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große Rolle in der Geschichte und Kulturentwickelung ihres Vaterlandes spielen. Sie zeigen schon durch ihre hellere Hautfarbe,
daß sie sich mehr als alle übrigen Kasten rein erhielten und sich mit Aboriginerblut wenig vermischten. Sie sind in zahlreiche
Unterabteilungen gespalten; der größte Stolz findet sich bei den aus Audh abstammenden. Erfundene Stammbäume
und ausführliche Legenden, worin sie mit Heroen und Göttern in Verbindung treten, sollen ihren Zusammenhang mit den Vorvätern
darlegen.
Ihre Hauptplätze sind die östlichen Teile der Nordwestprovinzen, das untere Ganges-Dschamna-Doab und die angrenzenden Distrikte;
hier heißen sie auch Gaur, von einem alten Landesnamen. Durch Energie und geistige Begabung zeichnen sie
sich im Westen Indiens, im Marathenland, aus; weniger Eifer zeigen sie in Bengalen, wo sie meist auf einer niedrigen Stufe geistiger
Bildung stehen; sehr zahlreich und fleißig ist die Brahmanenkaste dagegen im Süden von Indien, in Maissur und Travankor. Im
allgemeinen haben sich die Brahmanen als aristokratische Klasse erhalten.
Priester in unserm Sinn ist in Indien der Vorbeter, und diesen Dienst teilen die Brahmanen mit Angehörigen andrer Kasten. Sie greifen
außerdem zu allen Erwerbsarten, suchen aber die reine Handarbeit nur in der Not. Überraschend groß ist die Zahl der Bettler
unter ihnen; 1864 wurden in Bombay 33 Proz. der dortigen Brahmanen als Bettler aufgezeichnet.
Die Namen der Hauptabteilungen dieser Kaste haben keine praktische Bedeutung mehr; auch die Zeremonien bei der Geburt, bei dem
Anlegen der heiligen Schnur, die Handstellungen etc. beim Gebet und Opfer sind nicht von allgemeinem Interesse, so peinlich genau
auch alle darauf bezüglichen Vorschriften beachtet werden.
Vgl. Haug, Brahma und die Brahmanen (Münch. 1871);
Muir, Original sanskrit texts, Bd. 1 (2. Aufl.,
Lond. 1872);
Campbell, The ethnology of India (das. 1866);
E. Schlagintweit in H. v. Schlagintweits »Reisen in Indien«, Bd. 1 (Jena
1869);
Belnos, The Sundya, or daily prayer of the Brahmans (1851).
(v. sanskrit. Brâhmana, »Brahmane«, gebildet), europäische Bezeichnung der Religion der Hindu in Britisch-Ostindien,
zu der sich an 150 Mill. Menschen bekennen (außerhalb Indiens hat sie keine Anhänger). Der Brahmanismus beruht nicht auf dem System
eines einzigen Mannes; er ist keine Reform, stellt sich nicht in Gegensatz zu frühern Ansichten, sondern ist das Produkt jahrhundertelanger
Entwickelung. Seinen Ausgangspunkt bilden die Anschauungen, welche der in das Pandschab eingewanderte Zweig
der Arier in der wedischen Periode über Naturerscheinungen und Götter gebildet hatte.
Bestimmend für die religiöse Richtung, welche uns im B. entgegentritt, wurde ferner noch das Kastenwesen, dessen Ausbildung
in die nachwedische Zeit fällt; es steht in innigem Zusammenhang mit dem und wurde mit diesem von der
größten Bedeutung für die Gestaltung des indischen Staats. In den Wedas (s. d.) haben wir noch kein abgeschlossenes Göttersystem
vor uns; es treten uns hier lediglich noch die Anschauungen entgegen, von denen die Sänger der einzelnen Lieder beherrscht
waren.
