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nach einem längern Aufenthalt in Athen [* 2] im Juli 1811 ins Vaterland zurück. Hier erschienen im folgenden Jahr die beiden ersten Gesänge seines »Childe Harold«, die ihn sofort als einen der glänzendsten Dichtersterne erscheinen ließen und zum Abgott der fashionabeln Welt Englands machten. Diesen Ruhm steigerte eine Reihe von Dichtungen, die zum Teil noch Früchte der Reise waren: »The Giaur«;
»The bride of Abydos« (1813);
»The Corsair«;
»Lara« (1814);
»The siege of Corinth«;
»Parisina« (1815) u. a. Auch die berühmte »Ode to Napoleon Buonaparte« und die vortrefflichen »Hebrew melodies« (alten Nationalmelodien angepaßt) entstanden um diese Zeit.
Seine mit Anna Isabella Milbanke, der einzigen Tochter des reichen Baronets Sir Ralph Milbanke, geschlossene Ehe war bei der großen Verschiedenheit ihrer Naturen nicht glücklich und wurde auch durch die Geburt einer Tochter, Ada, nicht befestigt, so daß es bald zu förmlicher Scheidung kam. Die Folge davon war, daß die öffentliche Meinung mit größter Entrüstung sich gegen Byron wandte. (Über die sogen. Enthüllungen, welche Mrs. Beecher-Stowe 1869 über diese Trennung angeblich aus dem Munde der Lady Byron veröffentlichte, s. unten.) Byron verließ daher zum zweitenmal England mit der Absicht, es nie wiederzusehen. Er zog durch Belgien [* 3] und den Rhein entlang in die Schweiz [* 4] und ließ sich im Juni 1816 an den Ufern des Genfer Sees in der Villa Diodati nieder, wo der Verkehr mit dem Dichter Shelley und dessen Gattin begann.
Von hier aus machte er während des Sommers und Herbstes Reisen in die Gebirgsgegenden, wobei ihn meist nur Shelley begleitete. Die poetischen Arbeiten, welche er, wiederum als Früchte seiner Reisen, am Genfer See vollendete, gehören zum Teil zu dem Besten, was seinem Dichtergeist entsprang; wir nennen nur den dritten Gesang von »Childe Harold« (1816),
das dramatische Gedicht »Manfred« (1817) sowie die beiden kleinern Gedichte: »The prisoner of Chillon« (1816) und die »Monody of Sheridan«. Nachdem er eine geraume Zeit (bis gegen Ende 1819) in Venedig [* 5] verweilt hatte, von wo er auch einen Ausflug nach Rom [* 6] machte, zog ihn die Liebe zur schönen Gräfin Teresa Guiccioli (gestorben als Marquise de Boissy im März 1873 in Florenz) [* 7] nach Ravenna, wo er im Umgang mit ihr und ihrer Familie, den Grafen Gamba, ungefähr ein Jahr verlebte, das er selbst seine glücklichste Zeit nennt.
Von den poetischen Arbeiten, welche Byrons Aufenthalt in Venedig ihre Entstehung verdanken, sind die wichtigsten: der vierte Gesang des »Childe Harold«, der mit dem dritten das vollendete Werk zu dem gedankenreichsten des Dichters macht;
»The lament of Tasso«;
das reizende Gedicht »Beppo« (1817);
die »Ode on Venice« und »Mazeppa« (1818);
auch der Entwurf und die ersten Gesänge des »Don Juan«, seines genialsten Werkes, fallen in jene Zeit. In Ravenna zogen ihn die Grafen Gamba und andre italienische Freisinnige in die revolutionäre Bewegung, die damals durch ganz Italien [* 8] die Patrioten zusammenführte.
Anfangs hatte der alte Graf Guiccioli nichts dagegen gehabt, daß seine junge Frau sich der Vorrechte bediente, welche ihr die Sitten des Landes gaben; endlich aber machte er Einwendungen und brachte die Sache sogar vor den Papst, welcher die Trennung der Gräfin von ihrem Gemahl gestattete unter der Bedingung, daß sie unter ihres Vaters Dach [* 9] leben sollte. Zuletzt aber fand sich Byron bewogen, sie aus Ravenna zu entfernen, da er ein Komplott, sie auf Lebenszeit in ein Kloster zu sperren, entdeckt hatte.
