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bemißt und für jeden das ihm Gebührende festsetzt. Jedes positive Recht soll sich bestreben, diese Aequitas zu verwirklichen, und deshalb haben namentlich auch die römischen Rechtsquellen sie als das leitende Prinzip hervorgehoben. Freilich kann die Gesetzgebung auf der andern Seite nicht alle besondern Verhältnisse berücksichtigen; die Sicherung des rechtlichen Verkehrs macht es vielmehr notwendig, daß Durchschnittsregeln aufgestellt werden, so z. B. die Festsetzung eines Volljährigkeitstermins u. dgl. Diese Regeln bilden dann ein strenges, durchgreifendes Recht (jus strictum), und im Gegensatz hierzu werden die Rechtsnormen, welche mehr der Individualität und besondern Verhältnissen Rechnung tragen, als Recht der Billigkeit (jus aequum) bezeichnet. Im Richteramt ist die Billigkeit Leiter in in richtiger Auslegung und Anwendung der Gesetze.
Alle menschlichen Gesetze bleiben unvollkommen; selbst das vollständigste Gesetz muß unvollständig bleiben, indem die unendliche Mannigfaltigkeit stets neu sich erzeugender Rechtsverhältnisse und die vielfache Gestaltung der Fälle, welche unter ein einfaches Gesetz zu subsumieren sind, häufig jene Schwierigkeit in der Beurteilung des Thatbestandes nach dem geltenden Gesetz (aequare jus facto) erzeugen, welche Napoleon I. bei der Diskussion des Code civil mit der Bemerkung angedeutet hat, daß einfache Gesetze gewöhnlich den Knoten zerhauen, den man lösen sollte.
Hier muß der Richter die Lücken des bestehenden Rechts im Geiste des selben und mit Berücksichtigung der Zeitumstände und des Bedürfnisses bei vorkommenden Fällen ergänzen und danach Recht sprechen, daher auch die römischen Juristen die Aequitas ausdrücklich als Rechtsquelle mit ausgeführt und derselben bei der Rechtspflege einen großen Spielraum gelassen haben. Die Prätoren insbesondere publizierten bei ihrem Amtsantritt in einem förmlichen Programm, nach welchen Grundsätzen sie Recht sprechen würden, und zur Ergänzung des strengern Rechts entstand so ein besonderes prätorisches Recht, welches den Verkehrsverhältnissen billige Rechnung trug, und durch welches jenes sogar insoweit modifiziert ward, als dies ohne Schaden für den ganzen Rechtsorganismus geschehen durfte.
Außer in Rom [* 2] hat sich der Gegensatz zwischen Recht und Billigkeit nirgends so stark ausgebildet wie in England, woselbst neben den drei großen Gerichtshöfen des gemeinen Rechts noch sogen. Billigkeitsgerichte (courts of equity) bestehen. Sie entwickelten sich daraus, daß dem Kanzler des Königs ursprünglich die Pflicht oblag, in Sachen, in denen sich Privatpersonen strengen Entscheidungen der Gerichtshöfe nach gemeinem Recht gegenüber an den König wandten, eine Revision vorzunehmen und nach Grundsätzen der Billigkeit zu entscheiden.
Bald bildete sich so mit Berücksichtigung früherer Entscheidungsgrundsätze bei Anwendung starrer Rechtskonsequenzen eine eigne Gerichtspraxis des Kanzlers aus, und noch gegenwärtig ist die Chancery in Thätigkeit und zwar in weit ausgedehnterer Weise als früher. Außer dem Lordkanzler sprechen auch noch zwei Vizekanzler und ein Master of the rolls nach Billigkeitsgrundsätzen Recht und zwar ohne Zuziehung einer Jury. Diese Billigkeitsgerichte werden auch dann angerufen, wenn eine Partei keinen Beweis beibringen kann und ihr gutes Recht lediglich dem Gewissen des Gegners anheimstellen muß, sowie um Thatsachen schriftlich aufnehmen, eidlich erhärten und eine auch vor dem ordentlichen Gericht gültige Urkunde darüber abfassen zu lassen, so namentlich bei streitigen Rechnungsverhältnissen, wo nur eine Partei über den Sachverhalt im klaren ist, zum Schutz des litterarischen Eigentums und der Erfindungspatente.
Gerügt wird übrigens der schleppende, kostspielige Prozeßgang dieser Gerichte, ein Umstand, der namentlich damit zusammenhängt, daß in London [* 3] der Sitz der sämtlichen equity courts ist. Auch in Nordamerika [* 4] bestehen in einigen Staaten der Union dergleichen Gerichte. Selbst Katharina II. von Rußland krëierte ähnliche unter dem Namen Gewissensgerichte. In Deutschland, [* 5] wo das Recht weniger starre Formen annahm und die Billigkeit sich schon früh geltend machen konnte, gibt es außer den Schiedsgerichten und den Schiedsmännern keine besondern Institute dieser Art. Es hat sich aber namentlich im Strafrecht das Bestreben Geltung verschafft, dem richterlichen Ermessen einen gewissen Spielraum zu vergönnen, innerhalb dessen bei Ausmessung der Strafe den Grundsätzen der Billigkeit Rechnung getragen werden kann.