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des Ausdrucks, Wohlklang und Ebenmaß der Satzglieder, Schärfe der Antithesen sind Haupteigenschaften des guten, namentlich des alten Stils. Der chinesischen Sprache [* 2] ist eine außerordentliche Dehnbarkeit eigen; man kann in wenigen aneinander gereihten Monosyllaben einem Gedanken Ausdruck geben, dessen Übersetzung sehr wortreich ausfallen müßte; man kann den Satz durch Hilfswörter erweitern und schließlich seine Einsilber durch Komposita ersetzen, ohne daß dabei sein Sinn ein andrer wird. Die chinesischen Schriftsteller haben es verstanden, diese Macht ihrer Sprache zu nutzen, um stilistische Meisterwerke zu schaffen, die in den Litteraturen andrer Völker ihresgleichen suchen.
Die Schwierigkeiten der chinesischen Sprache beruhen, abgesehen von der Aussprache und Schrift, namentlich in der Konstruktion. Immer und immer kehrt die Frage wieder: sind zwei aufeinander folgende Wörter als ein Kompositum oder als durch »und« verbunden zu denken? sind sie Subjekt und Prädikat? oder ist eins dem andern subordiniert, etwa a nähere Bestimmung von b, oder b Regimen von a etc.? Nur eine genaue Kenntnis des Satznexus, des Sprachgebrauchs und der Eigenartigkeit des Stils vermag solche Zweifel zu lösen.
Die Anfangsgründe der Sprache bewältigt man bei einiger Ausdauer leicht, und der Verstand hat dabei mehr zu thun als das Gedächtnis, das nicht mit dem Auswendiglernen von Paradigmen oder unregelmäßigen Verben beschwert wird. Sehr bald kann man mit Zuhilfenahme einer treuen Übersetzung und eines Wörterbuchs an die Lektüre leichter Texte gehen, um sich die gelernten Regeln einzuprägen und im Geiste dieser so eigenartigen Sprache und Litteratur heimisch zu werden. An Hilfsmitteln ist kein Mangel.
Nur hüte man sich, zu bald der Hilfe des Lehrers oder einer Übersetzung entraten zu wollen; ein solcher Fürwitz pflegt sich durch die ärgerlichsten Mißverständnisse zu rächen. Man bedenke, daß wie jeder Schriftsteller, so auch der chinesische zunächst für seine Landsleute schreibt und bei seinen Lesern alle die Kenntnisse voraussetzt, die man von einem gebildeten Chinesen erwarten kann. Wer ihm also folgen, die zahllosen Citate und Anspielungen, in denen er sich gefällt, verstehen will, dem muß auch ein mehr oder weniger ergiebiger Schatz realen Wissens zur Verfügung stehen.
Durch die Schrift aber braucht sich niemand abschrecken zu lassen. Die ersten Schwierigkeiten sind bei einigem Fleiß bald überwunden; was anfangs ein wüstes Wirrsal schien, löst sich nun in eine leichtfaßliche Gruppe einfacher Elemente auf, und ist man erst so weit, so wird sie eher anregend und fördernd als beschwerend und hemmend auf das Studium einwirken. Sie ist eine Wortschrift; ihre Urbestandteile sind rohe, zuweilen symbolische Bilder, z. B. ☉ Sonne, [* 3] ∸ oben, ^ unten.
Dazu kamen dann symbolische Bildergruppen, z. B. zwei Bäume = Wald, zwei Weiber = Zank, Weib und Kind = Liebe, Vogel und Mund = Gesang. Alle diese Zeichen entsprechen nun zwar nur Einem Wort, allein mit dessen Laut haben sie von Haus aus nichts zu schaffen. Nun ist aber die Zahl der Wörter von gleichem Laut und verschiedenem Sinn und derer von verwandter Bedeutung und verschiedenem Laut (Synonymen) eine sehr beträchtliche, und jedes Wort mußte daher mindestens Ein besonderes Schriftzeichen haben.
