eher, daß wir auch hier nicht selten einer wahrhaft reinen Liebe begegnen. Die endliche Beförderung eines lange verkannten oder unterdrückten Talents zu einer höhern Stelle befriedigt freilich den Sinn des chinesischen Lesers ebensosehr wie uns eine schwer erkämpfte Ehe.
Die Chinesen bedienen sich zum Druck ihrer Bücher des Holzschnittes. Sie bedrucken nur eine Seite ihres dünnen Papiers. Die Blätter werden in der Mitte zusammengefalzt, und der Falz, auf welchem Titel, Heft- und Blattzahl, oft auch die Überschrift des Kapitels oder Buches stehen, bildet die äußere Seite des Blattes. An der entgegengesetzten Seite ist das Buch geheftet. Die innere Einrichtung ist der unsern fast gleich: auf die Vorrede folgt die Inhaltsübersicht, dann der Text. Wo dieser kommentiert ist, stehen die Anmerkungen bald in kleinerm Druck oder eingerückt zwischen dem Text, bald in besondern Querabteilungen über demselben.
Minder sorgfältige Drucke entbehren der Interpunktionen.
Vgl. Abel Rémusat, Essai sur la langue et la littérature chinoises (Par. 1811);
Davis, On the poetry of the Chinese (in den »Transactions of the Royal Asiatic Society«, Lond. 1829);
Bridgman, Chinese chrestomathy (Macao 1841);
Schott, Entwurf einer Beschreibung der chinesischen Litteratur (Berl. 1854);
Derselbe, Chinesische Verskunst (das. 1857);
Derselbe, Zur Litteratur des chinesischen Buddhismus (das. 1873);
A. Wylie, Notes on Chinese literature (Schanghai 1867), und verschiedene Abhandlungen von Plath und Pfizmaier in den Veröffentlichungen der Münchener und Wiener Akademien der Wissenschaften.