Die Hauptgottheiten sind Naturgötter; Götter mit vorwiegend ethischer Bedeutung sind wenige, und ihre
Stellung ist noch eine untergeordnete. Von einer Systematik der Götterlehre treten
uns in den wedischen Liedern nur erst geringe
Spuren entgegen, so die Unterscheidung von Göttern des Himmels, der Luft und der Erde; bestimmter ist sie bereits in den ältesten
Kommentaren zum Weda ausgebildet. Erst die theologische Doktrin der Brahmanen (s. d.) strebte über die Schar
der Naturgötter zu etwas Einfachem und Ideellem hin, teils anknüpfend an alt-arische Vorstellungen, teils auf spekulativem
Weg; der eine führte zur Idee des Brahma (s. d.), der andre zur Annahme der Weltseele (Âtma).
Mit der Weltseele, mit dem prädikatlosen »Das« oder »Jenes«
(Awam, zusammengezogen in Ôm), wurde das Brahma identifiziert und damit die geheimnißvolle Macht des
Gebets zum Urgrund der Natur erhoben. Im Glauben des Volkes hat diese Doktrin niemals lebendige Wurzel gefaßt; aber ihre Konsequenzen
haben das ganze religiöse, politische und soziale Leben der Inder durchdrungen. Die wichtigste derselben ist die Emanationslehre:
das Brahma als Weltseele schafft nicht die Welt, sondern entfaltet sich zu ihr. Je weiter es sich von sich selbst entfernt,
desto unähnlicher wird es sich, daher das Dogma vom Weltübel;
die Natur ist getrübtes Brahma, daher voll Unvollkommenheit
und Sünde, Schmerz und Leiden, Krankheit und Tod.
Wie aber das All vom Brahma ausgeht, so kehrt es auch in
dasselbe zurück: aus dieser Vorstellung ist die Lehre von der Seelenwanderung hervorgegangen. Alle Wesen, von der Weltseele ausgestrahlt,
sollen auch in dieselbe heimkehren; diese Heimkehr ist zugleich ein Reinigungsprozeß, denn nur völlig von der Materie geläutert,
können sie sich wieder mit dem Brahma vereinigen. In älterer Zeit galt die Annahme, jede Seele müsse
die ganze Stufenleiter der Kreaturen durchmachen; in der spätern Auffassung hängt die Sphäre, in welcher die einzelne Seele
wiedergeboren wird, von ihrem Verdienst und ihrer Verschuldung in frühern Lebensläufen ab. Die ärgsten Sünder sinken nach
dem Tode dieses Leibes in eine unter der Erde gelegene Hölle hinab, und erst, nachdem sie hier alle Arten
der Pein durch unermeßliche Zeiträume ausgehalten haben, beginnen sie aufs neue die Wanderung.
Von der wesentlichsten Wichtigkeit für die Ausbildung der brahmanischen Hierarchie war das Kastenwesen, in welchem sie nach
langen und hartnäckigen Kämpfen mit den Kschatrijas schließlich die erste und dominierende Stellung
errang. Den Mitgliedern der vier Kasten ist nicht bloß im allgemeinen ihr Platz und Beruf von Brahma selbst angewiesen, sondern
alle damit verbundenen Rechte und Pflichten, Gebräuche und Formen sind jedem Stand in einer geradezu zahllosen Menge von Vorschriften
bis ins kleinste Detail hinein vorgeschrieben.
Selbst die peinlichste Gewissenhaftigkeit muß daran verzweifeln, dieser unübersehbaren Menge von Vorschriften immer zu genügen;
für jeden ist also stets die Gefahr der Versündigung oder Verunreinigung sehr nahe. Darauf hat der ein weitläufiges System
von Reinigungen, Sühnen, Bußen und geistlichen Strafen aufgebaut, dessen Vollendung die Askese ist. Eine
entschiedene Opposition gegen den Brahmanismus ging von der Sânkhjaphilosophie und besonders vom Buddhismus (s. d.) aus. Letzterer unterlag
schließlich in Vorderindien selbst dem aber nicht, ohne den letztern mit mancher fruchtbaren Idee zu durchtränken. Hierher
gehört die mit dem Bedürfnis eines persönlichen Erlösers zusammenhängende Lehre von den Inkarnationen
oder Avatâras des Wischnu und andrer Götter; ferner die Vereinigung der beiden Volksgötter Wischnu und Siwa mit dem niemals
volkstümlich
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gewordenen Brahma zu der theoretischen Einheit der Trimûrti (s. d.). In den Purânas wurde eine neue religiöse Litteratur geschaffen.