Dies und das unglückliche Ende der italienischen Revolution, das auch über die Gamba die Proskription verhängte, bewog Byron, im Herbst 1821 sich nach Pisa [* 10] zu begeben, wo die beiden Gamba und die Gräfin bereits ihre Wohnung aufgeschlagen hatten. Noch in Ravenna waren entstanden die »Prophecy of Dante«, die Dramen: »Marino Falieri«, »The two Foscari«, »Sardanapalus« und »Cain« und einige weitere Gesänge des »Don Juan«. In Pisa beschränkte sich Byrons täglicher Umgang auf die Familie Gamba, den Dichter Shelley und Leigh Hunt, mit dem er das Journal »The Liberal« herausgab.
Aber auch hier sollte er sich des Glücks häuslicher Ruhe nicht lange erfreuen. Reibereien mit der Polizei hatten zur Folge, daß er noch im Sommer 1822 die Stadt verließ und mit den Gamba nach Genua [* 11] übersiedelte. Zuvor vollzog er noch eine Freundespflicht, indem er den Leichnam des im Juli 1822 auf einer Spazierfahrt zwischen Livorno [* 12] und Lerici ertrunkenen Shelley auf einem Holzstoß verbrennen ließ und seine Asche in einer antiken Urne [* 13] nach Rom schickte, um sie neben der Pyramide des Cestius beisetzen zu lassen.
Seinem Aufenhalt in Genua (vom Herbst 1822 bis zum Sommer 1823) verdanken das Mysterium »Heaven and earth«, das prächtige Gedicht »The Island«, [* 14] das Goethe gewidmete Drama »Werner«, die mißlungene Faustnachahmung »The deformed transformed« und die Fortsetzung des »Don Juan« bis zum 16. Gesang ihre Entstehung. Begeistert für den Freiheitskampf der Hellenen, beschloß Byron endlich, seine Kräfte ihrer Sache zu widmen, und bestieg Ende Juli 1823 zu Livorno das englische Schiff [* 15] Herkules, welches ihn und mehrere Freunde (darunter den jungen Grafen Gamba) nach Kephalonia führte.
Außer vielen Waffen [* 16] brachte Byron einen bedeutenden Vorrat von Medikamenten und chirurgischen Utensilien mit; seine Kasse enthielt 10,000 span. Thlr. bar und etwa 40,000 Thlr. in Wechseln. Seine Ankunft in Griechenland [* 17] ward mit Jubel begrüßt, doch ließ er sich in keinerlei Verpflichtungen gegen irgend eine Partei ein, sondern knüpfte unmittelbar mit der Regierung Verhandlungen an. Um vor allem das schwer bedrohte Missolunghi zu retten, rüstete er zwei ionische Schiffe [* 18] aus und kam im Hafen von Missolunghi an, wo er als Retter aus tiefster Not begrüßt wurde.
Für den Abschluß der englischen Anleihe, für die Konstituierung der Gesellschaft der englischen Philhellenen war er rastlos thätig; die Härte der türkischen wie der griechischen Kriegführung suchte er durch Beispiele von Mäßigung und Großmut zu mildern und, wenn auch mit geringem Erfolg, die Zwistigkeiten zu beseitigen, welche die Häupter der Griechen trennten und ihre Kraft [* 19] zersplitterten. Die eifrigste Sorge aber widmete er kriegerischen Plänen. Er hatte vom an eine Schar von 500 Sulioten in Sold genommen, an deren Spitze er das Schloß von Lepanto, die einzige Festung [* 20] des westlichen Griechenland, welche noch in der Gewalt der Türken war, zu erobern gedachte; 2500 Griechen und eine Batterie der englischen Philhellenen sollten das Unternehmen unterstützen.