Dies erreichte man, indem man zu jenen zwei Klassen noch eine dritte (und zwar weitaus die zahlreichste) schuf, welche Begriffs- und Lautdarstellung in sich vereinigt. Man wählte nämlich das meist selbst wieder zusammengesetzte Zeichen eines gleich oder ähnlich lautenden Wortes, fügte aber diesem Zeichen einen sogen. ideographischen Zusatz bei, um die Begriffskategorie des Wortes zu kennzeichnen. So wird in Zusammensetzungen das Symbol »Herz« für geistige und gemütliche Zustände und Thätigkeiten, »Feuer« für Brennen etc. verwandt.
Die Zahl der Schriftzeichen wird alles in allem auf 50-100,000 geschätzt; davon sind jedoch nur die wenigsten in allgemeinem Gebrauch, die meisten bloße Nebenformen (Varianten), viele geradezu fehlerhaft. Wer 2-3000 der gebräuchlichen kennt, wird in der Lektüre selten auf unbekannte stoßen. Da nun die Zeichen teils selbst Elemente, teils aus solchen zusammengesetzt sind, so hat man eine Anzahl der gewöhnlichsten jener Elemente (jetzt 214) als sogen. Radikale oder Schlüssel ausgewählt und unter diesen den ganzen Vorrat der Schriftzeichen in Wörterbüchern übersichtlich geordnet.
Was die Chinesen über Alter und Ursprung ihrer Schrift berichten, muß als Fabel angesehen werden. Die ältesten erhaltenen Inschriften sind nachweislich über 4000 Jahre alt; ehe aber die Schrift die Stufe erreicht hatte, auf der sie sich da schon zeigt, mag wohl eine geraume Zeit verstrichen sein. Mannigfache Formveränderungen hat sie auch später noch erlitten, ehe sie zu dem wurde, wozu Pinsel und Papier sie gemacht. Ihre jetzige Gestalt hat sie etwa seit Anfang unsrer Zeitrechnung, und ebenso alt ist auch die namentlich bei den Geschäftsleuten des südlichen China [* 4] übliche sogen. »Grasschrift« (thsào), eine Art Tachygraphie oder Schnellschrift, im Grund aber ein flüchtiges, oft inkorrektes und schwer zu lesendes Geschmiere.
Nachbarvölker, deren Kultur auf chinesischer Grundlage ruht, wie die Japaner, Koreaner und Anamiten, haben ihre Schriftzeichen den chinesischen entlehnt oder nach deren Vorbild erfunden. Bei ihnen ist aber auch die Sprache des Mittelreichs das geworden, was ehemals bei uns das Lateinische war, eine Gelehrtensprache, aus welcher massenhafte Fremdwörter in die Landesidiome aufgenommen wurden. Wir Europäer verdanken unsre ersten genauern Kenntnisse des Chinesischen den katholischen Sendlingen, von denen einer, der Spanier P. Varo, 1703 die erste Grammatik veröffentlichte.
Von den Franzosen hat Prémare zuerst die Feinheiten des Stils erschlossen; dessen Werk wurde von Abel Rémusat zu einer höchst brauchbaren Elementargrammatik umgearbeitet. Eingehende, freilich ganz unsystematische Erörterungen verdanken wir Rémusats Nachfolger Stanislas Julien (gest. 1873), während dem Deutschen W. Schott das Verdienst gebührt, zuerst die Sprache aus ihrem Wesen heraus und diesem entsprechend grammatisch dargestellt zu haben. Bazin in Paris [* 5] und Edkins in Schanghai [* 6] haben Grammatiken des Kuānhoá geliefert.
Sonst haben sich die Engländer namentlich als Lexikographen Verdienste erworben. Wichtigste Wörterbücher: von Basilé de Glemona [Deguignes] (Par. 1813), Morrison (Macao 1815-23, Schanghai 1865), Gonçalves (Macao 1831-41), Medhurst (Batavia [* 7] 1842-43), Lobscheid (Lond. 1866 ff., 1871), W. Williams (Schanghai 1874), Eitel (Hongkong 1877-83). Grammatiken: von Fourmont (Par. 1742), Marshman (Serampur 1814), Morrison (das. 1815), Rémusat (Par. 1822-57), Prémare (Malakka 1831, Kanton [* 8] 1847), Hyakinth Bitschurin (Petersb. 1838), Gützlaff (Batavia 1842), Endlicher (Wien [* 9] 1845), Bazin (Par. 1856), Edkins (Schanghai 1857), Schott (Berl. 1857), Summers (Oxford [* 10] 1863), Lobscheid (Hongkong 1864), Julien (Par. 1869-70), G. v. d. ¶
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Gabelentz (»Chinesische Grammatik«, Leipz. 1881, und »Anfangsgründe der chinesischen Grammatik«, das. 1883). Hierzu kommen zahlreiche Werke über einzelne Dialekte und rein praktische Hilfsbücher.
