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der beiden ersten Zaren von Tirnowo folgte ihr jüngster Bruder, der grausame Kalojoannes (1196-1207), welcher von Papst Innocenz III. schlau eine Königskrone sich verschaffte, Makedonien eroberte, den ersten Herrscher des lateinischen Kaiserreichs in Konstantinopel, [* 2] Balduin II. von Flandern, bei Adrianopel 1205 schlug und gefangen nahm und endlich bei der Belagerung von Salonichi von einem seiner Feldherren ermordet wurde. Zar Asên II. (1218-1241) erweiterte das Reich durch Eroberungen fast auf das Maß, das es einst unter Symeon hatte, indem er auch Albanien besetzte und dadurch Zutritt zum Adriatischen Meer gewann.
Später geriet Bulgarien [* 3] durch die Unfähigkeit der Herrscher, durch wiederholte Teilungen und durch die Unbotmäßigkeit des kriegerischen Adels unter unaufhörlichen Kriegen gegen Byzantiner, Serben, Ungarn [* 4] und die Tataren Südrußlands in tiefen Verfall und kam sogar auf eine Zeitlang unter tatarische Oberhoheit. Die südlichen Landschaften wurden von den Byzantinern erobert, während der Westen dem rasch erstarkten Serbenstaat anheimfiel, welcher sich in der Mitte des 14. Jahrh. (unter Stephan Duschan) über Makedonien bis vor Salonichi erstreckte.
Als die Türken nach Europa [* 5] übersetzten, reichte Bulgarien noch von der Donau bis zum Rhodopegebirge (mit Einschluß von Philippopel) und vom Schwarzen Meer bis etwa zur Linie Orsova-Köstendil. Der letzte Zar von Tirnowo, Sisman III., mußte sich 1366 dem unaufhaltsam vordringenden Sultan Murad I. unterwerfen und Tribut zahlen. Nachdem einige Befreiungsversuche mißlungen und die Serben in der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 geschlagen worden waren, machte Bajesid I. auch der Selbständigkeit Bulgariens ein Ende. Tirnowo ward 1393 von den Türken erobert; Zar Sisman III. starb im Gefängnis. Sismans Bruder Srazimir, der in Widdin als Teilfürst herrschte, schloß sich 1396 an König Siegmund von Ungarn an, als dieser gegen die Türken zog, und wurde deshalb nach der Niederlage des Christenheers bei Nikopolis abgesetzt. Damit war die Unterwerfung Bulgariens vollendet.
In der Türkenzeit stand Bulgarien bis zum Ende des 18. Jahrh. unter dem Beglerbeg von Rumelien, welcher, in Sofia residierend, die ganze Halbinsel (außer Bosnien) [* 6] verwaltete. Viele bulgarische Städte und Landschaften erfreuten sich besonderer Vorrechte. Eine privilegierte Klasse bildeten die sogen. Vojniks, welche als Trainsoldaten die türkischen Heere begleiteten oder die Rosse des Sultans warteten. Die Bulgaren in der Rhodope und in der Umgebung von Plewna [* 7] und Lowetsch (türk. Lofdscha) nahmen den Islam an, ebenso viele Adelsfamilien in Städten und Burgen; [* 8] sie werden Pomaken genannt. Im Lauf der Zeit geriet das Land allmählich in tiefen Verfall. Der im Mittelalter so kriegerische Volkscharakter schlug unter dem türkischen Druck in das Gegenteil um, was jedoch den Ausbruch kleinerer erfolgloser Aufstände nicht verhinderte. Zugleich gelangte die Kirchenverwaltung allmählich in die Hand [* 9] des Konstantinopler Patriarchat, welches 1767 auch das altbulgarische Patriarchat von Ochrida aushob und anstatt der altslowenischen Kirchenbücher überall griechische einführte.
Die neubulgarische Bewegung beginnt mit der litterarischen Thätigkeit des Mönchs Paysios, der 1762 am Athos eine bulgarische Chronik verfaßte, durch welche lebhafte Erinnerungen an die alte Größe und Unabhängigkeit wachgerufen wurden, und seines Schülers, des Bischofs Sofronij von Wratza. Eine große Umwälzung in den Verhältnissen Bulgariens wurde durch die russischen Feldzüge von 1806 bis 1812 und 1828 bis 1829 herbeigeführt, in welchen die russischen Truppen einen nicht unbedeutenden Teil Bulgariens besetzt hielten.