Inzwischen vergeudeten die griechischen Streiter die Zeit mit unnützen Streitigkeiten, und sogar in Missolunghi und unter Byrons Brigade brachen Uneinigkeiten und Meutereien aus, die des Dichters reizbares Gemüt mehr angriffen, als sein Körper ertragen konnte. Er bekam zu wiederholten Malen konvulsivische Anfälle und wurde durch die ärztlichen Mittel nur noch mehr geschwächt. Kaum so weit hergestellt, daß er seine gewohnten Spazierritte wieder unternehmen konnte, zog er sich auf einem derselben ¶
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ein Fieber zu, das bald einen gefährlichen Charakter annahm und nach zehn Tagen seinem Leben ein Ende machte. Die Kunde von seinem Tode drang wie ein Donnerschlag durch die Welt; ganz Griechenland trauerte um ihn 21 Tage. Sein Herz wurde in einer silbernen Kapsel in einem ihm geweihten Mausoleum zu Missolunghi aufbewahrt, ging aber bei dem letzten Versuch der Besatzung, sich durchzuschlagen verloren. Seine Leiche führte Graf Pietro Gamba nach England, wo sie, da ihr die Geistlichkeit ein Begräbnis in der Westminsterabtei verweigerte, in der Dorfkirche von Hucknall bei Newstead Abbey beigesetzt wurde. Seine von Thorwaldsen 1817 in Rom gefertigte (sitzende) Statue befindet sich zu Cambridge (in der Bibliothek des Trinity College); andre Standbilder wurden ihm zu Missolunghi und 1881 zu London [* 22] errichtet.
Byrons wunderbare Dichtungsweise, welche ihn neben Shakespeare als den größten Dichtergenius der englischen Litteratur erscheinen läßt, ist das Ergebnis einer widerspruchsvollen Begabung und eines widerspruchsvollen Zeitalters. Seine außerordentliche Begabung fand weder in England noch überhaupt in seinem Zeitalter entsprechende Aufgaben und stellte sich daher falsche, an deren Lösung er die größte Leidenschaft und das zarteste Gefühl, die sinnigste Detailarbeit und riesenhafte Gewalt setzte.
Aber obschon ein Riese, blieb er doch vor der Unlösbarkeit seiner Probleme verzweifelnd stehen; der furchtbare Riß, den er in allem sittlichen Leben beobachtete, durchzog als Zerrissenheit sein eignes Wesen; getäuschte Hoffnungen steigerten sich zum Weltschmerz, zur Weltverachtung, zur Verzweiflung, welcher Stimmungen gewaltigster Dolmetscher (Prometheus, Faust, Don Juan in Einem) und zugleich dichterisches Vorbild für das ganze Zeitalter ward. Zur Einheit und Harmonie der Weltanschauung und des dichterischen Schaffens sich durchzuarbeiten, vermochte er nicht, weil er niemals eine gewissenhafte Erziehung genossen hatte, weder von der Mutter, noch von den Menschen, noch von der Natur oder dem Glück oder dem Ruhm: er war dieser aller verzogenes Kind.
Als Erzeugnisse einer titanenhaft ringenden großen Seele haben seine Werke dauernden Wert. Sie erschienen als »Poetical works« London 1815, 6 Bde., u. öfter (auch in kontinentalen Nachdrucken); am vollständigsten, mit biographischen und kritischen Anmerkungen von verschiedenen Verfassern und mit Kupfern von William und Edward Finden, herausgegeben von Th. Moore, London 1832-33, 17 Bde.; sehr bequem und korrekt in einer Einbandausgabe bei Murray, das. 1850, zuletzt 1873 in 2 Bänden. Aus den deutschen Übersetzungen heben sich als die besten die von Böttger (7. Aufl., Leipz. 1861) und von Gildemeister (3. Aufl., Berl. 1877, 6 Bde.) hervor. »Childe Harold« übersetzten unter andern auch Zedlitz (Stuttg. 1836) und Jänert (Hildburgh. 1869); ausgewählte Dichtungen G. Pfizer (Stuttg. 1851) und Schäffer (Hildburgh. 1865 ff.); die Dramen Grüzmacher (das. 1870).