Die chinesische Litteratur.
Unsre Kenntnisse der chinesischen Litteratur befinden sich noch immer in den Anfängen. Unsre Kultur beruht auf griechisch-römischen und hebräischen Grundlagen, die Inder und Perser sind uns stammverwandt; mit den Arabern sind wir im Mittelalter in einen geistigen Austausch getreten, dessen Folgen bis auf den heutigen Tag fortdauern; dagegen standen Kunst und Wissen der Chinesen in ihrem Ursprung und bis auf die neueste Zeit auch in ihrer Entwickelung der europäischen Geistesbildung ganz fremd gegenüber: was Wunder also, daß der Kreis [* 12] ihrer Verehrer ein engerer ist und doch handelt es sich um ein Feld von fast unermeßlichem Umfang und von vielversprechender Fruchtbarkeit.
Der Bändezahl nach dürften die chinesischen Preßerzeugnisse mit in die erste Reihe, wo nicht obenan zu stellen sein, und an Vielseitigkeit kommt der Litteratur des Mittelreichs keine der andern außereuropäischen gleich. Seit beiläufig vier Jahrtausenden ist sie von dem zahlreichsten Kulturvolk der Erde gepflegt und gemehrt worden unter äußern Umständen, wie sie sich günstiger kaum denken lassen. Litterarische Bildung wurde fast stets von oben gefördert und geschützt, vom Volk bewundert und erstrebt; seit dem 10. Jahrh. werden die Bücher durch Druck, oft zu Spottpreisen, der Menge zugänglich gemacht.
Der Chinese ist seiner Anlage nach konservativ, und das äußert sich auch in seiner Litteratur. Die Alten werden immer mit gleichem Eifer gelesen, immer aufs neue herausgegeben und kommentiert; sie gründlich kennen, ist erste Voraussetzung der Bildung, Zweck und Ziel des höhern, wir würden sagen des Gymnasialunterrichts. Die Alten aber loben ihrerseits die noch Ältern, immer und immer weisen sie auf das erhabene Vorbild der Vorfahren hin. Dabei hat denn freilich das Neue, Originelle einen schweren Stand.
Wird es bei uns von der Leserwelt mit oft unverdientem Entzücken begrüßt, von untergeordneten Schriftstellern erhascht und nachgemacht, so steht ihm dort das allgemeine Mißtrauen, oft selbstgenügsame Gleichgültigkeit entgegen, die zu überwinden nur besonderm Verdienst oder Glück gelingt. Und doch sind Volk und Litteratur des Mittelreichs keineswegs so langweilig uniform, so ganz der Originale bar, wie man gemeinhin glaubt. Bahnbrechende Genies haben auch hier dem Geschmack neue Richtungen gegeben, dem Denken neue Gebiete erschlossen, und gerade uns Europäern werden die leichte Anmut, die Lebensfrische und Lebenswahrheit mancher Erzeugnisse der neuern Belletristik mehr zusagen als manches hochgefeierte Werk der alten Weisen. Eigentliche geistige Revolutionen hat China nie erlebt; allerdings hat es wohl auch nie geistige Zwangsjacken getragen, deren Sprengung Reformatorenkräfte erfordert hätte. Die Presse [* 13] ist frei, religiöse Duldsamkeit allgemein.
Die Chinesen stellen unter ihren Büchern fünf obenan, die sie King (»kanonische«) nennen. Sie sind, gleich unsrer Bibel, [* 14] nicht einheitlichen Inhalts, sondern eine Sammlung derjenigen alten Schriften, die man als ewig normgebende anerkannt hat. Unter ihnen wieder nimmt das Iking oder »Buch der Wandlungen« die erste Stelle ein, ursprünglich kein eigentliches Buch, sondern eine Tafel von Diagrammen (Kua genannt), die an die Figuren unsrer Punktierbücher erinnern.
