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quer über fast die ganze Breite [* 2] der Schweiz [* 3] ausgedehnt, erstreckt sich über alle vier Terrainzonen: Hochalpen, Voralpen, Ebene und Jura, vergleichbar einem Sitz mit ungleich hohen Seitenlehnen. Steigt die alpine Lehne, das Berner Oberland, bis zum Grate des Hochgebirges hinauf (s. Berner Alpen), so erhebt sich die jurassische zu geringerer Höhe, aber zu einem nicht weniger ausgedehnten Bergland (Leberberg oder Berner Jura), jenseit dessen selbst noch ein Fetzen, das Pays d'Ajoie (Elsgau, um Pruntrut), zu den Ebenen des Oberelsaß niedersteigt, durch den Bergrücken des Repais von dem übrigen Kantonsgebiet abgetrennt.
Rechts und links vom Aarethal treten voralpine Bergländer zur Ebene hinaus: Ober-Emmenthal und Schwarzenburg, so daß das Flachland sich auf Oberaargau (um Langenthal), das Mittelland (um Bern) [* 4] und Seeland (um Biel) beschränkt. Aus dem Mittelland, bei Bern, ragen die Hügelmassen des Gurten (861 m) und des Bantiger Hubels (950 m) empor. Der Leberberg, abgesehen von dem transjurassischen Elsgau, besteht aus dem Val St.-Imier, dem Birsthal und den Franches Montagnes (Freibergen).
Letztere umfassen die plateauartigen Höhen, zu deren Besiedelung der ehemalige Souverän, der Baseler Bischof Imer von Ramstein (1384), durch Erteilung von Freiheiten aufmunterte (um Saignelégier). Ebenso verschieden wie die Landschaften ist die Bevölkerung, [* 5] die 1880: 532,164 Seelen (77 auf 1 qkm) zählte, nach Sprache [* 6] und Konfession wie nach besondern Charakterzügen. Die Jurassier sind großenteils französisch (78,640), die Bewohner des alten Kantonteils deutsch, jene meist katholisch (65,828 Seelen, zur Diözese Basel-Solothurn gehörig), diese reformiert (463,163 Seelen).
Dazu kommen über 1300 Juden. Die Bauernschaft des Mittellandes ist der Kern des Landes, sehr wohlhabend, aber auch stolz. Fleiß und Sparsamkeit, teilweise verbunden mit der Gunst großer Güterkomplexe (durch das Minorat), haben sie zu solcher Blüte [* 7] erhoben. Der deutsche Berner hat eine zähe, kühle Natur, ist kräftig, derb, schwerfällig, behaglich und phlegmatisch, von mäßiger Intelligenz. Der Jurassier und auch der weinbauende Seeländer sind weit beweglicher und leidenschaftlicher und nähern sich dem französischen Charakter. Die Bevölkerung des Oberlandes, von Natur ein gutmütiger, intelligenter, hübscher und kräftiger Schlag, zeigt heutzutage mehrfache schlimme Einwirkungen des ungemein starken Fremdenbesuchs: der Reisende klagt über Zudringlichkeit und Bettelei, über teure Preise und Übervorteilung, und man bedauert, daß Arbeitsscheu und Genußsucht überhandnehmen.
Der bernische Feldbau hat seinen Hauptsitz in der Hochebene, erzeugt aber nicht genug Getreide. [* 8] In neuerer Zeit wird die Hebung [* 9] des Obstbaues, behufs Bekämpfung der Branntweinpest, kräftig angestrebt. Wein, fast nur im Seeland gebaut, ist einzuführen (meist aus der Waadt). Die Wälder sind kaum mehr ausreichend; selbst im Jura, der zwar immer noch Holz [* 10] zur Ausfuhr bringt, sind die Waldungen sehr gelichtet, noch mehr im Oberland. Viel Rindvieh, von schönstem Schlag (Fleckvieh) im Simmenthal (Erlenbacher Schlag), im Saanenland, im Frutigen- und Emmenthal.
Die Alpen [* 11] des Simmen- und des Emmenthals sind sorgfältig bewirtschaftet. Die fetten Emmenthaler Käse werden in Langnau aufgestapelt und selbst die ähnlichen Käse der Nachbargebiete angekauft, um von diesem Platz aus in die weite Welt zu wandern. Das Haslithal hat seine eigne Rasse Braunvieh, welches dem Unterwaldner am nächsten kommt. Im Flachland gibt es viel Viehmast. Pferdezucht [* 12] wird am stärksten in den Freibergen und im Simmenthal (Erlenbach) betrieben; daneben züchtet man sehr viele Schweine, [* 13] Ziegen und Schafe [* 14] (s. Frutigen).