Das darauf sich entwickelnde freiere Leben in der Türkei, [* 10] die zahlreichen Reformen, das Aufblühen des Handels und der größere Verkehr mit dem Abendland blieben nicht ohne Einfluß auf Bulgarien. Seit dieser Zeit kamen unter der stets anwachsenden bulgarischen Intelligenz zwei Strömungen zum Vorschein, von denen die eine nur einen normalen Fortschritt in Bildung und Wohlstand unter dem Schutz der Reformen anstrebte und vorzüglich den griechischen Klerus los zu werden trachtete, während die andre alles Heil in Aufstandsversuchen zu finden glaubte.
Bulgarische, in Odessa [* 11] ansässige Kaufleute gründeten 1835 die erste bulgarische Volksschule in Gabrowo im Balkan; ihr Beispiel wurde so fleißig nachgeahmt, daß z. B. das Bistum von Widdin 1872 an 80 Volksschulen zählte. Zugleich entstand eine Litteratur, meist aus Schul- und Volksbüchern bestehend; 1844 erschien auch die erste bulgarische Zeitschrift. Nach dem Krimkrieg entbrannte der Kampf der Bulgaren gegen die griechische Geistlichkeit mit unerwarteter Heftigkeit und wurde nach mancherlei Wechselfällen (1859 drohten die Bulgaren mit Anschluß an den Papst und an die lateinische Kirche) 1872 durch einen Ferman des Sultans derart beendigt, daß die Bulgaren eine autonome Kirche mit einem Erzbischof an der Spitze, der den Titel Exarch führt, erhielten. Die Aufstandsversuche wurden anfangs längs der serbischen Grenze unternommen, später im Zentralbalkan. Sie wurden von der zahlreichen bulgarischen Emigration geleitet, welche in Bukarest [* 12] ihren Hauptsitz hatte, in Bulgarien überall geheime Revolutionskomitees organisierte und die Befreiung ihres Vaterlandes von den Türken im Bund mit Serbien durchführen wollte.
Nach dem Ausbruch des Aufstandes in Bosnien und der Herzegowina 1875 machte sich auch in Bulgarien eine Gärung bemerkbar, welche durch die Nichterfüllung der versprochenen Reformen und den stets wachsenden Steuerdruck der an finanziellen Mängeln kränkelnden Pforte noch bedeutend gesteigert wurde. Anfang Mai 1876 erhoben sich die Städte Panagjurischte (türk. Otlukköj) und Koprischtitza (türk. Avradalan) in der Sredna Gora, einem waldigen, dem Balkan an der Südseite vorgelagerten Gebirgszug, samt ihrer Umgebung.
Der ohne hinlängliche Vorbereitung, Bewaffnung und Führung unternommene Aufstand wurde von türkischen Truppen schon binnen wenigen Tagen unterdrückt; dasselbe Schicksal traf ähnliche Versuche im Zentralbalkan (bei Gabrowo und Selwi). Gleichzeitig bewaffnete sich die längst durch die unverhohlen ausgesprochenen Hoffnungen der Christen und die allgemeine Unruhe derselben erbitterte mohammedanische Bevölkerung [* 13] und richtete unter den Bulgaren ein furchtbares Gemetzel an. Bis Ende Mai wurden in den Provinzen Philippopel und Tirnowo 58 Ortschaften vernichtet und über 12,000 Menschen beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters erschlagen, wovon die meisten wehrlos waren, da den Christen in der Türkei der Besitz von Waffen [* 14] verboten war.
Diese Greuel erregten ein großes Aufsehen im Occident, besonders in England, und führten im Dezember 1876 zur Konferenz von Konstantinopel, auf welcher die Organisation zweier autonomen bulgarischen Provinzen mit den Hauptorten Tirnowo und Sofia und mit christlichen Gouverneuren beschlossen wurde; die Pforte wies aber diesen Vorschlag zurück. Der hierauf entstandene russisch-türkische Krieg wurde durch den Frieden von San Stefano beendigt, in welchem die ¶
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Errichtung eines tributären Fürstentums Bulgarien bestimmt und dadurch der bulgarische Staat nach 485 Jahren wieder erneuert wurde. Die Grenzen [* 16] desselben waren auf Betreiben Ignatiews sehr weit, bis an das Ägeische Meer und über einen großen Teil Makedoniens, ausgedehnt worden. Dagegen erhoben jedoch Österreich [* 17] und besonders England Einspruch, und der Berliner Kongreß [* 18] setzte im Juni 1878 fest, daß das tributäre Fürstentum Bulgarien nur bis zum Balkan reichen und noch Sofia umfassen (s. oben), das südlich des Balkans gelegene Land aber unter dem Namen Ostrumelien (s. d.) eine autonome Provinz des türkischen Reichs bleiben solle.