Sie bestehen aus zwei Elementen, einer ganzen: - und einer gebrochenen Linie: - -. Kombiniert man diese dreistellig, so erhält man acht Figuren: ^ ^ ^ etc.; kombiniert man sie sechsstellig, so ergeben sich 64 Figuren. Man sieht, diese Figuren beruhen auf einem Dualismus; dualistisch aber ist das menschliche Denken und Empfinden von Haus aus, und so lag es nahe, diese Kombinationen zu verwerten, sie metaphysisch zu deuten. Von jeher wurden sie mit fast religiöser Ehrfurcht betrachtet, als enthielten sie die Summe der Weisheit; immer haben sie den Scharfsinn der einen, den Aberglauben der andern gereizt, und heute noch wollen Männer der Wissenschaft kosmologische und moralische Wahrheiten in ihnen entdecken, während Wahrsager sie auf die Lostafeln schreiben, aus deren Fall sie die Zukunft zu künden vorgeben.
Die Entstehung dieser Diagramme [* 15] wird in die mythische Vorzeit Chinas verlegt. Fürst Wenwang und sein Sohn Tscheukong gelten für die ältesten Erklärer; weitere Erläuterungen dazu schrieb Konfucius, ein großer Verehrer des Iking selbst, und eine Unzahl Späterer haben sich in fernern Kommentaren des dunkeln Buches versucht. Das Schiking, meisterhaft übersetzt von V. v. Strauß [* 16] (Heidelb. 1880), ist eine von Khung-tse (Konfucius) veranstaltete Sammlung lyrischer Gedichte, deren älteste aus dem 18. Jahrh. v. Chr. herrühren.
Das Buch enthält teils Volkslieder, nach ihren Heimatsprovinzen geordnet, teils Gelegenheits- und Festgedichte aus den höhern und höchsten Kreisen, teils Lobgesänge auf große Tote. Tiefe Innigkeit, zuweilen beißender Witz, oft hoher poetischer Schwung sind diesen Erzeugnissen eigen; rührende Naivität, sinniges Verbinden der Natureindrücke mit den innern Stimmungen, Verspaare, die sich ahnungsvoll, nur immer leise abgeändert, von Strophe zu Strophe wiederholen, den Refrains unsrer Volkslieder vergleichbar: das alles verleiht ihnen einen ästhetischen Reiz, welcher das ihnen gebührende wissenschaftliche Interesse noch überbietet.
Früh schon haben die Chinesen den Wert des Liedes begriffen. In den Gesängen eines Volkes meinte man Äußerungen seines sittlichen und materiellen Befindens zu erkennen, daher während der Feudalzeit des Reichs der Brauch, die Volkslieder amtlich sammeln zu lassen. Das leider nicht mehr vollständig erhaltene Schu (»Buch«) oder Schuking, ein von Konfucius gefertigter Auszug aus amtlichen Urkunden, ist das älteste uns erhaltene geschichtliche Werk der Chinesen. Es umfaßt die Zeit vom 24. bis zum 8. Jahrh. v. Chr., enthält aber weniger geschichtliche Daten als amtliche Erlasse, Ratschläge etc. der Fürsten, die ein Bild alter Staatsweisheit liefern.
Das Tschhünthsiéu, das einzige von Konfucius wirklich verfaßte Buch, ist ein überaus trocken und kurz gehaltenes historisches Werk, die Zeit vom 8. bis 5. Jahrh. vor unsrer Zeitrechnung und namentlich die Geschichte des kleinen Staats Lu, aus dem der Weise stammte, behandelnd. Sein hohes Ansehen verdankt es wohl jener Verfasserschaft allein; einen eignen Wert aber hat es in chronologischer Hinsicht wegen der Sorgfalt, mit der es der eingetretenen Sonnenfinsternisse gedenkt. Unter dem Ausdruck Li fassen die Chinesen etwa das zusammen, was sich gebührt: gute Sitte, Zeremoniell, Etikette, aber, dem polizeistaatlichen Wesen der Nation entsprechend, auch sonst das Ordonnanz- und Reglementsmäßige. Es lag nahe, das hierauf Bezügliche in Büchern zu sammeln, die bei aller Verschiedenheit ¶