Auf dem jurassischen Gebiet findet Bergbau [* 15] auf Eisen [* 16] statt (s. Délémont). Treffliche Sandsteine finden sich bei Ostermundingen (s. d.), Kalk und Gips [* 17] sowohl in den Voralpen als im Jura, Thonschiefer am Niesen (Mühlenen). Granit liefern die erratischen Blöcke. Im Seeland gräbt man auch Torf. Berühmte Heilquellen sind zu Rosenlaui, Gurnigel, Lenk, Weißenburg [* 18] und Blumenstein. Im alten Kantonsteil sind von Bedeutung die Leinenindustrie des Mittellandes, die Baumwollindustrie des Oberaargaus, die Tuchweberei (s. Frutigen), die Parkettfabrikation von Interlaken und die Holzschnitzerei des Oberlandes (s. Brienz); im neuen hingegen die Uhrmacherei (Val St.-Imier, Biel u. a.) und die Seidenweberei (s. Basel), [* 19] örtlich auch Glasfabrikation, [* 20] Töpferei etc. Das »Pruntruter Geschirr« aus dem Ort Bonfol, roh von Form, plump und schwer, ist wegen seiner Feuerbeständigkeit beliebt. Größere Handelsgeschäfte knüpfen sich an einige Zweige der Urproduktion und Industrie sowie an einige Geldinstitute der Hauptstadt; aber im ganzen tritt der Handel gegen die übrigen Erwerbsarten zurück. Eine mächtige Erwerbsquelle bildet der Touristenzug im Oberland; Hotels, Pensionen, Transportmittel, Führer, Träger [* 21] etc. haben allsommerlich ihre goldene Saison. Ist für dieses Treiben Interlaken der Lieblingsplatz, so verleiht es auch dem Schlüsselpunkt des Oberlandes (s. Thun) ein bewegteres Leben und verzweigt sich in die Bergthäler, die in frühern Jahrhunderten ein sehr abgeschiedenes Stillleben genossen.
Mittelschulen, humanistische und realistische, existieren zu Bern, in Pruntrut, Burgdorf und Biel. Das deutsche Lehrerseminar befindet sich in Münchenbuchsee, das französische in Pruntrut, Seminare für Lehrerinnen in Bern, Hindelbank und Délémont. Das Volksschulwesen, das allgemeine (primäre) und das fakultative (sekundäre), gehört zu den entwickeltsten der Schweiz. Es gibt mehrere öffentliche Bibliotheken in Bern (s. unten), ferner die Stadtbibliothek von Burgdorf (11,000 Bände) und die Bibliothèque de l'école cantonale in Pruntrut (Porrentruy, 14,000 Bände).
Zufolge der noch in Kraft [* 22] bestehenden Verfassung vom bildet der Kanton [* 23] Bern einen demokratischen Freistaat und ein Bundesglied der Schweizer Eidgenossenschaft. Die Souveränität ruht in der Gesamtheit des Volkes. Es übt sie teils unmittelbar (seit 1869 auch durch das Referendum), teils mittelbar durch die verfassungsmäßigen Behörden. Die Verfassung garantiert die in den schweizerischen Republiken üblichen Grundrechte, enthält Periodizität der Beamtungen (seit 1870, resp. 1874 auch der geistlichen und Lehrerstellen), erklärt den Primärunterricht für obligatorisch, verpflichtet den Staat, für den Unterricht zu sorgen, und macht die Niederlassung und Lehrthätigkeit kantonsfremder religiöser Korporationen von der Bewilligung der gesetzgebenden Behörde abhängig.
