mehr
Weise. So gar eine orangistische Verschwörung wurde entdeckt, an deren Spitze die Generale Vandermer und Vandersmissen standen. Von besonderer Wichtigkeit waren unter dem Ministerium Nothomb die am mit Frankreich und mit dem Deutschen Zollverein abgeschlossenen Handels- und Zollverträge, wodurch der belgische Handel bedeutet in Aufschwung kam. Infolge der Wahlen von 1845 trat das Ministerium Nothomb zurück. Nur von kurzem Bestand war das im Juli 1845 berufene liberale Ministerium van de Weyer, das schon im März 1846 durch ein katholisches unter de Theux ersetzt ward, welches aber bereits 1847 wieder einem liberalen Ministerium Rogier weichen mußte.
Damit kam der auf die Mehrheit des Volks sich stützende Liberalismus ans Ruder; freilich war noch manche Schwierigkeit zu überwinden, zumal die Erste Kammer sich widerspenstig zeigte. Indessen leistete die neue Regierung nicht wenig in der Richtung besonnenen freiheitlichen Fortschritts, suchte die Übergriffe des Klerus in würdiger Weise zurückzuweisen und traf Einrichtungen zur Hebung [* 2] der Volksbildung, des Wohlstandes und der kommunalen Autonomie. Das Kabinett war daher im Revolutionsjahr 1848 so fest begründet, daß es ohne Anstoß sich erhielt, und die Dynastie genoß solches Vertrauen, daß der König ohne Bedenken die Beibehaltung seiner Krone von dem Willen des Volks abhängig machen konnte.
Ohne Schwierigkeiten wurden die geforderten Summen für Erhaltung der belgischen Unabhängigkeit und für Militärbedürfnisse verwilligt, und als Ende März 1848 ein Haufe Arbeiter von der französischen Grenze her in Belgien [* 3] eindrang, um das Land zu revolutionieren, zeigten sich keine Sympathien, und die Eindringlinge wurden ohne Mühe durch die belgischen Truppen zersprengt. Neue Unterstützung fand das Ministerium durch die Wahlen von 1848, wodurch die Opposition auf weniger als ein Dritteil der Stimmen beschränkt ward. So konnte 1850 das Gesetz über den mittlern Unterricht in freiheitlichem Sinn zu ungunsten des Klerus entschieden werden.
Trotz mancher Personalveränderungen und trotz der durch das Militärbudget herbeigeführten Krisis behauptete sich das Ministerium; die Handelsverträge wurden gesichert, die Gewerbesteuer erleichtert, eine Nationalbank gegründet, die Brieftaxe auf die Hälfte herabgesetzt. Auch die Schwierigkeiten, welche der französische Staatsstreich verursachte, und welche namentlich die Behandlung der politischen Flüchtlinge betrafen, wurden durch die besonnene Haltung der Regierung überwunden, obwohl zum Schutz des Landes ein Kredit von 4,700,000 Fr. verlangt und ein verschanztes Lager [* 4] bei Antwerpen [* 5] errichtet wurde.
Zugleich gelang es, mit dem bis dahin Belgien abgeneigten Rußland in bessere Beziehungen zu treten, weshalb die im belgischen Heer dienenden polnischen Offiziere entlassen wurden. Dennoch sah sich infolge einer Niederlage bei der Wahl des Kammerpräsidenten im September 1852 das Ministerium veranlaßt, abzudanken, und an seine Stelle trat ein gemäßigt liberales, an dessen Spitze Brouckère als Minister des Auswärtigen stand, und welches die kommerziellen Verhältnisse mit Frankreich in befriedigender Weise regelte. Die Annexionsgelüste des neuen französischen Kaisers aus dem Napoleonischen Haus waren König Leopold und der belgischen Regierung wohlbekannt. Sie hüteten sich aber wohl, durch voreiliges Lärmschlagen dieselben herauszufordern und vielleicht ihre Verwirklichung zu beschleunigen.