Trotzdem kann dieser neuere Brahmanismus nur als eine Epigonenzeit betrachtet werden, dem neue, schöpferische Gedanken fehlen, während
das Volk immer mehr in groben Götzendienst versinkt. Die beiden Hauptkonfessionen der Wischnuiten und Siwaiten
sind durch einflußreiche Lehrer und philosophische Richtungen in mehrere Schattierungen zerfallen; daneben sind Sekten aufgetreten,
wie die Sâktas, die Ganupatjas, die mehr oder weniger von der bestehenden Form des Brahmanismus abweichen.
Der Brahmanismus der Gegenwart stellt sich uns daher als eine unbestimmbare Zahl von sektierenden Parteien dar, die sämtlich die
heiligen Werke der Vorzeit zur Basis ihrer Systeme haben, vor allen die Purânas (s. d.), an eine Vielheit von Göttern, männlichen
wie weiblichen, gütigen wie Schaden bringenden, glauben und in ihren täglichen, mit peinlicher Genauigkeit ausgeführten
Zeremonien wie öffentlichen Feierlichkeiten (s. Ostindien) sich als ein zusammengehörendes Ganze zeigen.
Die Brahmanen, einst ausschließlich auch die Ratgeber der Fürsten, üben jetzt das Amt des Purôhita (»Vorbeters«)
mit Angehörigen andrer Kasten aus; der Vorbeter wird bei Geburten, Heiraten und Todesfällen beigezogen. Reiche Familien unterhalten
ihren eignen Purôhita, der dann zugleich der Vertraute und Lehrer der jüngern Familienglieder ist. Der Priester des Volkes
ist zum Wahrsager herabgesunken; er nimmt gleich dem Pudschari oder Tempeldiener eine untergeordnete Stellung
ein.
Der Inder besucht den Tempel der Heiligkeit des Orts, seiner Heilwirkungen etc. wegen; einen Altargottesdienst kennt der Brahmanismus nicht.
Nicht bloß die gewöhnlichen Opferungen, auch das heilig gehaltene Feueropfer, die Opferung an die Manen u. dgl. können
an jedem Ort vorgenommen werden und finden überall statt. Seit mehreren Dezennien zeigt sich unter den Brahmanen die Tendenz,
die moralischen und deistischen Grundsätze ihres Glaubens in philosophischen Spekulationen, zu denen der Inder viel Anlage hat,
auszubilden, dagegen den Fabeln in ihren heiligen Schriften weniger Wert beizulegen.
Die Anregung zu dieser Richtung gab Ram Mahun Roy (s. Brahmo Samadsch), der 1814 zu Kalkutta als Reformator
auftrat und auch mit dem Christentum sich bekannt machte; ja, einige seiner Nachkommen tragen offen das Bestreben zur Schau,
in den Brahmanismus christliche Ideen hineinzutragen (vgl. den Bericht über Keschab Tschander Sens Vorträge im »Magazin
für die Litteratur des Auslandes« 1870, S. 407). Das schädliche Kastenwesen, das zur Zeit noch vom Brahmanismus getragen wird, würde
durch einen Erfolg in dieser Richtung leichter beseitigt werden.
Vgl. Lassen, Indische Altertumskunde (2. Aufl., Leipz. 1867 ff., 4 Bde.);
Dubois, The character, manners, customs and institutions of the people of India (Lond. 1817, 2 Bde.);
Wurm,
Geschichte der indischen Religion (Basel
1874);
Barth, Les religions de l'Inde (Par. 1879).