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des altgriechischen Volksgeistes, welcher seine Vorstellungswelt durchaus in den Grenzen [* 2] reiner Menschlichkeit hielt und auch das Göttliche nur durch Läuterung und Steigerung der menschlichen Form darzustellen suchte, gab den geeignetsten Boden für eine gesunde Entwickelung der Plastik. In ihren Anfängen stand die bildende Kunst der Griechen unter dem Einfluß der asiatischen (Löwenthor von Mykenä, [* 3] s. Tafel I, [* 1] Fig. 16; Funde von Cypern [* 4] und Mykenä), gelangte aber bald zu eigenartiger Erfassung ihrer Aufgaben.
Die älteste Kunst, von der wir hören, diejenige, welche in den Homerischen Gedichten erwähnt wird, hat noch einen wesentlichen dekorativen Charakter, das Kultusbild ist noch nicht Hauptgegenstand der Plastik. Die Lücken der Überlieferung füllt die Sage aus, die von kunstfertigen Dämonen (Cyklopen, Gastrocheiren, Daktylen, Telchinen) mancherlei zu berichten weiß. In der Gestalt des allerorten thätigen Dädalos [* 5] vereinigt sie die Leistungen menschlicher Handfertigkeit, andre gleichfalls mythische Personen (Trophonios und Agamedes, Peirasos, Eupatamos), deren Namen zumeist sinnvoll erfunden sind, reihen sich ihnen an. Erst seit der Mitte des 7. Jahrh. treten bestimmte Schulen hervor, so die von Chios (Marmorarbeiten, Glaukos erfindet die Lötung des Eisens), Samos (Theodoros und Rhökos erfinden den Erzguß), Kreta und Ägina.
Die aus dieser Zeit erhaltenen Überreste sind sehr gering. Die bedeutendsten sind: die Statuen an der heiligen Straße von Milet, das Harpyienmonument zu Xanthos, der Fries vom Tempel [* 6] zu Assos, die Apollonstatuen von Thera, Orchomenos und Tenea, die altspartanischen Stelenreliefs und die Metopen [* 7] von Selinunt. Alle diese Denkmäler zeigen trotz ihrer Altertümlichkeit und Steifheit Streben nach individueller und naturgemäßer Durchführung. Mehr noch ist dies der Fall in der Periode nach der 60. Olympiade.
Dieser alte Stil zeigt sich vornehmlich in der Starrheit der Gestalt, die nur sehr langsam überwunden wird, in der anfangs noch sehr wenig gelingenden Darstellung der einzelnen Körperteile, die indes nie nach traditionellem Schema, sondern auf Grund immer erneuter Naturbeobachtung gebildet werden, dann in der Behandlung der Gewandung, in welcher, sobald die ersten Schwierigkeiten überwunden sind, sich ein Streben nach streng regelmäßiger Anordnung der Falten (die Ränder in Zickzack gelegt) herausbildete.
In der Wiedergabe der Körperformen gelingen zuerst die bestimmter geänderten Teile (Füße, Hände, auch die Kniee) am besten, allmählich auch die feinere Unterscheidung der Muskelpartien, während das Gesicht [* 8] am längsten in jener maskenhaften Starrheit verbleibt, die der Künstler vergeblich durch übertriebene Hebung [* 9] der Mundwinkel zu beleben sucht. Hervortretende, meist etwas einwärts gesenkte Augen, deren Lider kaum oder nicht richtig gesondert sind, zu hoch sitzende Ohren, starre, noch nicht geöffnete Lippen sind an ihm charakteristisch.
Besonders treten in dieser Periode hervor die Schulen von Sikyon (Aristokles, Kanachos, welcher für Milet die Statue des Apollon [* 10] fertigte, dessen Nachbildung man in einer Statuette des Britischen Museums vermutet), Argos (Ageladas, der Lehrer des Myron), Ägina (Glaukias, Anaxagoras, Kallon, Onatas), Athen [* 11] (Endöos, Antenor, Hegias, Kritios und Nesiotes). Unter den erhaltenen Denkmälern stehen obenan die Giebelgruppen des Athenetempels zu Ägina (jetzt in der Münchener Glyptothek; s. Äginetische Kunst und Tafel II, [* 1] Fig. 1), denen der sogen. Strangfordsche Jünglingstorso des Britischen Museums stilistisch nahesteht.