Nachdem das Kabinett Brouckère infolge einiger an sich unbedeutender Differenzen mit der Kammer im März 1855 zurückgetreten war, berief der König ein gemäßigtes, doch in der Hauptsache der katholischen Partei zugeneigtes Kabinett, in welchem de Decker das Innere, Graf Vilain XIV. das Auswärtige übernahmen. Zwar suchte die neue Regierung den ultramontanen Übergriffen zu begegnen, konnte aber doch nicht das volle Vertrauen der Liberalen gewinnen, obwohl mehrere Abstimmungen zu gunsten des Ministeriums ausfielen und die Kammer sogar das Examengesetz genehmigte, welches die Maturitätsprüfung für die Universitäten abschaffte und in seinen Konsequenzen dem klerikalen Unterrichtswesen zu großem Vorteil gereichte.
Nach außen bewahrte das Kabinett eine feste Haltung und wies namentlich die nicht undeutlichen Absichten der französischen Regierung, in Belgien eine Beschränkung der Preßfreiheit durchzusetzen, mit aller Entschiedenheit zurück. So zeigten sich denn auch die Sympathien für König Leopold in hohem Maß bei seinem begangenen 25jährigen Regierungsjubiläum. Allein das öffentliche Vertrauen ging dem Ministerium verloren bei der Vorlegung des Gesetzes über die Organisation des Stiftungswesens und der Wohlthätigkeitsanstalten, für welche die Staatsaufsicht beseitigt wurde, worin man eine Herstellung der Toten Hand und eine unverantwortliche Unterstützung des Klerus und des Mönchswesens erblickte.
Schon in der Kammer zeigte sich das Mißtrauen, und sie wurde im Sommer 1856 vertagt. Als aber die Hauptartikel des Gesetzes mit 60 gegen 44 Stimmen angenommen wurden, brach die allgemeine Unzufriedenheit los; in mehreren Städten kam es zu Mißhandlung der Mönche und zu Tumulten, welche durch Waffengewalt unterdrückt werden mußten. Indessen durch die Schließung der Session und durch einen im »Moniteur« veröffentlichen Brief des Königs an den Minister de Decker, der einen tiefen Eindruck machte, wurde die Ruhe wiederhergestellt; gleichwohl sah sich, zumal als die Gemeinderatswahlen im Oktober 1857 in antiklerikalem Sinn ausfielen, das Ministerium zum Rücktritt veranlaßt
An seine Stelle trat ein liberales Ministerium unter Rogier. Die Kammer wurde aufgelöst, und durch die Neuwahlen ergab sich eine liberale Majorität von 70 Stimmen gegen 38. Das neue Ministerium mußte seine Thätigkeit mit einer Beschränkung der Preßfreiheit beginnen, indem es auf Verlangen der französischen Regierung, welche durch das Orsinische Attentat erschreckt war, die Verfolgung der Beleidigung fremder Monarchen auch ohne Antrag der Beleidigten anordnete.
Auch beschloß es, die Befestigungsfrage in die Hand [* 6] zu nehmen. Die bisherigen Festungen an der Südgrenze gegen Frankreich waren veraltet; auch ihr Umbau war nicht zweckmäßig, da ihre große Zahl die ganze belgische Streitmacht erfordert, diese zersplittert und das Land selbst gänzlich wehrlos gemacht hätte. Es erschien daher zweckmäßiger, diese festen Plätze im Süden aufzuheben und Antwerpen, das sich mehr und mehr zu einem großartigen Handelsemporium entwickelte, zu einer bedeutenden Festung [* 7] umzugestalten, welche im Notfall der belgischen Armee einen Stützpunkt gewähren und die Verbindung mit der See aufrecht erhalten konnte. Die Verwirklichung dieses Plans erforderte jedoch beträchtliche Geldmittel und mußte daher die Opposition gegen die Regierung verstärken; ferner stieß sie in Antwerpen selbst, wo man allerhand Nachteile und Gefahren von der Befestigung, welche die ¶
mehr
Kammer im wesentlichen genehmigt hatte, befürchtete, auf so große Unzufriedenheit, daß dort 1863 anstatt der bisherigen Abgeordneten, unter ihnen Rogier selbst, nur oppositionelle gewählt wurden. Überhaupt war der Ausfall der Wahlen 1863 infolge der Umtriebe der Klerikalen dem Ministerium so ungünstig, daß dasselbe im Januar 1864 seine Entlassung nahm. Nach längerer Ministerkrisis, während welcher die Bildung eines klerikalen Kabinetts fehlgeschlagen war, blieb das Ministerium Rogier; ein von Nothomb beantragtes Mißtrauensvotum fiel mit Einer Stimme durch, das rückständige Budget wurde genehmigt.