Dem neuen Kantonsteil sind eine besondere Armengesetzgebung sowie die französischen Zivil-, Handels- und Strafgesetzbücher garantiert. Deutsch und Französisch sind als Landessprachen anerkannt. 8000 Bürger können die Revision der Verfassung verlangen. Die höchste Staatsbehörde ist der Große Rat. Ihm stehen die Legislative, die Oberaufsicht über die gesamte Staatsverwaltung sowie die Wahl gewisser Beamten und Behörden zu. Er wird durch die Wahlversammlung der Wahlkreise, je ein Mitglied auf 2000 ¶
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Seelen der Bevölkerung, gewählt und alle vier Jahre erneuert. Oberste Exekutivbehörde ist ein Regierungsrat von neun Mitgliedern, der nach jeder Gesamterneuerung der Legislative neu bestellt wird. In den Amtsbezirken wird derselbe durch einen Regierungsstatthalter vertreten, der auf doppelten Vorschlag der Wahlversammlung des Amtsbezirks und auf doppelten Vorschlag des Regierungsrats durch den Großen Rat zu wählen ist. Höchste richterliche Behörde ist ein Obergericht, aus höchstens 15 Mitgliedern bestehend; dasselbe wird durch den Großen Rat gewählt und je nach vier Jahren zur Hälfte erneuert. Die Amtsgerichte werden durch die Wahlversammlungen der Bezirke bestellt, ihre Präsidenten durch den Großen Rat. Für Kriminal-, politische und Preßvergehen bestehen Geschwornengerichte. In Kommunalsachen gilt die Gemeinde als autonom.
Zufolge der Staatsrechnung für 1883 betrugen die Einnahmen 20,925,908 Frank (darunter: direkte Steuern 3,685,078, Salz [* 25] 1,805,463, Wirtschaftspatente etc. 1,123,160, Ohmgeld 1,084,528 Fr.); die Ausgaben 20,900,005 Fr. (darunter Erziehung 1,998,403, Bauwesen 1,701,549, Justiz und Polizei 1,749,012 Fr.). Das Stammvermögen belief sich Ende 1883 auf 156,930,431 Fr. Aktiva und 107,290,315 Fr. Passiva, mithin wirkliches Vermögen 49,640,116 Fr., ungerechnet 4,161,408 Fr. an Spezialfonds. Das Kantonswappen: ein roter Schild, [* 26] worin im goldenen Rechtsschrägbalken ein schwarzer Bär schreitet (s. Abbildung). Eingeteilt wird der Kanton in 30 Amtsbezirke.
Die Stadt Bern,
in 540 m Meereshöhe gelegen, ist zwar immer noch Sitz und Zentrum reicher Patriziergeschlechter, aber eine Handelsstadt im gewöhnlichen Sinne nicht mehr. Dennoch laufen mehrere Eisenbahnen (die Linien Olten-Bern-Thun, Bern-Luzern, Jura-Bern und Bern-Lausanne) hier zusammen, eine Folge ihrer Lage und ihrer Eigenschaft als Bundeshauptstadt. Sie wird auf drei Seiten von der tief gebetteten Aare umrauscht und ist eine der schönsten Schweizerstädte wegen der massiven, stolzen Wohnhäuser, [* 27] der breiten, geraden Straßen und Wege, der Arkaden oder Bogengänge (»Lauben«),
welche an den Häusern zu beiden Seiten der Straße sich hinziehen. Von der Plattform aus, 30 m über der Aare, genießt man eine herrliche Aussicht auf die Alpen. Unter den Sehenswürdigkeiten steht der Bundespalast, ein neuer Prachtbau auf weit schauender Terrasse, mit zwei Flügeln und vor dem Eingang des Mittelbaues durch das eherne Standbild der Berna (von R. Christen) geschmückt, obenan. Diesem Gebäude (1852-57 nach den Plänen von Kubli und Stadler gebaut) reihen sich das ehrwürdige (reformierte) Münster [* 28] im spätgotischen Stil mit unvollendetem Turm und [* 29] schönem Portal, das Bürgerspital, das Kunst- und das naturhistorische Museum, das Gymnasium, das Frauenspital, die Blindenanstalt und das Verwaltungsgebäude der Jura-Bern-Luzerner Bahn, verschiedene vornehme Hotels, die 1841-44 erbaute Nydeck-, die 1883 erbaute prächtige Kirchenfeldbrücke (s. Tafel »Brücken«) [* 30] und die Eisenbahnbrücke an. Außerhalb der Stadt sind sehr bemerkenswert die Militäranstalten auf dem Beundenfeld und das neue Inselspital bei der Linde. Eine prachtvolle Fontäne sprudelt beim Bahnhof. Auf dem Platz vor dem Münster steht das Denkmal Rudolfs von Erlach, des Siegers in der Schlacht bei Laupen. Ein andres Denkmal ist das Bertholds V. von Zähringen (auf der Münsterterrasse), des Gründers von und aus der großen Schanze dasjenige des Bundespräsidenten Stämpfli. Die Stadt zählt (1880) 44,087 Einw. (darunter 3456 Katholiken und 387 Juden). - Die Industrie erstreckt sich auf die Fabrikation von Stroh- und Seidenhüten, Seiden- und Baumwollwaren, Bijouterien, ferner Buchdruckerei.