Für die Schule von Athen (attische Schule), welche sich durch individuelle Empfindung auszeichnete, sind besonders bezeichnend der Torso eines kalbtragenden Hermes, [* 12] das Relief einer wagenbesteigenden Frau, beide zu Athen gefunden, und eine Reihe von Grabstelen, deren besterhaltene von Aristokles herrührt. Die Gruppe der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton von den Künstlern Kritios und Nesiotes ist in einer statuarischen Wiederholung (zu Neapel) [* 13] und verschiedenen Nachbildungen in Reliefs, Vasenbildern etc. auf uns gekommen. Von den Leistungen der verschiedenen außerhalb Attikas und Äginas thätigen Lokalschulen geben vereinzelte Bildwerke eine mehr oder weniger bestimmte Vorstellung. Für die böotische Kunst ist eine Anzahl von Grabreliefs, für die nordgriechische die Grabstele von Pharsalos charakteristisch. Eine eigentümliche Formenbehandlung zeigen die auf Melos und benachbarten Inseln des Archipels gefundenen Terrakottereliefs.
Die erste Blüteperiode der griechischen Bildhauerkunst [* 14] beginnt im zweiten Viertel des 5. Jahrh. v. Chr. In ihr findet das Streben nach vollkommener Herrschaft über die Körperformen im ruhigen und bewegten Zustand seinen Abschluß. Die Kunst vermag alles, was sie will, mit gleicher Sicherheit auszudrücken, und nur in der Wiedergabe erregter Empfindungen zieht sie sich eine Schranke, die erst die folgende Periode überschreitet. Indem sie nicht nach äußerlichen Formgesetzen, sondern, einem starken Gefühl für die organische Bedingtheit aller Form folgend, ihre Gestalten von innen heraus schafft, erreicht sie in ihren Werken jene Lebensfülle, jene Allgemeingültigkeit, welche sie über die Zufälligkeiten realer Existenz in den Bereich einer idealen Formenwelt erhebt.
Eine gewisse Strenge in den Umrissen und in der Modellierung, welche dem Streben nach Anmut, nach Freiheit und Willkür in der Behandlung des Einzelnen aus dem Wege geht, haftet ihr als Erbteil der eben überwundenen Gebundenheit an. Daher ist dieser Stil, auch der hohe Stil genannt, für die Behandlung religiöser Stoffe, für die Schöpfung von Kultusbildern besonders befähigt. Zwei Hauptschulen sind in der Kunst dieser Zeit zu unterscheiden: die attische und peloponnesische; jene ist im allgemeinen mehr in den erhabenern Darstellungen der Götterwelt ausgezeichnet, diese mehr in den Darstellungen menschlich athletischer Schönheit.
Athen nimmt in der Bildnerei eine bedeutsame Stellung ein; an den großen Monumenten, die in dieser Periode zu Athen ausgeführt wurden, mußte sich eine höchst zahlreiche Schule entwickeln. In Pythagoras von Rhegion (Statue des hinkenden Philoktet) und Kalamis (um die Mitte der 70. Olympiade thätig), dessen Werke sich durch eine gewisse Zierlichkeit und Anmut auszeichneten, und dem Erzbildner Myron (einem sehr vielseitigen Künstler), der Götter, Heroen, Athleten (besonders berühmt sein Diskoswerfer, [* 15] der uns in mehrfachen Nachbildungen erhalten ist; s. Tafel II, [* 1] Fig. 2) und Tiere mit gleicher Sicherheit darzustellen wußte, vollzieht sich der Übergang zur vollständig freien Kunst.