Neue Streitigkeiten entstanden, als der liberale Abgeordnete von Brüssel, [* 9] Orts, ein neues Wahlgesetz beantragte, das eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten bezweckte. Da dessen Annahme zunächst für die liberale Partei vorteilhaft sein mußte, so machte die Rechte durch ihre Sezession aus der Kammer einen Beschluß unmöglich Infolgedessen wurden Neuwahlen angeordnet, welche günstig für das Ministerium ausfielen, indem 64 Liberale gegen 52 Klerikale gewählt wurden. Die befestigte Majorität bewilligte nun die Geldmittel für die Vollendung der Befestigung Antwerpens.
Am starb, allgemein betrauert, König Leopold I.; 17. Dez. legte der neue König, Leopold II., seinen Eid auf die Verfassung ab. Er sprach dabei nicht nur seinen aufrichtigen Willen aus, die streng konstitutionelle Haltung seines Vaters beizubehalten, sondern betonte auch mit besonderm Nachdruck die Wahrung der Unabhängigkeit der Nation. Die liberale Partei, welche im Ministerium durch den Eintritt Baras an die Stelle von Tesch verstärkt worden war, brachte nun endlich den Ortsschen Antrag durch.
Als im Frühjahr 1867 die Luxemburger Frage auftauchte, nahm an der zur Schlichtung derselben zusammengetretenen Londoner Konferenz teil, ohne aber die Garantie für die Neutralität Luxemburgs zu unterzeichnen. Die Besorgnis vor den französischen Annexionsgelüsten war in Belgien seit den Ereignissen in Deutschland [* 10] 1866 gestiegen; man fürchtete, Belgien werde ein Kompensationsobjekt bei einer Verständigung zwischen Frankreich und Preußen [* 11] abgeben müssen. Der Gedanke einer Heeresreform fand daher auch in der Kammer Anklang, und nachdem im Mai 1867 der Regierung für diesen Zweck ein Kredit von 60 Mill. bewilligt worden war, wurde im April 1868 das Jahreskontingent von 10,000 auf 12,000 Mann, die Präsenzzeit auf 30 Monate erhöht.
Beunruhigend war eine Zeitlang der im Februar 1869 ausgebrochene Eisenbahnstreit zwischen Frankreich und Belgien, welcher darin seine Ursache hatte, daß die belgische Regierung dem Übergang der Luxemburger Eisenbahn an die Compagnie de l'Est français entgegentrat. Doch wurde (trotz der anfänglich drohenden Stellung Frankreichs) der Streit durch persönliche Unterhandlungen zwischen der französischen Regierung und Frère-Orban, der seit 1867 an Rogiers Stelle getreten war, glücklich beigelegt, nachdem das belgische Ministerium im Februar 1869 durch ein besonders von den Kammern gebilligtes Gesetz sich für die Zukunft das Recht der Genehmigung solcher Abtretungen gesichert hatte.