Am ward die erste Nationalversammlung des Fürstentums in Tirnowo durch den Fürsten Dondukow-Korsakow eröffnet, und, nachdem sie im April die sehr liberale Verfassung des jungen Staats angenommen hatte, durch die erste regelmäßige Deputiertenkammer (Sobranje) 29. April Prinz Alexander von Battenberg als Alexander I. (s. Alexander 13) zum Fürsten von Bulgarien erwählt. Derselbe leistete 9. Juli Tirnowo den Eid auf die Verfassung und schlug seine Residenz in Sofia auf.
Da aber die neugewählte Skuptschina ganz unter dem Einfluß radikaler Agitatoren stand, welche den Fürsten zwangen, ihnen Ende 1879 die Regierung zu übertragen, und hierauf die Macht desselben ungebührlich beschränkten, zugleich durch großbulgarische Agitationen in Ostrumelien und Makedonien den Frieden des Landes gefährdeten, so beseitigte der Fürst durch einen Staatsstreich das radikale Ministerium, berief ein konservatives und verlangte von einer außerordentlichen Nationalversammlung die Vollmacht, für 7 Jahre ohne die verfassungsmäßige Beschränkung die Regierung zu führen u. nach 7 Jahren eine Revision der für Bulgarien nicht passenden Verfassung vorzunehmen, widrigenfalls er die Krone niederlegen müsse. Die verlangte Vollmacht wurde dem Fürsten 13. Juli mit großer Majorität gewährt.
Nachdem 1882 ein neues Wahlgesetz für die Kammer erlassen worden und ein Staatsrat gebildet war, ward im Juli ein neues Ministerium, aus russischen Generalen, Konservativen und gemäßigten Radikalen bestehend, berufen und die Sobranje versammelt. Die Eifersucht der Parteiführer und die Ränke der russischen Panslawisten ließen es allerdings weder zu einer dauernden und ruhigen Regierung noch zum Abschluß der Revision der Verfassung von Tirnowo kommen. Fürst Alexander berief daher 1884 wieder Karawelow an die Spitze des Ministeriums, da derselbe inzwischen seine radikalen Ansichten gemildert hatte und sich mit dem Fürsten über eine gemäßigte Politik einigte.
Wiederum aber wurde die friedliche Entwickelung des Landes unterbrochen durch die Revolution, welche in Ostrumelien ausbrach. Hier wurden die von der Pforte eingesetzten Behörden verjagt und die Vereinigung mit Bulgarien proklamiert. Fürst Alexander und Karawelow glaubten die Bewegung am besten in Schranken halten und den Frieden wahren zu können, indem sie sich an ihre Spitze stellten. (Weiteres s. Ostrumelien.)
Vgl. Kanitz, Donau-Bulgarien und der Balkan (2. Aufl., Leipz. 1880, 3 Bde.);
H. Barth, Reise durch das Innere der Türkei (Berl. 1864);
Bath, Observations on Bulgarian affairs (Lond. 1880);
Minschin, Bulgaria since the war (das. 1880);
Hilferding, Geschichte der Bulgaren und Serben (a. d. Russ., Bautz. 1856-64, 2 Bde.);
Jire?ek, Geschichte der Bulgaren, Prag [* 19] 1876);
Baker, War in Bulgaria (Lond. 1879).
Karte von Zentraleuropa, herausgegeben vom österreichischen militärgeographischen Institut; H. Kiepert, »Generalkarte der Unterdonau- und Balkanländer« (Berl. 1881). Von den Russen wurde 1877-79 eine Karte aufgenommen, welche von der Donau bis San Stefano reicht (in dem Maß 1:42,000 und 1:84,000) und mit 94,592 Höhenpunkten versehen ist.