Alle diese aber verdunkelte Phidias, der seinen Schöpfungen neben der vollendeten Formenschönheit eine unerreichte Ideenfülle einhauchte. Die zahlreichen Werke, welche er ausführte, zeigen ihn in den verschiedensten Gattungen der Bildhauerkunst thätig; aber die bei weitem größte Anzahl seiner Arbeiten bestand aus Götterbildern, und zwar war sein bedeutendstes Werk die Kolossalstatue des thronenden Zeus [* 16] im olympischen Tempel, aus Gold [* 17] und Elfenbein gebildet, dessen Gestalt wir auf Münzen [* 18] von Elis sehen (die Zeusbüste von ¶
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Otricoli, s. Tafel II, [* 19] Fig. 11, zeigt eine spätere Umbildung des Ideals). Als weitere Werke des Phidias werden die Bilder der Athene [* 20] Parthenos und Athene Promachos, der Aphrodite [* 21] Urania, der lemnischen Athene, des Apollon, eine Gruppe von Erzstatuen (die attischen Landesheroen, Athene und Apollon, dazu Miltiades), welche die Athener infolge des marathonischen Siegs nach Delphi weihten, u. a. genannt. Unter den Schülern des Phidias glänzen namentlich Alkamenes (Werke: Statuen des Dionysos, [* 22] Asklepios, [* 23] Ares, [* 24] Hephästos, [* 25] der Hera [* 26] und der Aphrodite, Figuren des Westgiebels vom olympischen Zeustempel, neuerdings wiedergefunden; s. Tafel III, [* 19] Fig. 1), Agorakritos (Nemesis zu Rhamnus) und Kolotes.
Von den Leistungen eines Zeitgenossen, des Päonios von Mende, hat die Wiederauffindung eines Originalwerks, der Marmorstatue einer Nike [* 27] in Olympia (s. Tafel III, [* 19] Fig. 2), und der wohl nach seinen Entwürfen von untergeordneten Kräften ausgeführten Gruppe des Ostgiebels vom Zeustempel zu Olympia eine klare Vorstellung gegeben. Daneben blühte auch die Schule des Myron in Lykios, Kresilas, Strongylion u. a. weiter. Andre, wie Kallimachos und Demetrios, stehen mehr selbständig da. Eine nähere Anschauung, als wir durch die Berichte der alten Schriftsteller und durch die spätern Nachbildungen einzelner Meisterwerke von der Kunstbildung dieser Periode gewinnen, geben uns die zur Ausschmückung der Tempel gefertigten Skulpturen, von denen uns zahlreiche Beispiele erhalten sind.
Sie führen die schönste Blüte [* 28] der griechischen Kunst in ihrer wunderbaren Hoheit, in der lautern Einfalt ihres Stils, in der frischen, natürlichen Kraft, [* 29] die ihr eigen ist, unsern Augen vor; sie, die noch nicht oder nur ausnahmsweise als Arbeiten der höchsten Meister betrachtet werden dürfen, lassen uns ermessen, welche Vollendung die letztern ausgezeichnet haben müsse. Diesen Tempelskulpturen, bei welchen übrigens die vom Orient übernommene Polychromie am umfassendsten durchgeführt wurde, sind sodann noch einige wenige Arbeiten verwandten Stils anzuschließen.
Hierher gehören die Skulpturen mehrerer Tempel auf der Burg (Akropolis) [* 30] von Athen, des Tempels der Nike Apteros, des Parthenons und des Erechtheions, ferner des sogen. Theseustempels in der Unterstadt und des Apollontempels zu Bassä [* 31] (Phigalia) in Arkadien, des olympischen Zeustempels, Skulpturen, die sich noch teilweise erhalten haben und jetzt sich teils in Athen, teils im Britischen Museum befinden. (Probe vom Parthenonfries s. Tafel II, [* 19] Fig. 3; daselbst, [* 19] Fig. 4, ein Kopf aus attischer Schule.)
Während in der attischen Kunst frühzeitig ein idealer Zug hervortritt, eine Neigung für schwungvollere, feinere Formen, wodurch sie von selbst dazu geführt wurde, religiöse Stoffe, das Kultusbild vor allem, zu bevorzugen, haftet der bildenden Kunst im Peloponnes ein mehr formalistischer Charakter an; die vollkommenste Durchbildung der Körperformen, die Feststellung eines normalen Ebenmaßes der Verhältnisse wird höchste Aufgabe der Kunst, die das Problem nicht in bewegten Kompositionen, in bedeutungsvollen Vorwürfen, sondern in der Darstellung ruhiger, stehender Jünglingsfiguren zu behandeln liebte. So werden Erzstatuen von Siegern in den Olympischen und andern Spielen ein Hauptgegenstand der peloponnesischen Plastik. In ihnen zeichnete sich auch der Hauptvertreter derselben aus, der Führer der sikyonisch-argivischen Schule, Polykletos von Sikyon (ca. 450-410 v. Chr.). Unter seinen Werken verdienen das Kolossalbild der Hera im Tempel von Argos, von dessen Kopftypus uns der schöne Herakopf zu Neapel, aber nicht der bekannte der Hera Ludovisi (s. Tafel II, [* 19] Fig. 12), eine Vorstellung gibt, Statuen des Hermes, des Zeus, des Herakles [* 32] und andrer Götter und Heroen, vor allen aber seine zahlreichen Standbilder aus dem Athletenkreis Erwähnung. In einer der letztern Figuren, dem Speerträger (Doryphoros), schuf er eine Normalgestalt des Jünglingskörpers, die andern Künstlern als Muster diente und daher den Beinamen Kanon erhielt.