Nach 13jährigem erfolgreichen Wirken mußte das Kabinett zurücktreten, da die Ergänzungswahlen (17. Juni) infolge des Hochdrucks der Klerikalen ungünstig ausgefallen waren. An seine Stelle trat das katholische Ministerium d'Anethan, welches sich durch angeordnete Neuwahlen die Majorität in der Kammer sicherte. Der deutsch-französische Krieg gebot innere Ruhe, und so scheute man eine neue Ministerkrisis. Zur Aufrechterhaltung des Friedens an den Grenzen [* 12] und der Neutralität wurde ein Kredit von 15 Mill. Fr. verlangt, die Armee mobil gemacht und ein besonderer Vertrag durch Englands Vermittelung geschlossen, in welchem Frankreich und Preußen diese Neutralität aufs neue anerkannten. Die belgische Regierung erfüllte auch auf die loyalste Weise die Pflichten, welche aus dieser Stellung gegenüber den kriegführenden Mächten hervorgingen, obwohl die Bevölkerung [* 13] wiederholt französische Sympathien an den Tag legte. Der von dem Kabinett eingebrachte Gesetzentwurf, wonach das Wahlrecht in demokratischem Sinn umgeändert und dadurch vom Klerus abhängig werden sollte, wurde trotz heftiger Opposition der liberalen Partei angenommen. Indessen mußte doch das Kabinett abtreten infolge der Ernennung Peter de Deckers zum Gouverneur von Limburg, [* 14] eine Ernennung, welche allgemein böses Blut machte, weil de Decker in den Langrand-Dumonceauschen Finanzschwindel verwickelt war. Obgleich der Antrag Baras, daß die Kammer die Anstellung de Deckers bedaure, durchfiel, konnte sich doch das Ministerium, dessen Präsident d'Anethan selbst sich an dem Langrandschen Geschäft beteiligt hatte, nicht länger halten. Die Straßentumulte in Brüssel nahmen täglich zu, und so entließ der König das Ministerium d'Anethan und berief ein etwas gemäßigteres klerikales Kabinett unter de Theux, dem, als er 1874 starb, d'Aspremont-Lynden folgte; das begabteste Mitglied des Ministeriums war Malou. Die Heeresreform vermochte das neue Ministerium nicht gründlich durchzuführen, gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nach deutschem Muster sträubte sich die herrschende Partei. Das neue Militärgesetz, das General Thiébault, der Kriegsminister, 1873 den Kammern vorlegte, suchte daher nur die Schäden des Stellvertretungswesens abzuschwächen und wurde, obwohl es 4 Mill. Mehrkosten verursachte, von den Kammern angenommen. Den meist ultramontanen Vlämen wurde das Zugeständnis gemacht, daß in den vlämischen Provinzen die vlämische Sprache vor Gericht zulässig sein solle.
Der lange zurückgedrängte Klerus machte sich nun die Herrschaft der ultramontanen Partei zu nutze, um in Belgien das Ideal eines ultramontanen Staats zu verwirklichen. Er beherrschte das ganze Volksschulwesen, hatte seine besondern von Jesuiten geleiteten Gymnasien und eine eigne Universität, welche Anstalten weit stärker besucht waren als die vom Staat geleiteten. Die Zahl der Klöster war binnen 20 Jahren von 779 mit 11,968 Mönchen und Nonnen auf 1700 mit 22,600 Mönchen und Nonnen gestiegen, und in diesen Klöstern wurde die ganze weibliche Jugend aller Stände erzogen.
Die Gemeinderats- und Kammerwahlen waren großenteils von dem Klerus abhängig. Die Gesetze wurden von den Klerikalen nur so weit respektiert, als sie ihren Grundsätzen entsprachen. So wurden 1873 von den Kirchhöfen, die in Belgien Gemeindeeigentum ohne konfessionellen Charakter sind, wiederholt solche Tote, welche im Leben sich der Kirche nicht gefügt hatten, ausgeschlossen oder nur unter beleidigenden Formalitäten zugelassen und eine Beschwerde darüber von der Kammer zurückgewiesen. Die Ursache dieser Mißstände lag in dem in die Verfassung aufgenommenen sehr bedenklichen Grundsatz von der Selbständigkeit der Kirche, von der Trennung der Kirche vom Staat, einem Grundsatz, welcher jahrzehntelang als staatsmännische Weisheit und als ein besonderer Vorzug Belgiens galt. So ¶