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konservative Mehrheit im Reichstag zu stande zu bringen. Wegen der schroff oppositionellen Haltung der Fortschrittspartei mußte Bismarck sich daher auf das Zentrum stützen und diesem in dem kirchlichen Streit manche Zugeständnisse machen. Nur mit Mühe und nach langen Verhandlungen wurden das Krankenkassengesetz und das Unfallversicherungsgesetz im Reichstag angenommen, das Tabaksmonopol aber abgelehnt.
Die auswärtige Politik leitete Bismarck nach wie vor mit gewohnter Meisterschaft, so daß ihm die Nation in dieser Beziehung unbedingtes Vertrauen schenkte. Erhaltung des Friedens war sein Ziel, und während des russisch-türkischen Kriegs waren seine Bemühungen mit Erfolg darauf gerichtet und wurden dadurch anerkannt, daß Berlin [* 2] 1878 zum Sitz des Friedenskongresses und Bismarck zum Präsidenten desselben erwählt wurde. Von Rußland wendete er sich mehr und mehr ab und Österreich [* 3] zu, mit dem er im September 1879 ein Schutzbündnis schloß.
Dasselbe führte zu einer dauernden gemeinschaftlichen Aktion Deutschlands [* 4] und Österreichs und ward 1883 erneuert. Es befestigte sich so, daß auch Italien [* 5] sich ihm anschloß und Rußland seine Eifersucht unterdrückte. Selbst das Verhältnis zu Frankreich wußte Bismarck durch weise Mäßigung zeitweilig freundlicher zu gestalten. Gestützt auf das gute Verhältnis des Deutschen Reichs zu den Kontinentalmächten, unternahm es Bismarck 1884, deutsche Kolonien zu erwerben; den Widerstand Englands wußte er mit großer diplomatischer Kunst zu beseitigen.
Schwieriger war es, die klerikal-fortschrittliche Opposition gegen die Kolonialpolitik und den Plan, Dampferlinien nach den fremden Erdteilen zu subventionieren, im Reichstag zu überwinden. Um so mehr Beifall fand die erfolgreiche Thätigkeit Bismarcks auch auf diesem Gebiet bei den Mächten, wie der Verlauf der von Bismarck nach Berlin berufenen Congokonferenz bewies, und bei dem deutschen Volk. In seiner Gesundheit durch eine glückliche Kur gekräftigt, hielt Bismarck 1885 im Reichstag mehrere Reden über seine auswärtige und Kolonialpolitik, die im Volk einen mächtigen Widerhall hervorriefen. Der 70jährige Geburtstag Bismarcks wurde daher unter glänzenden Ovationen aus allen Teilen Deutschlands und allen Schichten der Bevölkerung [* 6] gefeiert; der Tag gestaltete sich zu einem allgemeinen Volksfest. Aus den reichen Erträgen der »Bismarckspende« wurde dem Reichskanzler das 1830 der Familie verloren gegangene Hauptgut Schönhausen geschenkt.
Bismarck ist von hohem Wuchse; sein markiger Körperbau, die hohe Stirn, die scharf ausgeprägten Gesichtszüge, der lebhafte Blick seiner unter den buschigen Brauen stark hervortretenden Augen lassen auch äußerlich die geist- und kraftvolle Persönlichkeit erkennen. Durch ritterliche Übungen hat er von Jugend auf seinen Körper gestählt; Reiten und Jagen waren stets seine liebste Erholung. Die körperlichen und geistigen Kräfte sind seinem Willen unterthan; auch in den Momenten der größten Erregung erscheint er ruhig und kalt, sein tiefes Gefühl und die Leidenschaftlichkeit seiner starken Natur kommen nur selten zum Durchbruch.
Als Redner hat Bismarck mit der Überfülle der ihm zuströmenden Gedanken zu kämpfen, oft scheint er in der Rede zu stocken, weil er sorgfältig abwägend die Worte auswählt, welche seinen Gedanken den genauesten Ausdruck geben und nicht mehr sagen, als er sagen will; deshalb machen seine Reden auf den Lesenden noch größern Eindruck als auf den, der sie hört. Ihre Wirkung reicht durch die Kraft [* 7] der Gedanken und die oft durch den frischesten Humor gewürzte Anschaulichkeit der Darstellung weit über den Kreis [* 8] hinaus, an den sie zunächst gerichtet ist.
Bismarcks Gemahlin, Fürstin Johanna von Bismarck, geborne v. Puttkamer, ist geboren. Der am geschlossenen Ehe sind drei Kinder entsprossen: Gräfin Marie, geb. seit 1878 vermählt mit dem Legationsrat Grafen Rantzau;
Graf Herbert, geb. Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt und oft zu wichtigen diplomatischen Sendungen verwendet, Mitglied des Reichstags, und Graf Wilhelm, geb. Landrat in Hanau. [* 9]
Vgl. Hesekiel, Das Buch vom Fürsten Bismarck (3. Aufl., Bielef. 1873);
L. Bamberger, Herr v. Bismarck (Bresl. 1868);
Vilbort, L'œuvre de M. de Bismarck (Par. 1869; deutsch, Berl. 1870);
Klee, Fürst und unsre Zeit (das. 1879);
v. Köppen, Fürst Bismarck, der deutsche Reichskanzler (Leipz. 1875);
Hahn, [* 10] Fürst Bismarck (Sammlung seiner Reden, Staatsschriften etc., das. 1878, 3 Bde.), und dessen kleinere Schrift »Zwanzig Jahre. 1862-82« (das. 1883);
M. Busch, Graf und seine Leute während des Kriegs mit Frankreich (Leipz. 1878, 2 Bde.);
Derselbe, Unser Reichskanzler (das. 1884);
W. Müller, Reichskanzler Fürst Bismarck (Stuttg. 1881);
v. Poschinger, Preußen [* 11] im Bundestag (Leipz. 1882-1884, 4 Bde.);
»Bismarck nach dem Krieg« (anonym, das. 1883).
Eine vollständige Sammlung seiner Reden (seit 1847) gab Böhm (Stuttg. 1885),
die »Reden in den Parlamenten 1847-51« Riedel (2. Aufl., Berl. 1885) heraus. »Ausgewählte Reden Bismarcks 1862 bis 1881« erschienen (Berl. 1877-81) in 3 Bänden.