Der Handel in Tuch, Wein, Getreide und Käse hat nur geringen Umfang. Auf Einwohner und Touristen übt der Bärengraben, eine uralte Stiftung, noch immer viel Anziehung. Nicht übel symbolisiert das bernische Wappentier die etwas derbe, aber kraftbewußte Energie des alten Bern. Zeichnete Zürich [* 31] sich von jeher auf dem Gebiet der Industrie und Wissenschaften aus (»Schweizer Athen«, [* 32] »Limmat-Athen«),
so ragte die Berner Aristokratie mehr auf dem Felde der Krieger und Regenten hervor. Doch besitzt Bern seit 1834 eine Universität, die 1884: 81 Dozenten und 409 Studierende (darunter 36 weibliche, wovon 28 Russinnen) zählte. Zur Universität gehört die Tierarzneischule mit 8 Lehrern und 44 Hörern. Die Kantonschule wurde durch städtische Mittelschulen ersetzt. Von Bibliotheken sind zu erwähnen: die eidgenössische Zentralbibliothek mit 20,000 Bänden, die Stadtbibliothek (75,000 Bände), die Bibliothek der Lesegesellschaft (45,000 Bände) und die Studentenbibliothek (10,000 Bände). Bern ist Sitz der Bundesbehörden (seit 1848), eines altkatholischen Bischofs und der bei der Schweiz akkreditierten Gesandten.
Geschichte der Stadt und des Kantons Bern.
Die Zeit der römischen Herrschaft in Helvetien hat im Gebiet des heutigen Kantons Bern nur geringe Spuren hinterlassen. In der Völkerwanderung begegneten sich hier Alemannen und Burgunder, mit deren Unterwerfung das Land unter fränkische Herrschaft kam. Seit 888 ein Bestandteil des neuburgundischen Reichs, fiel es mit diesem 1032 an Deutschland. [* 33] Die Zähringer, welche 1156 von Barbarossa das »Rektorat« über das diesseit des Jura gelegene Burgund erhalten hatten, suchten den widerspenstigen Adel durch Anlegung fester Waffenplätze [* 34] im Zaum zu halten; so gründete im Mai 1191 Berchtold V. die Stadt Bern, welche er wohl zum Andenken an die ehemals von seinem Haus besessene Markgrafschaft Verona [* 35] (Welschbern) so benannte. Da die Stadt auf Reichsgrund lag, wurde sie mit dem Tod ihres Gründers, in welchem das Geschlecht erlosch, 1218 thatsächlich reichsfrei, obschon die »goldene Handfeste« des Kaisers Friedrich II. vom 17. Mai d. J. als eine Fälschung aus späterer Zeit erwiesen worden ist.
Um den Nachstellungen der mächtigen Grafen von Kyburg zu entgehen, welche die schweizerischen Allodien der Zähringer geerbt hatten, begab sie sich 1255 in ein Schirmverhältnis zu Savoyen, wodurch sie in den Streit dieses Hauses gegen Rudolf von Habsburg verwickelt wurde und wiederholte Belagerungen von seiten des letztern zu erdulden hatte (1288-89). Ein Sieg, den Bern 1298 über das österreichische Freiburg [* 36] und den mit ihm verbündeten Adel am Dornbühl erfocht, begründete seine Macht. Es benutzte dieselbe, um die benachbarten Dynasten zu zwingen, Bürger in der Stadt zu werden, was sie zur Kriegsfolge verpflichtete und ihr Gebiet indirekt unter die Herrschaft von Bern brachte. Andre Besitzungen wurden durch Kauf erworben, wie Thun (1323), Laupen (1324), die Reichsvogtei über Hasli (1334). 1339 vereinte sich fast der gesamte Adel des schweizerischen Burgund mit Freiburg gegen Bern, wurde aber von diesem mit Hilfe der