Vgl. Dallas, Recollections of Lord Byron (Lond. 1824);
C. Gordon, Life and genius of Lord Byron (das. 1824);
E. Brydges, Letters on the character etc. of Lord Byron (das. 1824);
Th. Medwin, Conversations of Lord Byron (das. 1824);
Marquis de Salvo, Lord en Italie et en Grèce, etc. (das. 1825);
»Lord Byron's private correspondence« (das. 1824; deutsch, Stuttg. 1825);
Gamba, Narrative of Lord Byron's last journey to Greece (Lond. 1825);
Parry, The last days of Lord Byron (das. 1828);
Leigh Hunt, Lord and some of his contemporaries (das. 1828);
Millingen, Memoir on the affairs of Greece (das. 1831);
Th. Moore, Letters and journals of Byron with notices of his life (das. 1833, neue Ausg. 1874; deutsch von Böttger, Leipz. 1842, 3 Bde.);
Kennedy, Conversations on religion with Lord Byron (Lond. 1830);
Lady Blessington, Conversations with Lord Byron (das. 1834, neue Ausg. 1850);
Trelawney, Recollections of the last days of Byron (das. 1858);
Gräfin Guiccioli, My recollections of Lord Byron (engl. von Jerningham, das. 1869, 2 Bde.; sichtlich nicht zuverlässig).
Vollständige Biographien des Dichters gaben Lake (Lond. 1827), John Galt (1837), Armstrong (1846), Eberty (2. Aufl., Leipz. 1879, 2 Bde.), Elze (2. Aufl., Berl. 1880; in engl. Übersetzung, Lond. 1872), Engel (Berl. 1876) und Nichol (Lond. 1879). Die autobiographischen Memoiren Byrons wurden vom Erben derselben, Thomas Moore, aus Familienrücksichten vernichtet. Gute Charakteristiken, soweit solche überhaupt Byrons Wesen zuläßt, haben Tuckerman in den »Charakterbildern englischer Dichter« (deutsch, Marburg [* 23] 1857),
Macaulay in seinen »Essays«, Bd. 1, und v. Treitschke in den »Historischen und politischen Aufsätzen« (4. Aufl., Leipz. 1871) gegeben.
Der Lordstitel Byrons ging auf seinen Vetter George Anson Byron, geb. über, der 1862 zum Admiral ernannt wurde und 1868 starb. Ihm folgte sein ältester Sohn, George Anson Byron, geb. und diesem, der kinderlos starb, sein Neffe George Frederick William, der jetzige Lord Byron. - Byrons Gattin, Lady Anna Isabella (s. oben), geb. zu London, brachte den Rest ihres Lebens in Zurückgezogenheit mit Ausübung einer großartigen Wohlthätigkeit zu und starb Auf Grund vertraulicher Mitteilungen, welche Lady in ihrer letzten Lebenszeit mehreren ihrer Freunde gemacht haben sollte, trat die mit ins Geheimnis gezogene amerikanische Schriftstellerin Beecher-Stowe (s. Beecher 2) 1869 in »Maxmillan's Magazine« mit Enthüllungen über die angeblich wirkliche Ursache der Byronschen Ehescheidung (»The true story of Lady Byron's life«) hervor, die ungeheures Aufsehen erregten.
Danach hätte dieselbe in der Entdeckung der Lady Byron ihren Grund gehabt, daß ihr Gemahl in einem blutschänderischen Umgang mit seiner verheirateten Halbschwester Augusta gestanden habe. Indessen erhoben sich sofort die gewichtigsten Stimmen gegen die Glaubwürdigkeit dieser mit allen Details gemachten Mitteilung. Nicht nur, daß grobe innere Widersprüche in der Geschichte der Mrs. Beecher-Stowe nachgewiesen wurden, man erbrachte von den verschiedensten Seiten her auch schlagende dokumentarische Gegenbeweise, so daß die völlige Grundlosigkeit der erhobenen Anklage sich bald als unzweifelhaft herausstellte. - Die einzige Tochter der Lady und des Dichters, Augusta Ada, geb. war seit 1835 mit William, Graf von Lovelace, vermählt und ging der Mutter bereits im Tod voraus.
Sie hinterließ zwei Söhne, von denen der ältere, Byron Noel, Viscount Ockham, geb. nachdem er kurze Zeit in der Marine gedient und beim Tod seiner Großmutter, Lady auch die Baronie Wentworth geerbt hatte, das Leben eines Abenteurers und Sonderlings führte und als freiwilliger gemeiner Arbeiter auf einer Londoner Schiffswerfte schon starb. Der zweite Sohn, Ralph Gordon Noel Milbanke, geb. folgte seinem Bruder bei dessen Tod als Lord Wentworth nach. ¶