Sowohl von dieser als von dem sogen. Diadumenos, der Statue eines Jünglings, der sich die Siegerbinde um das Haupt schlingt, sind uns Nachbildungen erhalten, in denen sich die eigentümlich schweren, gedrungenen Formen des Polykletischen Stils ausprägen. Eine große Anzahl von Künstlern gruppiert sich um diesen Meister. Der bedeutendste von ihnen war Naukydes von Argos, der Götter- und Athletenstatuen schuf und seinerseits Schüler (Polyklet den jüngern, Alypos) heranbildete.
In der zweiten Blüteperiode der griechischen Bildhauerkunst ist zunächst wiederum die Schule von Athen bedeutend. Sie bleibt insofern ihrer frühern Richtung getreu, als es auch in dieser Zeit vorzugsweise die Gestalten der idealen Welt, die Kreise [* 33] der Götter- und der Heroenmythen sind, in denen ihre Leistungen sich bewegen. Aber die großen Veränderungen im griechischen Leben, welche durch den Peloponnesischen Krieg hervorgerufen worden waren, bewirkten auch in der bildenden Kunst eine wesentlich verschiedene Auffassung und Behandlung.
Ein tiefer erregtes Gefühl, eine mehr innerliche Leidenschaft, ein stärkeres Pathos oder eine feinere Empfindung, ein Zurücktreten des strengen Ernstes der Auffassung hinter einer weichern Anmut machen sich jetzt in den Gebilden der Kunst bemerklich. Demgemäß treten viele der früher behandelten Gegenstände, die den Ausdruck einer höhern Ruhe forderten, von dem künstlerischen Schauplatz zurück; und andre, in denen die neue Richtung sich angemessener ausdrücken konnte, rücken an ihre Stelle. In letzterer Beziehung sind namentlich diejenigen Gottheiten, deren Verehrung aus jener tiefern Erregung des Gefühls entspringt, Dionysos und Aphrodite, und der Kreis [* 34] der Gestalten, die sich um sie bewegen (Eros, [* 35] Silene, [* 36] Satyrn [* 37] und Mänaden), zu nennen: sie werden jetzt von den Meistern der athenischen Schule mit besonderer Vorliebe gebildet, und es wird ihnen das ganze Gepräge gegeben, welches denselben die ganze folgende Zeit der klassischen Kunst hindurch geblieben ist.
Ebenso machen sich auch manche Veränderungen in der technischen Ausführung bemerklich. Es wird auf eine noch weichere, flüssigere Behandlung hingestrebt. Die glänzende Pracht der aus Elfenbein und Gold gebildeten Statuen verschwindet oder erscheint nur noch in vereinzelten Leistungen; auch das Erz ist weniger beliebt, dagegen wird das ebenmäßig klare Material des Marmors (von seiten der attischen Künstler) in den meisten Fällen angewandt, die Darstellung auf die eigentümliche Wirkung des Stoffes berechnet.
Den Übergang von der ältern zur jüngern Schule bildet Kephisodotos, Praxiteles' Vater, von dessen Gruppe der Irene mit dem Plutoskind die Glyptothek zu München [* 38] eine Nachbildung besitzt (s. Tafel II, [* 19] Fig. 5). Als die bedeutendsten Meister dieser Schule werden Skopas und Praxiteles genannt. Skopas, aus Paros gebürtig und etwa 390-350 thätig, war Architekt und Bildhauer zugleich. So erbaute er den Tempel der Athene Alea in Tegea, einen der größten und prächtigsten im Peloponnes, und versah ihn zugleich ¶